| # taz.de -- Sorgerechtsentzug nach Schulproblemen: Familie in Bedrängnis | |
| > Ein Ehepaar aus Bad Schwartau verlor wegen Schulproblemen das Sorgerecht | |
| > für den ältesten Sohn und fürchtet, dass das beim jüngsten wieder | |
| > passiert. | |
| Bild: Das Ehepaar Cicek möchte das Sorgerecht für ihren Sohn zurück | |
| Bad Schwartau taz | Erst mal gibt es Torte, mit Schokolade, Sahne und | |
| zwischendrin Banane. Dilaver Cicek hat sie gebacken. Die Mutter feiert | |
| ihren 44. Geburtstag. Deshalb durfte Baran* (16) aus dem Internat zu Besuch | |
| kommen. Sein Bruder Agit* (10) sitzt eine Weile mit auf der Bank, dann | |
| langweilt er sich und geht aufs Zimmer. In der Regalwand hinter Vater Acil | |
| Cicek stehen dutzende Aktenordner: Anwaltspost, Gerichtsbriefe. Die Familie | |
| hat viele Probleme. „Wir sind in einem Teufelskreis“, sagt der Vater. | |
| Die Tochter kommt in den Essflur der Wohnung, trägt liebevoll ihre | |
| schwarz-weiße Katze auf dem Arm. Angeblich soll sie sie neulich aus dem | |
| Fenster gehalten haben. Nachbarn der Sozialsiedlung von Bad Schwartau | |
| meldeten dies dem Ordnungsamt, das Amt schickte einen bösen Brief. Darüber | |
| können sie fast noch lachen. | |
| Weniger lustig ist das Handy-Video, das Mutter Dilaver an der Haustür | |
| aufnahm: Ein Pulk von aufgebrachten Nachbarn steht im Treppenflur. | |
| Angeblich soll Agit draußen auf dem Spielplatz ein Tier getötet haben. Der | |
| Sohn sei Autist, den dürfte die Mutter nicht frei rumlaufen lassen, | |
| schimpft eine Frau. „Der Junge hat Angst vor den anderen Kindern auf dem | |
| Spielplatz, sie lauern ihm auf und ärgern ihn“, berichtet der Vater. | |
| Der 57-Jährige war Lehrer in der Türkei, wo er als Kurde politisch verfolgt | |
| wurde. 1988 floh er nach Deutschland, gründete mit Dilaver eine Familie, | |
| und arbeitete bis vor Kurzem als Sozialarbeiter. Er spricht kurdisch, | |
| türkisch und deutsch mit Akzent. | |
| ## Drei Stunden Schulweg mit Bus und Bahn | |
| Die Probleme zeichneten sich für ihn schon 2007 ab, als der älteste Sohn | |
| einen Kita-Platz brauchte. Es gebe zu wenig Plätze, hörte er vom Amt in | |
| Plön. Man könnte Baran aber aufgrund seines Migrationshintergrundes als | |
| „Integrationskind“ einstufen. Schon diesen Blick auf die Kinder fand Acil | |
| Cicek diskriminierend. | |
| Sein Sohn konnte dann in mehreren Schulen nicht Fuß fassen, wurde gemobbt, | |
| war Außenseiter, er selber sagt „Klassenclown“, lernte zu wenig trotz | |
| Begabung. Er flog vom Gymnasium, musste dann morgens drei Stunden mit Bus | |
| und Bahn zur Gemeinschaftsschule nach Neustadt fahren. Er galt als | |
| verhaltensauffällig. Der Vater sagt, Baran sei oft zu unrecht beschuldigt | |
| worden. Er stand zu ihm. | |
| Im August 2017 dann der Schock. Das Gericht entzieht den Eltern das | |
| Sorgerecht für den Ältesten. Grundlage ist ein Gutachten. Ein Psychiater | |
| schrieb, die Erziehungsfähigkeit des Vaters sei eingeschränkt durch die | |
| Vorstellung, er und sein Sohn seien Opfer des Systems. | |
| Cicek sagt, der Sorgerechtsentzug habe ihm gesellschaftlich das Genick | |
| gebrochen. Danach habe er seine Arbeit verloren. Ein Vorwurf der | |
| Kindeswohlgefährdung sei ein „Stempel“. Heute ist er hoch verschuldet, | |
| findet weder eine neue Wohnung mit netteren Nachbarn noch einen Anwalt und | |
| glaubt, dass das kein Zufall ist. | |
| Ein Professor, dem er das Gutachten vorlegte, nannte dies einseitig, | |
| unlogisch und ungenau. Und eine Psychologin, die Baran gut kannte, | |
| kritisiert, die Ursachen für die Schulschwierigkeiten seien vom Jugendamt | |
| immer in der Familie gesucht worden und weniger „in verpassten | |
| Gelegenheiten der Schule, adäquate Hilfe zu leisten“. Sie vermutete, dass | |
| der Junge Asperger-Autismus hat, eine Störung, die nahezu unabhängig vom | |
| Erziehungsstil der Eltern besteht. | |
| Die Autorin unterhält sich mit Baran allein im Kinderzimmer. Er sagt den | |
| traurigen Satz: „Ich gehöre ja jetzt dem Jugendamt.“ Er findet das schlimm | |
| und sagt, er rede nicht mit denen. Zum Beispiel wurde ihm von seiner | |
| Vormündin an einigen Wochenenden untersagt, vom Internat nach Hause zu | |
| fahren, obwohl er dort seine Familie und seine Freunde hat. Rein schulisch | |
| läuft es dort gut. | |
| Die Idee mit dem Internat hatten seine Eltern schon früh. Seit dem | |
| Sorgerechtsentzug ist es die Maßnahme, die das Jugendamt für ihn bezahlt. | |
| Doch er fühlt sich da wie in einer Sonderrolle, wie ein „Gefangener“. Er | |
| werde immer weiter gegen den Sorgerechtsentzug klagen. | |
| Ganz hart traf es die Ciceks, als Agit eingeschult wurde. Schon drei Wochen | |
| später bekam er eine Schulbegleitung, die aber häufig krank war, so dass er | |
| kaum hin konnte. Ein halbes Jahr später musste Agit die Grundschule | |
| verlassen und sollte fortan an einem „Förderzentrum“ mit Schwerpunkt | |
| „geistige Entwicklung“ lernen. | |
| Grundlage war ein Gutachten, dass ohne Zustimmung der Eltern erstellt | |
| wurde. Sie legten Widerspruch ein, gingen dagegen gerichtlich vor, bislang | |
| ohne Erfolg. Die Ciceks sind überzeugt, dass ihr Jüngster keine geistige | |
| Behinderung hat, sondern ähnlich wie der Bruder eine Störung im | |
| Autismusspektrum. „Das war eine komplette Fehldiagnose“, sagt Acil Cicek. | |
| Die Eltern hatten den Jungen, der damals kaum sprach, bereits vor der | |
| Einschulung zu einer Untersuchung ins Sozialpädiatrische Zentrum | |
| Pelzerhaken gebracht, die 2018 in der Uniklinik Eppendorf (UKE) | |
| abgeschlossen wurde. Auf Basis dieser Berichte und eigener Beobachtungen | |
| erkannte das Institut für Qualitätsentwicklung in Schleswig-Holstein | |
| (IQ-SH) im März den Förderschwerpunkt Autismus an. Er könne mit einem | |
| eignen Förderplan inklusiv unterrichtet werden. | |
| Die Eltern beantragten, den Jungen wieder an seine alte Klasse zu schicken. | |
| Denn er fühlt sich an dem Förderzentrum nicht wohl. „Wir bringen ihn jedem | |
| Morgen dort hin. Er bleibt dort nicht lange. Wenn man ihn zwingt, bekommt | |
| er eine Krise“, sagt der Vater. | |
| ## Wieder Post vom Jugendamt | |
| „Um Frieden zu schließen, haben wir von uns aus angeboten, ein neues | |
| Gutachten zu machen“, fährt er fort. Das war auch geplant – bis Anfang Juni | |
| Post vom Jugendamt gekommen sei: Eine Einladung zum Gespräch über eine | |
| „mögliche Kindeswohlgefährdung“. | |
| Das Jugendamt wirft den Eltern vor, dass sie den Jungen wieder mitnehmen, | |
| wenn er nicht im Förderzentrum bleiben will. „Die Kindeseltern wirken hier | |
| nicht erzieherisch, unterstützend oder motivierend auf ihr Kind ein“, teilt | |
| der Landkreis auf taz-Nachfrage mit. Die Sache ist ernst. Sogar ein | |
| Hausbesuch fand schon statt. | |
| Sie könne ihr Kind nicht zwingen, sagt die Mutter. Die Ciceks wissen nicht, | |
| was sie tun sollen. Sie fürchten, dass man ihnen wieder das Sorgerecht | |
| nimmt. Das Schulamt kann im Zweifel über den Schulort bestimmen, so ist in | |
| Schleswig-Holstein die Gesetzeslage. Das Bildungsministerium äußert sich | |
| nicht zum Einzelfall. | |
| Acil Cicek sagt, dass sein Sohn schon etwas lese und schreibe, und auch von | |
| seinem Bruder lerne. Auch spricht er Englisch und Türkisch. Auch handeln | |
| kann er schon. Als die Fotografin kommt, fordert er keck zwei Euro Honorar. | |
| *Name geändert | |
| 26 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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