| # taz.de -- Inklusion in Hamburg: Sebastian hat keine richtige Schule | |
| > Hamburgs Schulbehörde möchte einen autistischen Jungen auf eine | |
| > Stadtteilschule schicken. Dagegen wehren sich die Eltern. Auch sein Arzt | |
| > warnt davor. | |
| Bild: Seit Mai meistens zu Hause mit stundenweisem Einzelunterricht: Sebastian. | |
| HAMBURG taz | Sebastian unterbricht sein Computerspiel, als der Fotograf | |
| kommt. Auf dem Wohnzimmertisch liegen Ordner mit Prozessunterlagen. | |
| Sebastian war vormittags in seinem Zimmer im elterlichen Reihenhaus in | |
| Hamburg-Allermöhe. Er ist krankgeschrieben. Geht es nach der Schulbehörde, | |
| so soll ihn täglich eine Sonderpädagogin zur Stadtteilschule Lohbrügge | |
| bringen. Dort soll er Einzelunterricht erhalten und eigene Pausen haben. | |
| Sogar vom Unterricht in einer Art Wahlkabine war die Rede. | |
| „Unser Kind würde das nicht schaffen“, sagt Mutter Melanie R. „Er wäre … | |
| ein Sonderling und würde von allen Mitschülern beäugt.“ Diese Erfahrung | |
| habe der Junge an seiner alten Stadtteilschule gemacht. Vor einem Jahr | |
| eskalierte dort die Situation. „Schließlich war geplant, dass jeder in der | |
| Klasse Sebastian eine ’blaue Karte‘ zeigt, wenn er sich falsch verhält“, | |
| sagt die Mutter. „Er kam unter enormen Druck und hat nachts mit Erbrechen | |
| und Bauchschmerzen reagiert“. | |
| Der Junge hat Asberger-Autismus. Ihrem Sohn falle es schwer, soziale | |
| Kontakte zu halten, berichtet die Mutter. Er reagiere empfindlich auf | |
| Geräusche und Gerüche, nehme vieles wörtlich, was nicht so gemeint sei. Der | |
| Unterricht an der Stadtteilschule sei „zu sehr durcheinander“ gewesen. Auch | |
| hab es dort viele andere Kinder mit Störungen gegeben. | |
| Der Junge wurde immer häufiger krank, die Eltern waren in Sorge, dass dies | |
| chronisch wird. Schließlich schlug eine Pädagogin vom „Haus- und | |
| Krankenhausunterricht“ (HUK) vor, Sebastian könne doch die Autisten-Klasse | |
| am Brahms-Gymnasium Bramfeld besuchen. Das ist eine ganz besondere Klasse, | |
| in der damals sieben Schüler von fünf Pädagogen und Heiltherapeuten betreut | |
| wurden, aber teilweise auch am allgemeinen Fachunterricht teilnahmen. | |
| „Sebastian war dort am 5. Februar einen Tag zur Probe und fand das toll“, | |
| erinnert sich Melanie R. Dort sei er aufgeblüht. In nur zwei Monaten habe | |
| er einen dicken Ordner durchgearbeitet. „Soviel schaffte er an der alten | |
| Schule nicht in einem Jahr“, sagt sie. Auch seien die Beschwerden | |
| weggegangen. Die Klasse sei für Sebastian wie Therapie gewesen. | |
| „Die Fachkräfte dort kennen sich mit Autisten aus“, ergänzt Vater Sven R. | |
| Die Räume seien übersichtlich gestaltet. Neben einem Gruppentisch habe | |
| jeder Schüler seinen Einzelplatz. | |
| Doch Mitte April musste Sebastian diese Klasse verlassen. Obwohl | |
| Schulbeamte den R.s versicherten, dass die Autistenklasse für den Jungen | |
| pädagogisch sinnvoll ist. Auf oberster Ebene wurde dieser Schulwechsel nie | |
| genehmigt. | |
| Der taz liegen dazu die Gerichts-Beschlüsse vom März vor. Der Junge sei der | |
| Autisten-Klasse nicht zugewiesen worden, heißt es dort. Daran ändere auch | |
| nichts, wenn einzelne Abteilungen der Behörde diesem Wechsel zustimmten. | |
| Denn dieser Wechsel bedeute gleichzeitig einen Wechsel ans Gymnasium und | |
| dafür seien Sebastians frühere Noten zu schlecht. | |
| Nebenher wurde bei diesen Verfahren auch noch der Antrag der Eltern auf | |
| Schulweghilfe verhandelt. Die Eltern sahen sich nicht dauerhaft in der | |
| Lage, ihr Kind die 24 Kilometer weite Strecke zu fahren und beantragten | |
| Hilfe. Die Behörde wies vor Gericht auf die hohen Kosten für Sebastians | |
| Beförderung hin, auf welche dieser als zu 50 Prozent Behinderter einen | |
| Anspruch hat. Über die Schulwegkosten zu entscheiden sei ja nicht mehr | |
| nötig, teilte das Gericht lakonisch mit. | |
| Aber Sebastians Problem ist nicht gelöst. Am 17. April geht er für einen | |
| Tag in die Stadtteilschule Lohbrügge. „Er war jede Stunde mit einem anderen | |
| Lehrer allein und in den Pausen sogar ganz allein“, berichtet die Mutter. | |
| In der Nacht habe er wieder mit Bauchschmerzen und Erbrechen reagiert. | |
| Seit Mai erhält der Junge nur noch stundenweise Einzelunterricht an einem | |
| Regionalen Beratungszentrum in Bergedorf. „Das bringt nichts“, sagt Mutter | |
| Melanie R. „Wir haben bisher keinen einzigen Leistungsnachweis gesehen.“ | |
| Sebastian sei sozial isoliert. Auch mache er sich Sorgen, dass er keinen | |
| Abschluss schafft. „Ich will in die Autistenklasse“, sagt er selbst. Etwas | |
| anderes kann er sich nicht vorstellen. | |
| Der Kinderarzt ließ einen Test durchführen. Der Junge hat ein | |
| „uneinheitliches Leistungsprofil“: Schwächen im Sprachverständnis, | |
| durchschnittliche Werte beim logischen Denken. In Chemie, erinnert sich die | |
| Mutter, schrieb er mal eine eins. Im Mündlichen aber war er nicht gut. Auch | |
| habe er an der Stadtteilschule nicht immer am Fachunterricht teilnehmen | |
| dürfen. | |
| Die Beschulung zu Hause habe die Defizite noch verstärkt, warnt der Arzt. | |
| Er bitte eine „Einzelfallentscheidung“ zu treffen, die dem Jungen die | |
| Bildungsmöglichkeit in einer Autistenklasse ermöglicht und eine | |
| Kindeswohlgefährdung abwendet. | |
| Nächste Woche sprechen die Eltern wieder mit der Schulbehörde. Ein Besuch | |
| der Autisten-Klasse sei nach dem Urteil nicht zu machen, heißt es dort. | |
| Die Grüne Stefanie von Berg kennt weitere Familien, in denen die Behörde | |
| keine guten Lösungen fand. „Es müssten bewährte Konzepte in die Fläche | |
| gehen“, findet sie. Zudem sei das Gesetz inkonsequent. Das Recht auf | |
| Inklusion müsse auch an Gymnasien greifen. | |
| 30 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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