# taz.de -- Menschen mit Behinderung und Corona: Die vergessenen Kinder | |
> Zu Pandemiebeginn wurden Kinder mit kognitiver Behinderung kaum beachtet. | |
> Die Herausforderungen sind enorm. | |
Bild: Ein Junge spielt in einem Zentrum für autistische Kinder im schweizerisc… | |
BERLIN taz | Am Anfang habe Ciwan nicht verstanden, warum alle eine Maske | |
tragen, erzählt Berin Binici. „Jetzt merke ich, dass er die Schule | |
vermisst. Vor allem sein Klassenteam.“ Binici ist Mutter von zwei Kindern. | |
Ihr jüngerer Sohn Ciwan ist acht Jahre alt und Autist. Normalerweise | |
besucht er ein Förderzentrum für körperliche, motorische und geistige | |
Entwicklung in Kiel. | |
In der Pandemie betreuen Binici, die im Krankenhaus arbeitet, und ihr Mann | |
die Kinder im Wechsel zu Hause. Beim Telefongespräch hört man Ciwan im | |
Hintergrund rufen, Binici wechselt in der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung den | |
Raum. „Manchmal ist er aktuell ganz aufgebracht, wie in einer Waschmaschine | |
durchgeschleudert“, erzählt die 42-jährige Mutter. | |
Soziale Isolation, digitaler Unterricht, elterliche Betreuung – im Zuge der | |
Coronapandemie wurden diese Themen viel und kontrovers diskutiert, Kinder | |
mit kognitiver Beeinträchtigung zunächst jedoch kaum berücksichtigt. Dabei | |
stehen sie und ihre Familien in der Pandemie vor zusätzlichen | |
Herausforderungen: Nicht alle Kinder können digitalem Unterricht folgen, | |
soziale Isolation kann zu einem erheblichen Lernrückschritt führen und die | |
Betreuung von Kindern mit kognitiver Behinderung für Eltern besonders | |
herausfordernd sein. | |
Das Hin und Her zwischen Schulschließung und kurzzeitiger Öffnung verwirrt | |
ihren Sohn, erzählt Binici. „Während mein großer Sohn im Lockdown vor allem | |
fauler wird, macht der Alltagswechsel Ciwan ganz nervös. Er ist sehr | |
wuselig zu Hause.“ Die durchgängige Betreuung für ihre Kinder zu stemmen, | |
brachte die Eltern zeitweise an die Belastungsgrenze. | |
Symptom des Umgangs mit Menschen mit Behinderung | |
Kinder an Förderschulen wurden zu Beginn der Pandemie vergessen, kritisiert | |
Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und | |
Wissenschaft (GEW). Das sei ein Symptom des Umgangs mit Menschen mit | |
Behinderung in der Gesellschaft – unabhängig von der Pandemie: „Man | |
delegiert die Verantwortung an die Sondereinrichtungen. Die Leute, die dort | |
arbeiten, kümmern sich um die Betroffenen und der Rest der Gesellschaft hat | |
nichts damit zu tun.“ | |
Wer aus dem Alltag entfernt werde, werde schnell vergessen. „Für die | |
Förderschullehrer*innen waren die Kinder natürlich sichtbar, aber die | |
standen damit auf verlorenem Posten“, so die Gewerkschafterin. | |
„Unsere Kinder existieren in der Wahrnehmung des Ministeriums einfach | |
nicht“, sagt auch die Vorsitzende der GEW-Landesfachgruppe Sonderpädagogik | |
in Schleswig-Holstein, Kerstin Quellmann. Noch immer sei häufig nicht klar, | |
ob die für Schulen verkündeten Coronaregelungen auch für Förderschulen | |
gelten. „Die Schulleitungen dürfen die munter selbst interpretieren und | |
werden mit dieser Verantwortung völlig alleingelassen“, kritisiert sie. | |
Quellmann, die auch die Lehrerin von Ciwan ist, erachtet das Homeoffice für | |
Eltern von Kindern mit kognitiver Behinderung als schlicht unmöglich: „In | |
meiner Klasse wüsste ich keinen einzigen Schüler, wo die Eltern parallel | |
etwas anderes machen können, als sich um ihr Kind zu kümmern.“ | |
Individuelle Lernpakete für jedes Kind | |
In Kiel versuchen Kerstin Quellmann und ihre Kolleg*innen deshalb seit | |
Beginn der Pandemie, die Situation für ihre Schüler*innen und deren | |
Eltern durch Pakete mit Unterrichtsmaterial zu erleichtern. Darin | |
enthalten: Knete, Bastelanleitungen, Rezepte und Arbeitsblätter zum Lesen- | |
und Schreibenlernen. Je nachdem, was der Entwicklung der Kinder | |
entspricht. Im ersten Lockdown hat Quellmann die Pakete persönlich zu den | |
Kindern nach Hause gebracht, „um sie wenigstens kurz zu sehen“, sagt die | |
Lehrerin. | |
Jetzt möchten viele Familien aus Angst vor einer Infektion nicht mehr, dass | |
sie vorbeikommt. Die Förderschule setzt deshalb vermehrt auf digitale | |
Angebote: Jeden Morgen um 8.45 Uhr trifft sich Quellmanns Klasse zur | |
Videokonferenz. So versucht das Lehrer*innenteam den fehlenden sozialen | |
Austausch zu ersetzen. | |
„Es ist total schön, wenn eines der Kinder in die Videokonferenz kommt, das | |
nicht so oft da ist“, sagt Quellmann. „Das ist immer eine Riesenfreude bei | |
der ganzen Klasse.“ Manche Kinder können daran aber nur bedingt teilnehmen. | |
Ciwan laufe hin und wieder bei der Videokonferenz durchs Bild und nehme die | |
anderen Kinder auch wahr. Für eine richtige Teilnahme seien die Treffen am | |
Bildschirm aber zu abstrakt für ihn. Ohne den persönlichen Kontakt sei es | |
schwierig, mit Kindern mit kognitiver Behinderung in Verbindung zu bleiben, | |
sagt Quellmann. | |
Ein Kind ihrer Klasse komme nur in die Konferenz, wenn die | |
teilzeitbeschäftigte Mutter zu Hause ist. Um einen anderen ihrer Schüler | |
sorgt sie sich besonders. Er wirke in den Onlinetreffen sehr angespannt, im | |
Hintergrund höre man das Geschrei der Geschwisterkinder. Manche Eltern | |
wiederum trauten sich gar nicht an das Medium Videokonferenz heran. „Noch | |
mehr als vor der Pandemie kommt es jetzt auf die Elternhäuser an, die | |
Schere geht weiter auseinander“, sagt sie. | |
## Bestehende Probleme verstärken sich | |
Dass Eltern von Kindern auf Förderschulen in der Pandemie besonders | |
gefordert sind, beschreibt auch Bernd Klagge aus Bonn. Seit Pandemiebeginn | |
sieht der ITler und Vater eines Sohnes mit Downsyndrom eine klare | |
Entwicklung in der digitalen Kompetenz von Lehrkräften an Förderschulen. | |
Auch lobt er die Bereitstellung von Unterrichtsmaterial. Dabei sei jedoch | |
„das Engagement der Eltern gefragt, denn ohne Hilfestellung kann unser Sohn | |
seine Lernaufgaben nicht machen“, erklärt Klagge. | |
Corona verstärke bereits bestehende Probleme an Förderschulen für Kinder | |
mit kognitiver Behinderung. Aufgrund von Lehrer*innenmangel beklagen | |
Klagge und die Landeselternschaft der Förderschulen mit Schwerpunkt | |
geistige Entwicklung NRW einen erheblichen Unterrichtsausfall. Eine von den | |
Eltern initiierte Umfrage an 39 Förderschulen in NRW mit dem Schwerpunkt | |
geistige Entwicklung habe ergeben, dass seit den Sommerferien zum Teil vier | |
bis fünf Zeitstunden Unterricht pro Woche ausfielen – und das vor dem | |
Lockdown. | |
Im Dezember veröffentlichte die Elternschaft deshalb einen offenen Brief an | |
die NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP), um den dramatischen | |
Unterrichtsausfall an Förderschulen aufzuzeigen. Die Eltern fordern in dem | |
Brief eine Verbesserung der Personalsituation an Förderschulen für Kinder | |
mit Behinderung sowie die Möglichkeit, dass Kinder mit Anspruch auf | |
Integrationsassistenz von diesen beim Lernen zu Hause unterstützt werden | |
können. | |
Inwieweit die Schulbegleiter*innen, die den Kindern sonst bei den Aufgaben | |
in der Schule individuell helfen, auch im privaten Bereich arbeiten, ist | |
aufgrund von Hygienebestimmungen je nach Bundesland aktuell unterschiedlich | |
geregelt. Die den Eltern angekündigte Antwort von Ministerin Gebauer blieb | |
bislang aus. Immerhin gebe es aber vom Ministerium initiierte | |
Onlinemeetings mit Vertreter*innen unterschiedlicher Elternverbände, | |
berichtet Klagge. | |
Aufbewahrung anstatt pädagogischer Betreuung | |
Der Vater ist froh, dass Schüler*innen an Förderschulen unabhängig vom | |
Alter auch während der derzeitigen Schulschließung ein Betreuungsangebot | |
zusteht. Je nach Personalsituation an den Schulen sei das aber mehr eine | |
Aufbewahrung zur Entlastung der Eltern als eine pädagogische Betreuung, | |
sagt Klagge. „Unser Anliegen ist natürlich, dass unsere Kinder etwas | |
lernen.“ | |
Auch die Lebenshilfe unterstreicht in einem Positionspapier, dass Kindern | |
und Jugendlichen mit Behinderung auch während der Pandemie das | |
uneingeschränkte [1][Recht auf Bildung und Förderung] zustehe. | |
Schüler*innen und deren Angehörige müssten für alternative | |
Unterrichtsformate die notwendige Unterstützung erhalten. | |
„Schlussendlich muss man Geld und Ressourcen in die Hand nehmen, um solche | |
Probleme zu lösen“, sagt Bernd Klagge. Bildung koste etwas und | |
organisatorisches Hin- und Hergeschiebe bringe keine Lösungen. Diesen | |
Forderungen schließt sich Ilka Hoffmann von der GEW an. Die Mittel aus dem | |
Digitalpakt müssten an die besonderen Bedürfnisse von Lernenden mit | |
Behinderung angepasst werden. Zusätzlich bräuchten alle Schulen | |
zusätzliches Personal, um möglichst alle Kinder und Jugendlichen in der | |
Pandemie mit Bildungsangeboten zu versorgen. | |
„Hier ist Kreativität gefragt“, so Hoffmann, „auch der kurzfristige | |
zusätzliche Einbezug von Ehrenamtlichen, Studierenden und Freiberuflern auf | |
Honorarbasis könnte beispielsweise in Betracht gezogen werden.“ | |
Bildungsgerechtigkeit müsse bedeuten, alle Kinder im Blick zu behalten. | |
Hoffmann plädiert deshalb für mehr Inklusion in den Regelschulen, die | |
wiederum [2][mehr Raum für Kinder in ihrer Verschiedenheit] und mit ihren | |
unterschiedlichen Bedürfnissen bieten müssten: „Nur ein gut ausgestattetes | |
inklusives Schulsystem ist krisenfest.“ | |
## Keine Kritik an den Coronabeschränkungen | |
Dass die Kontaktbeschränkungen auch in Förderschulen wichtig und notwendig | |
für die Bewältigung der Pandemie sind, daran zweifelt von den | |
Gesprächspartner*innen niemand. Gewerkschafterin Quellmann fehlt es | |
aber an Transparenz über das Infektionsgeschehen an Schulen. Auch ist in | |
ihren Augen die hygienische Ausstattung für das Lehrpersonal unzureichend. | |
Sie habe bisher zwei FFP2-Masken erhalten. Für ihren täglichen Einsatz in | |
der Notbetreuung mit Kindern, die zum Teil aus gesundheitlichen Gründen | |
keine Maske tragen können, sei das unzureichend. | |
Auch gibt es aufgrund der sozialen Kontaktbeschränkung viele Punkte, die | |
für Kinder von Förderschulen besonders negativ wirken: „Die Pandemie | |
reduziert die sowieso schon wenigen Kontakte von Kindern mit geistiger | |
Behinderung“, sagt Bernd Klagge. „Dadurch machen sie dramatische | |
Rückschritte in der Entwicklung.“ Dies zeige sich auch in der motorischen | |
Entwicklung, so Lehrerin Quellmann. Sie spricht von verkümmerten Muskeln | |
und verlerntem Bewegungsablauf nach den Schulschließungen im letzten Jahr. | |
„Wir mussten ganz viel Aufbauarbeit leisten, und das wird uns jetzt wohl | |
wieder erwarten.“ | |
Auch Ciwans Mutter weiß, dass es nach der Pandemie erneut eine Zeit dauern | |
wird, bis ihr autistischer Sohn wieder mit den anderen Kindern in seiner | |
Klasse Kontakt aufnehmen wird. Das hätte vor Corona gerade langsam | |
begonnen. Trotzdem beobachtet Berin Binici auch eine positive Veränderung | |
im Lockdown: „Ciwan spricht viel mehr als vorher mit uns. Weil auch bei uns | |
zu Hause gerade mehr gesprochen wird.“ | |
19 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Linda Gerner | |
Franziska Schindler | |
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