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# taz.de -- Schulpolitik in Schleswig-Holstein: Rolle rückwärts in der Inklus…
> Ministerin Karin Prien legt Verordnung vor, nach der verhaltensauffällige
> Schüler an Förderzentren wechseln sollen. GEW und SPD sehen das kritisch.
Bild: Wer sozialen und emotionalen Förderbedarf hat, muss womöglich ans Förd…
Hamburg taz | Die Aufregung in den Lokalmedien war groß, als sich im
vorigen Winter an einer Grundschule in einem Dorf in Ostholstein
Gewaltvorfälle häuften, und Eltern den Unterricht boykottierten. Zwei
Kinder mussten die Schule verlassen und Bildungsministerin Karin Prien
(CDU) nahm dies zum Anlass, eine Reform der Inklusion anzukündigen. „Wir
brauchen mehr Möglichkeiten, besonders verhaltensauffällige Kinder
zeitweise aus den Klassen herauszuziehen und in Kleingruppen zu beschulen“,
sagte sie den Lübecker Nachrichten. Außerdem müsse die „Diagnostik früher
beginnen“.
Nun ist dies ein sensibles Thema. Denn die [1][Jamaika-Koalition aus CDU,
FDP und Grünen] muss sich in der Bildungspolitik besonders bemühen, um
einen inhaltlichen Konsens zu erzielen. Schleswig-Holstein war unter der
Vorgänger-Regierung nach Bremen das Land mit der besten Quote in der
Inklusion. Nur 2,1 Prozent wurden 2016/17 nicht in normalen Schulen,
sondern Sondersystemen unterrichtet. Es gibt zwar noch „Förderzentren“,
aber viele von diesen haben keine Schüler mehr und entsenden ihre
Sonderpädagogen an die Schulen. Im Bundesschnitt liegt besagte
Exklusionsquote doppelt so hoch.
Prien lies Ende Februar bei der Vorstellung eines Inklusionsberichts die
Zuhörer wissen, dass sich der Anteil inklusiv beschulter Schüler binnen
acht Jahren verdoppelt habe, es aber bei Inklusion nicht um den „Wettlauf
um die höchste Inklusionsquote“ gehe, sondern um „Qualität“. Kurz zuvor
hatte ihr Ministerium die Novelle der „Landesverordnung über
sonderpädagogische Förderung“ einigen Fachverbänden zur Stellungnahme
zugeschickt. Eine Diskussion im politischen Raum sollte es darum eigentlich
nicht geben, aber bei Mitgliedern der Landesarbeitsgemeinschaft Bildung der
Grünen schrillten die Alarmglocken.
Denn unter Paragraf 1, Absatz 6 heißt es, die Förderzentren könnten für
Schüler mit „Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung“ künft…
„temporäre intensivpädagogische Maßnahmen“, kurz Tip, einrichten. Nach
einer Entscheidung der Schulaufsicht wechsle das Kind von der
allgemeinbildenden Schule zeitlich begrenzt ans Förderzentrum.
## Kinderschutzbund: Grundsatz der Inklusion muss bleiben
Die GEW Schleswig-Holstein zum Beispiel lehnt das in ihrer Stellungnahme
ab. Es sei nötig, solche Maßnahmen zeitlich „klar zu befristen“. Zudem sei
nicht nachvollziehbar, warum das Kind mit dem Förderzentrum ein
Schulverhältnis begründen solle. Pädagogisch sinnvoller wäre ein Verbleib
an der Schule. „Wir wollen nicht dahin zurück, dass diese Schüler in
Förderzentren beschult werden“, sagt die GEW-Vorsitzende Astrid Henke. Aus
Hamburg, wo es solche temporären Lerngruppen seit Jahren gibt, höre man,
dass die Schüler schwer zurückkommen.
Zeitweises Lernen an einem anderen Ort könne für bestimmte Schüler angesagt
sein, sagt Werner Klein vom Vorstand des Kinderschutzbunds. „Aber warum
muss das an den Förderschulen stattfinden?“ Es müsste sicher sein, dass die
Kinder nicht ausgegliedert werden und der Grundsatz der Inklusion gewahrt
wird. Angesichts der Folgeprobleme sollten diese Programme an den Schulen
angeboten werden.
Sabine Boeddinghaus, Schulpolitikerin der Linken in Hamburg sagt, die
temporären Lerngruppen an den dortigen Förderzentren seien kein gelungenes
Modell und keine Inklusion, „aber leider Realität“. Wenn Karin Prien das
jetzt in Schleswig-Holstein kopiere, heiße sie das nicht gut. „Wenn du als
Lehrer weißt, dass du diese Karte ziehen kannst, ziehst du sie viel
schneller“, warnt sie.
Martin Habersaat, Schulpolitiker der SPD-Landtagsfraktion, sagt gar, „die
Bildungsministerin möchte das Rad zurückdrehen“. Prien verfahre nach dem
Modell: „Wer sich auffällig verhält, kommt in eine Sondergruppe“. Auch er
fände es besser, mit Ressourcen ausgestattete intensivpädagogische
Maßnahmen an den Schulen zu haben, und dort den Kindern zu helfen.
## SPD: Zu frühes Aufdrücken von Stempeln
Kritisch sieht Habersaat auch einen zweiten Punkt. Künftig soll das
Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs
regelhaft zum Ende der zweiten Klasse eingeleitet werden. „Das ist das
regelhafte Aufdrücken von,Stempeln', von dem wir eigentlich wegkommen
wollten“, sagt der Lehrer. Auch widerspreche dies dem Gedanken des
Schulgesetzes. „Bisher sollte ein Förderbedarf frühestens zu diesem
Zeitpunkt festgestellt werden“, sagt Habersaat und spricht von einem
„Paradigmenwechsel“, der nicht vom Koalitionsvertrag gedeckt sei. „Ich
hoffe, dass die Koalitionsfraktionen das noch stoppen.“
Auch die GEW und der Kinderschutzbund kritisieren dies. In Schleswig
Holstein habe sich zur Förderung der „im weitesten Sinne gefährdeten
Kinder“ eine präventive Förderung unabhängig von der individuellen
Bedarfsfeststellungen als besonders wirksam herausgestellt, sagt Werner
Klein. Diese Praxis könnte durch die Novelle gefährdet werden. Nötig sei
dagegen, mehr „systemisch orientierte Ressourcen“ zuzuweisen, besonders um
benachteiligten Kindern zu helfen.
## Gespräche im parlamentarischen Raum
An sich sollte die Novelle noch in den Ferien am 1. August in Kraft treten,
weil die Vorgänger-Verordnung ausläuft. Die grüne Schulpolitikerin Ines
Strehlau sagt, ihr sei der Entwurf erst kurzfristig vorgelegt worden. „Wir
Grünen haben dazu deutlichen Beratungsbedarf“, sagt sie. „Die Zeit werden
wir uns nehmen müssen.“ Man könne den alten Erlass dafür verlängern.
Sinnvoll wäre, bei so einem wichtigen Thema einen Konsens hinzubekommen,
etwa auf einer Fachtagung. Denn es wäre schlecht, sagt Strehlau, „mit jeder
neuen Regierung Konzepte wieder umzuschreiben“.
Im Bildungsministerium in Kiel scheint die Kritik angekommen zu sein.
Sprecher David Ermes konnte am Freitag der taz weder inhaltliche Fragen
beantworten noch, ob die Verordnung am 1. August in Kraft tritt. Derzeit
gebe es noch „Gespräche im parlamentarischen Raum“. Denen könne er durch
eine Antwort „nicht vorgreifen“.
22 Jun 2020
## LINKS
[1] /Jamaika-Koalition-in-Schleswig-Holstein/!5418380/
## AUTOREN
Kaija Kutter
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vor. Mit-Autor war Ex-Staatsrat Ulrich Vieluf.
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