# taz.de -- taz-Serie Inklusion (7): „Behindert, aber nicht nur“ | |
> Darf man „behinderte Menschen“ so nennen? Ja, meint die Soziologin Lisa | |
> Pfahl. Ein unverkrampftes Miteinander lernt man am besten schon als Kind. | |
Bild: Die Umstände, in denen ein Mensch aufwächst und lebt, bestimmen jeweils… | |
Lisa Pfahl erforscht an der Berliner Humboldt Universität die Soziologie | |
der Behinderung. Auf dem Weg zu ihrem Büro überquert eine Schulklasse die | |
Straße. Ein paar der Jugendlichen gehen selbst, andere werden in | |
Rollstühlen geschoben. Einer rennt wild gestikulierend zurück, wird von | |
einem Betreuer wieder eingefangen. Eine alltägliche Szene: Menschen mit | |
Behinderung trifft man häufig in Gruppen und unter ihresgleichen. | |
taz: Frau Pfahl, wo bleibt die viel zitierte Inklusion im Alltag? Begegnen | |
Ihnen Menschen mit Behinderung auch oft in homogenen Grüppchen? | |
Lisa Pfahl: Ja, klar, das sehe auch ich. Wer mit offenen Augen durch die | |
Welt geht, sieht, dass Menschen mit Behinderung in Gruppen regelrecht | |
„ausgeführt“ werden. Man trifft behinderte Menschen dann oft auch | |
kategorisiert: Zum Beispiel eine Gruppe von Menschen, die schwerbehindert | |
ist, alle im Rollstuhl, alle von einer Assistenzperson begleitet. Ich | |
denke, es ist schon wichtig, dass man behinderten Menschen zugesteht, sich | |
auch mit Personen zu treffen, die in einem Punkt ihre Lebenserfahrung | |
teilen – aber in der Häufigkeit, wie wir das sehen, halte ich das für nicht | |
normal. | |
Sie kennen es anders. | |
Ich selbst bin mit fünf behinderten Pflegegeschwistern aufgewachsen. Einmal | |
im Jahr gab es ein großes Pflegefamilientreffen. Diese Treffen fanden an | |
barrierefreien Orten statt, von denen es in den 1980er Jahren noch nicht | |
viele gab. In der Jugendherberge, in der wir uns trafen, waren gleichzeitig | |
auch Behindertengruppen untergebracht. Ich fand es schon als Jugendliche | |
seltsam, auf diese Gruppen zu treffen. Es war eine Erfahrung der | |
Sonderwelten. | |
Wieso ist es so schwierig, diese Sonderwelten aufzulösen? | |
Die meisten Leute meiner Generation wurden in Kindergarten und Schule | |
segregiert und haben nicht mit Kindern mit Behinderungen gespielt und | |
gelernt. | |
Die Menschen haben deshalb Vorbehalte? | |
Ich denke, es ist oft eine grundlegende Unsicherheit im Umgang miteinander, | |
die die Leute davon abhält, in Alltagssituationen ihre Hilfsbereitschaft | |
ohne große Betroffenheit anzubieten. Aus anderen Ländern wissen wir, wenn | |
frühe Bildung und Bildung inklusiv organisiert sind, ist die Bereitschaft | |
von Personen im Arbeitsleben, sei es als Vorgesetzte, sei es als Kollegen, | |
sehr viel größer, mit Menschen mit Behinderung zusammenzuarbeiten. Wenn man | |
historisch guckt, haben wir viele Gelegenheiten verpasst, | |
Sonderinstitutionen wie Sonderschulen, Werkstätten und Heime aufzulösen. | |
Welche meinen Sie? | |
Wir haben die ganze Wende von 1989 verpasst. Die Auflösung der DDR, bei der | |
bestimmte Integrationsformen – mit allen Nachteilen, die sie für sich | |
hatten – nicht integriert wurden in die bundesrepublikanische Gesetzgebung. | |
Für Menschen mit Beeinträchtigungen gab es eine Rente, die unabhängig war | |
vom Einkommen. Es gab eine Arbeitsplatzintegration. Es gab Formen von | |
Inklusion, die wir im Augenblick der staatlichen Vereinigung einfach | |
weggewischt haben. | |
Wie definiert man eigentlich „Behinderung“? Ab wann gilt ein Mensch als | |
behindert? | |
Nach der UN-Behindertenrechtskonvention zählen zu den behinderten Menschen | |
diejenigen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder | |
Sinnesbeeinträchtigungen haben, die in Wechselwirksamkeit mit verschiedenen | |
Barrieren ihre gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft behindern | |
können. Die Umstände, in denen ein Mensch aufwächst und lebt, bestimmen | |
also jeweils mit, was als Behinderung gilt und was nicht. Nach dieser | |
neuen, auf einem sozialen Modell von Behinderung beruhenden Definition muss | |
eigentlich kontinuierlich geklärt werden, wer wo und wie behindert wird. | |
Nicht nur im Umgang mit behinderten Menschen gibt es Unsicherheiten, auch | |
in der Sprache. Wie heißt es korrekt? Menschen mit Behinderung? Menschen | |
mit Förderbedarf? Menschen mit Besonderheiten? | |
Eine korrekte Sprechweise gibt es nicht. Aber ich finde es wichtig, die | |
Selbstbezeichnung von Menschen mit Behinderungen zu akzeptieren, und die | |
ist zurzeit „Disabled People“, also „behinderte Menschen“. Ich sage das | |
auch, denn ich finde: Ein Adjektiv vor dem Substantiv Mensch heißt, dieser | |
Mensch ist auch behindert, aber nicht nur. Bei Kindern und Jugendlichen | |
finde ich den englischen Begriff „Special Needs“ überzeugend, also „Kind… | |
und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen“. | |
„Behindert“ wird heute noch immer als Schimpfwort verwendet. | |
Ja, das kenne ich auch von meinem 13-jährigen Sohn. Der sagt auch „voll | |
behindert“, wenn ihn etwas stört. Wir haben uns jetzt auf „Ey, das ist | |
behindernd“ geeinigt. Finde ich viel cooler – und er zum Glück auch. | |
Ergeben sich aus sprachlichen Veränderungen auch Verbesserungen im Umgang | |
mit behinderten Menschen? | |
Leider verändert sich der soziale Umgang mit behinderten Menschen nur sehr | |
langsam. Sichtbar behinderte Personen werden entweder mit Mitleid überhäuft | |
oder aber ignoriert. Es gibt wenig Selbstverständnis im Umgang. | |
Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Was | |
hat sich für behinderte Menschen geändert? | |
Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, in allen Lebensbereichen ihre | |
Gesetze mit der UN-Konvention zu harmonisieren, zum Beispiel beim Wohnen, | |
in der Arbeitswelt und in der Bildung. In der Konvention steht, dass für | |
Menschen mit Behinderung gleicher Zugang zu hochwertiger Bildung an | |
allgemeinen Schulen zu gewährleisten ist. Die vielen Landesgesetze fallen | |
aber hinter diesen Standard zurück. | |
Ist Inklusion also nur eine hohle Phrase? | |
Ich halte Inklusion und die UN-Konvention für eine große Chance, darüber | |
auch politisch aktiv zu werden. Natürlich wird das Wort auch ausgehöhlt. | |
Die Frage ist nur: Was haben wir denn sonst!? Da bin ich pragmatische | |
Optimistin und sage: Lasst es uns genau jetzt damit versuchen! | |
SkeptikerInnen behaupten, dass Inklusion ein hübsches Modell für | |
körperbehinderte oder leicht behinderte Menschen ist. Wie gelingt Inklusion | |
und die professionelle Arbeit bei schwerstmehrfachbehinderten Menschen? | |
Ja, das ist eine Herausforderung. Diese Gruppe ist allerdings | |
vergleichsweise klein und sollte nicht gegen Inklusion instrumentalisiert | |
werden. Die Unterstützung von schwerbehinderten Menschen geht oft in | |
pflegerische Aspekte über. Viele therapeutische Angebote beruhen auf dem | |
Dialog, selbst wenn er nicht verbal stattfinden kann. Es gibt ja auch | |
nonverbale oder unterstützende Kommunikation, dafür muss man | |
sensibilisieren. | |
Wie funktioniert dann die Kommunikation? | |
Die Herausforderung in der Kommunikation mit schwerstmehrfachbehinderten | |
Menschen liegt ja nicht darin, die Person zum Kommunizieren zu bringen, | |
sondern selbst vielfältiger zu werden in dem, was ich wahrnehme. Es geht | |
darum, die eigenen Kompetenzen infrage zu stellen und nicht bloß auf die | |
Defizite des anderen zu schauen. | |
Wie hat sich die Selbstwahrnehmung behinderter Menschen in den vergangenen | |
Jahrzehnten verändert? | |
In Anbetracht des schleppenden Umdenkens in der Öffentlichkeit haben | |
behinderte Menschen einen enormen Emanzipationsschub durchlaufen. Ausgehend | |
von der Krüppelbewegung, die in den 1960er und 1970er Jahren ganz gezielt | |
der Mehrheitsgesellschaft ihre abwertenden Bezeichnungen und ihre | |
Mitleidshaltung vorgeführt hat, haben sich behinderte Menschen in einem | |
hartnäckigen, jahrzehntelangen politischen Kampf für ein Leben in Freiheit, | |
Würde und Selbstbestimmung engagiert. Gleichzeitig leben nach wie vor viele | |
Menschen in Heimen und Einrichtungen oder besuchen Sonderschulen. Sie sind | |
daher einer fortwährenden Stigmatisierung ausgesetzt, die ihr Selbstbild | |
prägt. | |
Welchen Beitrag leisten denn Disability Studies zur Akzeptanz von | |
Behinderung? | |
Die Disability Studies sind maßgeblich daran beteiligt zu erforschen, wie | |
Bildungsgerechtigkeit für alle hergestellt werden kann oder wie eine | |
Arbeitswelt gestaltet sein muss, die nicht immer weiter anwachsende Zahlen | |
psychisch behinderter Menschen hervorbringt. Ohne eine eingehende | |
Beschäftigung mit Behinderung in der Forschung werden wir keine Antworten | |
auf drängende Fragen zur zukünftigen Gestaltung einer pluralen, inklusiven | |
und alternden Gesellschaft erhalten. | |
Wie viel Kontakt haben Ihre Studierenden zu Menschen mit Behinderungen? | |
Viele Studierende aus der Rehabilitationspädagogik haben oft schon | |
berufliche Erfahrungen, weil sie neben dem Studium als Assistenz tätig sind | |
oder weil sie schon eine berufliche Ausbildung in dem Feld absolviert | |
haben. Dadurch kennen sie dann den professionellen Blick. In der ersten | |
Sitzung sagen die meisten, dass sie keine familiären oder privaten | |
Erfahrungen mit behinderten Menschen haben. Wenn wir dann darüber sprechen, | |
haben eigentlich alle private Erfahrungen. Wichtig ist mir, dass sie sich | |
in der professionellen Rolle reflektieren. Nur durch ein Studium wird man | |
sicher nicht zum Experten im Umgang mit Menschen mit Behinderung. | |
Wie wird man dann Expertin für behinderte Menschen? | |
Indem man ihnen auf Augenhöhe begegnet. Die Expertise der behinderten | |
Menschen selbst ist immer die größte. Es geht dann darum, Techniken zu | |
erlernen, um an die Expertise zu kommen, an die Experten des Alltags. | |
Nämlich an die Menschen, die die Unterstützung brauchen. Nur sie können | |
formulieren, welche Unterstützung sie brauchen, wie sie gewünscht wird und | |
wie ich als Professionelle agieren soll. | |
Wenn wir zwanzig Jahre vorausschauen, in welcher Gesellschaft leben wir | |
dann? | |
In einer Gesellschaft, in der ich sagen kann: „Ey, du bist ja behindert. | |
Kann ich dir irgendwie helfen?“, und das für die Person in Ordnung ist und | |
es für mich ganz normal ist, das zu fragen. Das wäre doch gut! | |
3 Dec 2014 | |
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