# taz.de -- Grünen-Politiker zu Wirtschaft in Schule: „FDP-Ministerin agiert… | |
> Grünen-Politiker Kai Gehring kritisiert den Stellenwert des Fachs | |
> Wirtschaft in NRW. Er fordert mehr Schutz gegen Lobbyismus an Schulen. | |
Bild: Abiturient:innen in NRW nach dem ersten Schul-Lockdown. Was sie wohl übe… | |
taz: Herr Gehring, seit Jahren steht die schwarz-gelbe Landesregierung von | |
NRW wegen der Einführung des Schulfachs Wirtschaft in der Kritik. Seit | |
diesem Schuljahr wird es nun an allen weiterführenden Schulen unterrichtet | |
– wie auch in Thüringen, Bayern oder Baden-Württemberg. Wo ist das Problem? | |
Kai Gehring: Entgegen eigener Ankündigungen stellt die NRW-Landesregierung | |
das Fach Wirtschaft überall an erste Stelle und strukturiert Lernbereiche | |
grundlegend auf Kosten der politischen Bildung um. Das Vorhaben von | |
[1][NRW-Schulministerin Gebauer] geht an den realen Problemen vorbei: | |
Studien zeigen, dass in den Lehrplänen der gesellschaftswissenschaftlichen | |
Fächer die wirtschaftlichen Themen seit Jahren deutlich mehr Raum einnehmen | |
als die politischen. Bei solchen Befunden die politische Bildung noch | |
weiter zurückzudrängen und nochmals Wirtschaftsthemen zu stärken, legt | |
nahe: Hier agiert eine FDP-Ministerin ideologisch und neoliberal, mit | |
tatkräftiger Unterstützung arbeitgebernaher Lobbyverbände. „Wirtschaft | |
first, Politik und Gesellschaft second“ ist ein schlechtes Konzept für die | |
Bildungspolitik. | |
Unternehmen haben auch ohne ein eigenes Fach Wirtschaft Einfluss an | |
Schulen. Sie versorgen Lehrkräfte mit aktuellen Unterrichtsmaterialien, die | |
niemand auf Ausgewogenheit und Werbung prüft. Von gesponserten Events an | |
Schulen und Berufsorientierung mit „Expert:innen“ ganz zu schweigen. | |
Schläft der Staat beim Lobbyismus an Schulen? | |
Das ist ein bedenklicher Trend, der auch der chronischen Unterfinanzierung | |
von Schulen geschuldet ist. Kinder und Jugendliche müssen sich in Schulen | |
ganzheitlich bilden und entwickeln können, ohne dass Unternehmen und | |
Verbände einseitig versuchen, ihre Köpfe zu erobern. Es braucht Konzepte, | |
um Schulen besser vor privatwirtschaftlichen Interessen zu schützen, zum | |
Beispiel eine kohärente bundesweite Prüfung kostenloser | |
Unterrichtsmaterialien. Umso wichtiger ist mir, dass wir „Bildung für | |
nachhaltige Entwicklung“ stärken, denn Nachhaltigkeit und Klima sind | |
Inhalte, die Kids interessieren, und es sind Zukunftsfragen. | |
Wie mächtig die Wirtschaftslobby ist, hat selbst die Bundeszentrale für | |
politische Bildung erfahren müssen. Einem Arbeitgeberverband ist es 2015 | |
gelungen, den Vertrieb eines wirtschaftskritischen Sammelbands zu | |
unterdrücken – mit Unterstützung des Innenministeriums. Warum ist es | |
Unternehmen so wichtig, an Schulen gut wegzukommen? | |
Unternehmen und Wirtschaftsverbände erhoffen sich durch ihr trickreiches | |
Engagement im Bildungsbereich Einfluss auf die Konsument:innen von | |
morgen zu nehmen. Sie wollen das eigene Image aufpolieren. Sie haben | |
begriffen, dass Kinder und ihre Eltern ein Hebel sind, um das | |
gesellschaftliche Klima zu beeinflussen. Wirtschaftsthemen bei | |
Schüler:innen kontrovers darzustellen, ist Wirtschaftsverbänden daher | |
schnell ein Dorn im Auge. Für gute politische Bildung ist hingegen das | |
Kontroversitätsprinzip elementar. Menschenrechtsverletzungen, Umwelt- und | |
Klimazerstörung durch Großkonzerne werden gerade in den | |
Sozialwissenschaften kritisch reflektiert. | |
Dafür müssen Lehrer:innen ausgebildet sein. FDP-Schulministerin Yvonne | |
Gebauer will in NRW nun das Lehramtsstudium umkrempeln – und das Studium | |
der Sozialwissenschaften schwächen. Wie sinnvoll ist das? | |
Als Sozialwissenschaftler, Bürger und Parlamentarier bin ich fassungslos | |
und klar dagegen. Würden diese Pläne Wirklichkeit, wird die breite und | |
fundierte fachwissenschaftliche Ausbildung der Lehrkräfte in NRW | |
zerschlagen. Zu Recht erfährt Gebauer bei Studierenden und Lehrkräften | |
[2][ordentlich Gegenwind] für ihre unausgegorenen, einseitigen Pläne. | |
Anstatt Studierende der Sozialwissenschaften und angehende | |
Politiklehrer:innen zu verunsichern, muss Gebauer attraktive und | |
ganzheitliche Studiengänge und Einstiege schaffen. Die Reaktion des | |
FDP-geführten Schulministerium, es gehe um einen vorurteilsfreien Blick auf | |
die Wirtschaft, schürt weiteres Misstrauen. „Der Markt regelt das“ ist kein | |
Naturgesetz, sondern ein umstrittener Lehrsatz, der im Unterricht | |
kontrovers dargestellt werden muss. Das können nur Lehrer:innen leisten, | |
die dementsprechend breit an den Hochschulen ausgebildet werden. | |
Ein zentraler Kritikpunkt an den Wirtschaftsstudiengängen ist die Dominanz | |
der neoklassischen Lehre. Daraus muss aber nicht automatisch einseitiger | |
Unterricht werden, oder? | |
Das Risiko sollten wir erst gar nicht eingehen, sondern sowohl an der | |
Universität als auch in der Schule verschiedene ökonomische Paradigmen und | |
Denkschulen vermitteln. Es muss um plurale, vielfältige Ökonomie gehen, | |
nicht um theoretischen Einheitsbrei. | |
Warum sollte an Schulen nicht das Fach Wirtschaft, sondern Politik gestärkt | |
werden? | |
In der Coronazeit sind Gesellschaftswissenschaften gegenüber Deutsch, Mathe | |
und Englisch weiter ins Hintertreffen geraten. Hinzu kommt der fatale | |
bundesweite Trend, die ökonomische Bildung zulasten der politischen Bildung | |
aufzuwerten. Angesichts erstarkender rechtsextremer, demokratiefeindlicher | |
Kräfte in Parlamenten und in der Öffentlichkeit brauchen wir politische | |
Bildung mehr denn je. Sie ermutigt Kinder und Jugendliche zu Diskurs und | |
kritischer Reflexion, immunisiert sie vor Indoktrination und | |
Verschwörungsmythen. | |
Seit ein paar Jahren merken die Kultusminister:innen, dass sie das Fach | |
Politische Bildung lange vernachlässigt haben. Dennoch sehen manche | |
Bundesländer Politikunterricht noch immer erst ab der 8. Klasse vor. Warum? | |
Ob bewusste oder unbewusste Entpolitisierung: Dieser schleichende Prozess | |
muss umgekehrt werden, denn Politik und Sozialwissenschaften sind | |
Demokratie-Schutzfächer. Wir brauchen eine junge Generation, die Nachwuchs | |
für unsere Demokratie wird, diese als mündige Zivilgesellschaft | |
mitgestaltet – wie die vielen, die sich zum Beispiel für Klimaschutz oder | |
gegen Rassismus engagieren. | |
Es gibt auch positive Entwicklungen. Sachsen und Berlin beispielsweise | |
haben die politische Bildung an den Schulen gestärkt. Das Problem: Es gibt | |
zu wenig ausgebildete Politiklehrer:innen. Was ist zu tun? | |
Diese Beispiele zeigen, dass nicht nur der Anteil politischer Bildung im | |
Unterricht erhöht, sondern auch mehr Fachlehrkräfte ausgebildet werden | |
müssen. Politik wird besonders oft fachfremd unterrichtet, also von | |
Lehrer:innen ohne entsprechende Ausbildung. An den Hauptschulen NRWs | |
wird über 90 Prozent des Politikunterrichts „fachfremd“ erteilt. | |
3 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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