# taz.de -- Inklusion an Schulen: Wir brauchen sie immer noch | |
> Unser Schulsystem folgt den falschen Zielen. Deshalb droht es sowohl an | |
> der Inklusion als auch an der Pandemiebewältigung zu scheitern. | |
Bild: Unglückselige Fixierung: Die Schule und ihre Standards | |
HANNOVER taz | Die x-te Debatte über Inklusion fühlt sich ein bisschen an | |
wie die x-te Schultheater-Aufführung von „Warten auf Godot“. Inklusion ist | |
wie Godot eine vage Bekannte, die unsichtbar bleibt und vielleicht nie | |
auftaucht. Aber das Stück ist so abgedroschen und tot gespielt, dass man | |
große Mühe hat, sich überhaupt noch daran zu erinnern, wie aufregend und | |
neu das einmal war. | |
Und vielleicht ist dieser Zeitpunkt, die Debatte noch einmal aufzunehmen, | |
gerade besonders gemein: Hat doch [1][diese Pandemie Familien, in denen | |
Kinder mit Behinderungen leben,] noch einmal in ungeahnte Tiefen gestürzt – | |
in ökonomische Nöte, heftige Isolation, brutale Erschöpfung. | |
Aber vielleicht muss man auch gerade deshalb und jetzt erst recht wieder an | |
dieses Thema rühren: Weil selbst [2][der mickrigste Fortschritt von der | |
Rückabwicklung bedroht ist]. Und weil dieses Schulsystem aus den gleichen | |
Gründen an der Pandemiebewältigung zu scheitern droht, aus denen es auch an | |
der Inklusion zu scheitern droht: Seiner Fixierung darauf, gewohnte | |
Standards abzuarbeiten, statt vom Kind her zu denken. Und das ist der | |
Punkt, an dem auch Eltern von Kindern ohne Behinderung anfangen sollten, | |
sich Sorgen zu machen. | |
Eltern von Kindern mit Behinderung standen in den vergangenen Jahren vor | |
einer ziemlich unmöglichen Entscheidung: Fördersystem oder „Regelschule“? | |
## Eine unmögliche Entscheidung | |
Fördersystem heißt: Man kann relativ sicher sein, dass das Kind gut | |
versorgt und behutsam gefördert wird. Dafür ist die Gefahr groß, dass es | |
aus dieser Förderschleife auch nie wieder herauskommt. Das liegt zum Teil | |
daran, dass so ein Hilfssystem dazu tendiert, sich selbst zu erhalten. Die | |
Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder bleiben beschränkt und allzu oft führt | |
ein Förderschulabschluss dann [3][direkt in die Werkstätten,] weil die | |
Chancen auf dem Arbeitsmarkt ohnehin so gering sind. | |
Das hat aber noch viel mehr damit zu tun, dass die Mehrheitsgesellschaft es | |
sich von Kindesbeinen an abgewöhnt hat, sich mit „so was“ | |
auseinanderzusetzen. Wer Kindern im Kita- oder Grundschulalter beibringt, | |
dass Kinder mit Behinderungen ein Fall für Experten sind, der muss sich | |
nicht wundern, wenn sie auch später im Leben ihren Berührungsängsten frönen | |
– und sich gar nicht vorstellen können, mit „so jemandem“ zusammen zu | |
arbeiten oder gar zu leben. | |
Aber wenn Eltern sich aus diesen Gründen dafür entscheiden, ihr Kind mit | |
Behinderung ins Regelsystem zu schicken, gehen sie ein hohes Risiko ein. | |
Wenn sie Glück haben, geraten sie an eine Schule, die sich der | |
individuellen Förderung verschrieben hat und die – viel zu knappen – | |
Fördermittel clever einzusetzen weiß. An eine Lehrkraft, die offen ist, und | |
eine Klassengemeinschaft, die gut funktioniert. Dann werden sie erleben, | |
wie ihr Kind über sich hinauswächst, Dinge lernt, die ihm nie jemand | |
zugetraut hat und seinen Platz in der Gemeinschaft erobert. | |
Wenn sie aber Pech haben, geraten sie an eine Schule und eine Klasse, in | |
der die Lehrkraft ohnehin schon überlastet ist und den Inklusionsschüler | |
dann auch noch so mitschleift, während die Sonderpädagogin mit ein paar | |
Schulstunden pro Woche wenig bis gar nichts kompensieren kann und die | |
Mitschüler selbst diese kleine „Extrawurst“ noch übel nehmen. Dann bekomm… | |
sie ein todunglückliches Kind mit nachhaltig beschädigtem Selbstwertgefühl, | |
das vor allem lernt, was es alles nicht kann. | |
## War es naiv, sich der Inklusion so viel zu versprechen? | |
Und dieses Risiko ist natürlich eines, dass nicht nur Kinder mit | |
Behinderung trifft, sondern auch viele andere. Es hat etwas mit der | |
unglückseligen Fixierung unseres Schulsystems auf Normen und Standards zu | |
tun. Darauf zielt alles: die pseudo-objektiven Ziffernzensuren, die | |
Vergleichsarbeiten, das Zentralabitur. Alles, was da herausragt oder | |
abweicht, ist nach dieser Logik von Übel. | |
Der Haken ist: Schnell abrufbares Wissen – das hier als „Leistung“ verkau… | |
wird – liefert ein Computer auch. Was unsere Kinder lernen müssen, ist | |
etwas anderes: denken, kommunizieren, sich orientieren, Entscheidungen | |
herbeiführen, Ziele setzen, Unterschiede aushalten und produktiv nutzen. | |
Vielleicht war es naiv, sich von der Inklusion zu versprechen, dass sie | |
diese Fixierung auf Standards aufbricht. Dass sie zu einer genaueren | |
Wahrnehmung, besseren Förderung und klügeren Didaktik führen könnte, die | |
dann allen Schülern zugute kommt. | |
Das Dumme ist nur: Gebraucht wird sie immer noch. | |
23 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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