| # taz.de -- Schulsenator Rabe über Inklusion: "Diese Forderung ist maßlos" | |
| > Heute würden Kinder als förderbedürftig eingestuft, die früher ganz | |
| > normal zur Schule gingen, sagt Schulsenator Ties Rabe. Hamburgs | |
| > Ressourcen-Modell sei vorbildlich. | |
| Bild: Man muss mit dem Etikett "Inklusion" redlich umgehen, findet Schulsenator… | |
| taz: Herr Rabe, Sie stellen die Inklusion auf neue Beine. Im neuen | |
| Schuljahr gibt es für Kinder mit Förderbedarf im Bereich Lernen, Sprache | |
| und Emotionale Entwicklung (LSE) eine Pauschale, die sich nach sozialer | |
| Lage der Schule richtet. Sind die Kinder damit gut versorgt? | |
| Ties Rabe: Die Schulen bekommen so viel Personal wie noch nie für die | |
| Inklusion. Zu den 50 bis 60 zusätzlichen Stellen der Vorgängerregierung | |
| habe ich weitere 120 Sozialpädagogenstellen geschaffen. Wir haben eine | |
| Ausstattung, nach der sich andere Länder sehnen. | |
| Die Stadtteilschulen haben Sorgen. Es gibt Schulen mit 20 Prozent und mehr | |
| LSE-Kindern, denen aber nach Ihrem Modell nur für acht oder fünf Prozent | |
| Personalstunden zusteht. Sind die Kinder gut versorgt? | |
| Wir führen ein anderes System der Ressourcenzuteilung ein, das die | |
| Personalzuteilung nicht mehr dem Zufall überlässt. Das haben | |
| Wissenschaftler bereits für Bremen und NRW empfohlen. Wir gehen dabei von | |
| höheren Bedarfswerten aus als alle anderen Bundesländer. Warum das nicht | |
| reichen soll, verstehe ich nicht. Schleswig-Holstein macht Inklusion mit | |
| der Hälfte. | |
| Wichtig ist, was in den Klassen ankommt. Was soll ein Schulleiter tun, der | |
| 20 Prozent LSE-Kinder hat, aber nur für die Hälfte Ressourcen bekommt? | |
| Schulleiter und Behörde sollten zunächst einmal die Zahl der Kinder | |
| sorgfältig prüfen. Verlässliche Daten zeigen, dass viele Fünftklässler | |
| heute nur deshalb als förderbedürftig gelten, weil sich die Maßstäbe | |
| geändert haben. Vor drei Jahren, vor Inkrafttreten des Rechts auf | |
| Inklusion, wären mehr als die Hälfte dieser Kinder ohne zusätzliche | |
| Förderung in jeder allgemeinen Schule unterrichtet worden. Deshalb müssen | |
| wir die Zahlen prüfen. Wenn es an einzelnen Schulen zu Unwuchten bei der | |
| Personalzuweisung kommt, klären wir das. | |
| Der Schulleiter hat sich das nicht ausgedacht. Die Grundschullehrer haben | |
| den Bedarf attestiert. Also Pädagogen, die diese Kinder vier Jahre kennen. | |
| Die gleichen Pädagogen, die zehn Jahre lang Kinder mit den gleichen | |
| Fähigkeiten beurteilt haben, ohne solche Diagnosen auszusprechen. Das ist | |
| einfach nachzuweisen: Die Sonderschulen schrumpfen. Das haben wir erwartet. | |
| Aber für jeden Schüler, den die Sonderschulen an die allgemeinen Schulen | |
| abgeben, melden diese mehr als zwei neue Schüler mit sonderpädagogischem | |
| Förderbedarf. Das liegt daran, weil jetzt auch solche Kinder als | |
| sonderpädagogisch förderbedürftig eingestuft wurden, die vor drei Jahren | |
| nicht als förderbedürftig galten. | |
| Früher hatten Lehrer mehr Hemmungen, dies zu tun. Weil die Kinder auf die | |
| Sonderschule mussten. Das ist plausibel. | |
| Aber plausibel ist auch, dass diese Schüler früher ohne zusätzliche | |
| Fördermittel ganz normal im Regelunterricht beschult wurden. Das ging zehn | |
| Jahre gut und soll plötzlich nicht mehr gehen? | |
| Es ging nicht gut. Schauen Sie sich die Zahlen der Schüler ohne Abschluss | |
| an. | |
| Die werden seit Jahren besser. Inklusion öffnet Schülern, die früher zur | |
| Sonderschule geschickt wurden, den Weg in die allgemeinen Schulen. Diese | |
| Schüler müssen und wollen wir fördern. Es geht aber im Rahmen der Inklusion | |
| nicht auch noch darum, weitere Förderung für Schüler an der Regelschule zu | |
| ermöglichen. Das ist zwar wünschenswert, aber hat nichts mit Inklusion zu | |
| tun. Hier wird „sonderpädagogischer Förderbedarf“ mit „Förderbedarf“ | |
| verwechselt. Man muss mit dem Etikett „Inklusion“ redlich umgehen. | |
| Was passiert ganz konkret im Klassenzimmer? Müssen Kinder, die zufällig an | |
| einer Schule in besserer sozialer Lage sind, auf Förderung verzichten? | |
| Nein. Wir werden aber zunächst überprüfen, ob die Schüler, die uns gemeldet | |
| sind, wirklich sonderpädagogischen Förderbedarf haben. Diese Prüfung wollen | |
| wir jetzt einleiten. | |
| Jetzt erst? Das haben Sie schon vor Wochen angekündigt. | |
| Daran arbeiten wir. | |
| Die Kinder werden alle noch mal angeguckt? | |
| Wir sind dabei, das mit den Grund- und Stadtteilschulen zu klären. Wenn wir | |
| das sauber geprüft haben, können wir nachsteuern. Ein Beispiel: Wir haben | |
| unter anderem zwei Stadtteilschulen in sozial privilegierten Stadtteilen, | |
| die gegen alle Erwartungen mehr Förderkinder angemeldet haben als zwei | |
| andere Stadtteilschulen in sozialen Brennpunkten. Hier gilt es, die Zahlen | |
| zu überprüfen. | |
| Selbst für Schulen in Brennpunkten ist Ihr Modell knapp. Bei vier | |
| LSE-Kindern in der Klasse käme für 14 Stunden die Wochen eine zweite Kraft. | |
| Wird man so den Kindern gerecht? | |
| Ja. Das ist mehr als jedes andere Bundesland bereitstellt, und Hamburgs | |
| Lehrerinnen und Lehrer sind bestimmt nicht schlechter als die in | |
| Schleswig-Holstein, Berlin oder Brandenburg. | |
| In der Anhörung im Schulausschuss sagten die Lehrer, sie brauchen | |
| durchgehend eine Doppelbesetzung, um in Inklusionsklassen | |
| verantwortungsvoll zu arbeiten. So wie in den alten Integrationsklassen. | |
| Wenn ich das ernst nehmen würde, müssten alle Schulklassen in Hamburgs | |
| Grund- und Stadtteilschulen zwei Lehrer im Klassenraum haben. Diese | |
| Forderung ist maßlos und hat mitr gelungener Inklusion nichts zu tun. | |
| Sie haben noch mehr Konfliktherde. Auch im Fall des Zentralabiturs in allen | |
| Einzelfächern haben jetzt Schulleiter gewarnt, Sie brächten damit die | |
| Profiloberstufe in Gefahr. | |
| Das ist nicht nachzuvollziehen. Profiloberstufe und Zentralabitur sind kein | |
| Widerspruch, das sieht man auch in Nachbarländern wie Niedersachsen. | |
| Aber die Lehrer sehen hier ihre wertvolle Konzeptarbeit gefährdet. Agiert | |
| der Schulsenator Rabe in einer Weise, über die sich der Lehrer Rabe | |
| kürzlich noch geärgert hätte? | |
| Nein, ganz und gar nicht. Da bin ich sogar sehr konsequent. Dass, was mir | |
| als Lehrer aufgefallen ist, und worüber ich viel nachgedacht habe, das | |
| prägt auch mein schulpolitisches Handeln. | |
| 18 May 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
| ## TAGS | |
| Inklusion | |
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