# taz.de -- Europa-Politikerin über inklusive Arbeit: „Werkstätten fehlt de… | |
> Wir müssen das System der Werkstätten für Menschen mit Behinderung | |
> hinterfragen und uns davon verabschieden, sagt die Politikerin Katrin | |
> Langensiepen. | |
Bild: Eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen in Berlin-Teltow | |
taz: Frau Langensiepen, Sie sind Europaabgeordnete, wie schneidet | |
Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedsstaaten in puncto Inklusion | |
ab? | |
Katrin Langensiepen: Wenn wir darauf schauen, wie Deutschland die | |
UN-Behindertenrechtskonvention umsetzt, kann ich nur sagen: Es hakt an | |
allen Ecken und Enden. Für einen so reichen Industriestaat sind wir weit | |
von den Zielen entfernt und werden dafür im Staatenbericht auch regelmäßig | |
kritisiert. Aber ein Vergleich ist schwierig: Geht es um Schule, den | |
Arbeitsbereich oder geht es um Mobilität? | |
Wofür wird Deutschland besonders kritisiert? | |
Dass wir an den [1][Werkstätten für Menschen mit Behinderung] festhalten | |
oder dass wir ein sehr ausgrenzendes Schulsystem haben zum Beispiel. Das | |
mehrgliedrige Schulsystem mit Gymnasium, Realschulen und Förderschulen | |
zeigt ja, wie gerne wir Menschen kategorisieren und in Schubladen stecken. | |
Wir halten an liebgewonnenen, alten Förderstrukturen fest. | |
Laut Konvention müsste der erste Arbeitsmarkt für alle offen und inklusiv | |
sein. In der Realität sind aber viele Menschen mit Behinderung in | |
Werkstätten beschäftigt. Würden Sie die gerne abschaffen? | |
Ich würde sie gerne endlich auslaufen lassen. Die Werkstätten hatten in der | |
Vergangenheit ihre Berechtigung, sie wurden von Eltern ins Leben gerufen, | |
die sich gefragt haben: Wie ist mein Kind finanziell abgesichert, wenn ich | |
nicht mehr bin. Das ist nachvollziehbar. Wir müssen uns aber heute fragen: | |
Was steht hinter dem System der Werkstätten? Es geht nicht darum, Menschen | |
in Werkstätten im Stich zu lassen, sondern [2][Alternativen zu schaffen], | |
die Menschen mit Behinderung ihre Rechte einräumen. | |
Was stört Sie an den Werkstätten? | |
Dass die Menschen abseits des regulären Arbeitsmarkts arbeiten und keinen | |
Arbeitnehmerstatus haben. Sie bekommen keinen Mindestlohn, sie können | |
keinen echten Betriebsrat gründen. Wenn Sie in den Baumarkt gehen und | |
Schrauben in Tüten sehen, wissen Sie, wer die Schrauben in die Tüten | |
gepackt hat? Die Menschen in den Werkstätten bekommen aber keinen Lohn | |
dafür, sondern ein Taschengeld. | |
Welchen Status haben Menschen, die in den Werkstätten arbeiten? | |
Den des Rehabilitanden – also sie sollen wieder auf den ersten Arbeitsmarkt | |
vermittelt werden, aber das passiert nicht. Denn hinter den Werkstätten | |
steht ein Wirtschaftssystem, das Aufträge entgegennimmt von Firmen wie VW, | |
Conti, Wabco oder Heinz Ketchup. Die Werkstätten sind Unternehmen, sie | |
haben kein Interesse daran, dass die Leute auf den ersten Arbeitsmarkt | |
kommen. Da wird in der Regel niemand motiviert, es überhaupt zu versuchen. | |
Da heißt es oft: „Draußen ist es gefährlich, das schaffst du nicht. Da | |
wirst du gemobbt.“ Aber ich frage mich: Warum sollte es in einer Werkstatt | |
kein Mobbing geben? | |
Gäbe es mit der Abschaffung der Werkstätten faktisch nicht noch weniger | |
Arbeitsmöglichkeiten? | |
Es heißt immer, es geht um Teilhabe. Aber es geht doch nicht nur um | |
Teilhabe, sondern darum, seinen Lebensunterhalt selbstbestimmt zu | |
finanzieren, wie jeder andere auch. Der Jetzt-Stand ist, dass die Menschen, | |
die zwanzig Jahre in den Werkstätten arbeiten, in Kombination mit der | |
Grundsicherung, eine Rentenberechtigung haben. Ein junger Mensch, der in | |
einer Werkstatt anfängt, investiert also nicht in seine Zukunft, sondern | |
schon in sein Ende. Wer profitiert von diesem System? Die Werkstätten sind | |
vom Prinzip her nicht darauf aufgebaut, einen echten Mindestlohn zu zahlen, | |
denn dann wären sie pleite. Außerdem geht es da nicht immer flauschig zu. | |
Wie meinen Sie das? | |
Die Werkstätten haben ein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Aber es gibt | |
Werkstätten gegen die Strafverfahren laufen, da geht es um Missbrauch und | |
psychische Gewalt. In manchen Werkstätten ist der Produktionsdruck sehr | |
hoch. Mir wird oft vorgeworfen, ich will die Werkstätten schließen und dann | |
stehen die Leute auf der Straße. Das ist nicht mein Anliegen. Die Förderung | |
von Werkstätten verstößt gegen die UN-Konvention, das habe ich mir nicht | |
ausgedacht. Kritische Debatten um die Werkstätten muss es geben können, | |
ohne bedroht zu werden. Menschen die dort arbeiten, müssen gehört werden. | |
Wie kann Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt besser funktionieren? | |
Es gibt beispielsweise Inklusionsfirmen wie zum Beispiel Inklusionscafés, | |
da ist nicht alles perfekt, aber dort gibt es richtige Verträge und | |
Gehälter, es gibt Arbeitsbedingungen wie für einen nicht-behinderten | |
Menschen. Auf EU-Ebene müssen wir darüber reden, welche | |
Arbeitsmarktförderungen wir ins Leben rufen können, die dann über die | |
Landesebene besser abrufbar sind. Wir müssen die Privatwirtschaft | |
mitnehmen, schließlich sollen sie die Leute ja einstellen. Noch sind viele | |
Vorurteile und Unsicherheiten da. Die Frage nach einem sozialen | |
Arbeitsmarkt müsste neu gestellt werden, wir könnten über Kombilöhne | |
diskutieren, also teilsubventionierte Löhne. | |
Sie haben [3][einen EU-Bericht erarbeitet, um die Teilhabe von Menschen mit | |
Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt] zu verbessern. Unter anderem fordern | |
Sie Diversitätsquoten am Arbeitsplatz. In Deutschland gibt es die doch | |
schon. Wenn bei zwanzig Arbeitsplätzen nicht mindestens fünf Prozent der | |
Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderung besetzt sind, wird eine Abgabe | |
fällig. Reicht das? | |
Ja, derzeit ist es so, dass Unternehmen, die die Quote nicht erfüllen, eine | |
Abgabe zahlen müssen. Und es wird oft gefordert, wir bräuchten eine höhere | |
Quote und höhere Abgaben. Aber die Abgaben laufen in großen Teilen leider | |
wieder in Werkstätten – wir füttern also das negative System. Ich würde das | |
gern umdrehen. Wer die Quote erfüllt, bekommt eine Belohnung und | |
Unterstützung. Es muss leichter für Unternehmen werden, Menschen mit | |
Behinderung einzustellen. Bei Nicht-Erfüllen der Quote müssen Firmen mehr | |
Hilfe und Beratung bekommen, einen Diversitätsplan zu entwerfen und diesen | |
auch durchzuführen, beispielsweise durch zentrale Datenbanken mit passenden | |
Bewerber*innen. Oft liegt das Problem gar nicht beim mangelnden Willen | |
sondern beim Unwissen von Arbeitgeber*innen. | |
In den Forderungen geht es aber auch um „universelles Design“. Was ist | |
darunter zu verstehen? | |
Grundsätzlich steht dahinter: Jedes neue Gebäude, jedes neue Produkt und | |
jede neue Dienstleistung sollten grundsätzlich so angelegt und entworfen | |
sein, dass sie für ein Maximum an Menschen zugänglich sind. Wir müssen | |
Inklusion in allen gesellschaftlichen Bereichen mitdenken. In der | |
Städtebauverordnung, bei Fördermitteln für Frauenhäuser, aber auch im | |
Produktdesign. Ein Beispiel aus dem Alltag: Bei meinem Onlinebanking werde | |
ich nach fünf Minuten automatisch ausgeloggt. Menschen mit Behinderungen | |
brauchen aber oft mehr Zeit, das sollte über eine Software einstellbar | |
sein. Es geht hier um gleiche Rechte. Manche denken: Inklusion ist Teil | |
einer „bunten Gesellschaft.“ Gegen diese Formulierung wehre ich mich: Es | |
geht nicht um Buntes, es geht um Menschenrechte, um Teilhabe in der ersten | |
Reihe. Wir sind keine Luftballons in der Hand. Aber die wenigstens wissen | |
überhaupt, was die UN-Behindertenrechtskonvention ist. | |
Woran liegt das? | |
Wir haben in der Summe zu wenige Menschen mit Behinderung, die im | |
öffentlichen Leben präsent sind oder die politische Entscheidungspositionen | |
inne haben, um das Thema voranzutreiben. Das muss natürlich nicht eins zu | |
eins so sein. Wolfgang Schäuble ist auch nicht die Speerspitze der | |
Behindertenbewegung. Dafür kritisiere ich ihn auch nicht, ich habe großen | |
Respekt davor, wie er sein Amt ausfüllt. Aber es reicht nicht, die wenigen, | |
die es schaffen zu feiern, denn sie sind die Ausnahme, nicht die Norm. Der | |
Bundestag und das Europaparlament spiegeln nicht die Bevölkerung in der EU | |
wider. | |
Also geht es um inhaltliche, politische Arbeit einerseits, aber anderseits | |
auch um mehr Vorbilder? | |
Sichtbarkeit ist wichtig. Menschen mit Behinderung sind keine homogene | |
Masse. Wir brauchen Menschen mit Behinderung in den Kitas, in den Schulen, | |
als Lehrerinnen und Lehrer. Im Bereich Sport mit den Paralympics gibt es | |
bereits eine ganz andere Anerkennung, da passiert viel. Aber warum gibt es | |
keine Werbung, in der Menschen mit Behinderung auftauchen, ohne dass die | |
Behinderung eine Rolle spielt? Das wäre super. Ich zum Beispiel wollte | |
eigentlich immer Tagesschausprecherin werden, aber es hieß: So jemanden wie | |
dich lässt niemand vor die Kamera. | |
Das wurde Ihnen so explizit gesagt? | |
Ja. Es war überhaupt nicht denkbar, dass das geht. Wir dürfen nicht | |
vergessen: Vor 75 Jahren haben wir Menschen mit Behinderungen einfach | |
umgebracht, das ist nicht so lange her. Unsere Denke ist noch sehr im 19. | |
Jahrhundert verhaftet. Das hat viel mit der gesellschaftlichen Vorstellung | |
zu tun, dass Krankheit oder Behinderung nicht nach außen getragen werden | |
soll. In den 1970er Jahren gab es neben der Bürgerrechtsbewegung in den USA | |
und der Frauenbewegung auch die Krüppelbewegung, die sich bewusst so | |
bezeichnet hat. Das bräuchten wir nochmal. | |
Welchen Einfluss hat die EU eigentlich auf einzelne Mitgliedstaaten bei der | |
Umsetzung der UN-Behindertenkonvention? | |
Die Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Wir auf EU-Ebene geben die großen | |
Richtlinien vor. Wir kämpfen zum Beispiel dafür, dass Deutschland die | |
fünfte Antidiskriminierungsrichtlinie umsetzt. Die Bundesregierung blockt | |
da aber, da gehen CDU und SPD Hand in Hand. | |
Sie sind die einzige Abgeordnete im Europaparlament mit sichtbarer | |
Behinderung. Auf welche Hürden sind Sie gestoßen? | |
Bevor ich ins Parlament eingezogen bin, wurde ich bereits gefragt, was ich | |
brauche. Aber das wusste ich nicht auf Anhieb. Ich bin dann in der Praxis | |
auf zwei größere Hürden gestoßen. Das Abstimmungsgerät konnte ich nicht | |
nutzen, das war sehr tief gelegt, das war für mich nicht händelbar. Da | |
haben wir dann nach Alternativen gesucht. Und in Straßburg konnte ich die | |
blauen Sessel nicht bewegen – ich konnte mich also nicht selbstständig | |
setzen und aufstehen. Wir haben dann einen neuen Stuhl bestellt, das hat | |
etwas länger gedauert, aber gut. Brandschutz versus Barrierefreiheit bei | |
Toilettentüren ist auch immer wieder ein Thema. Die schweren Türen zum | |
Beispiel, die sich automatisch öffnen, lassen sich nur schwer öffnen, wenn | |
die Automatik ausfällt. Aber ich muss hier auch sagen: ich bin eine | |
Luxusbehinderte. Ich habe Geld, ich habe einen Fahrdienst und ich habe ein | |
Team. Ich bin nicht auf die Bahn in Belgien angewiesen, die ist nämlich gar | |
nicht barrierefrei. Deshalb muss ich mir als Grüne ein Auto ordern, nur so | |
komme ich von A nach B. | |
3 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Arbeitsbedingungen-fuer-Behinderte/!5420731 | |
[2] /Corona-und-Menschen-mit-Behinderung/!5729036 | |
[3] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/EMPL-PR-657235_DE.pdf | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
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