# taz.de -- Bildungsgerechtigkeit in Deutschland: Klassen unter sich | |
> Der Lehrer hatte Marco Maurer die Realschule nicht zugetraut. Nun ist | |
> dieser gefeierter Journalist. Eine Begegnung am Kultusministerium. | |
Bild: Vom Molkereifachmann zum preisgekrönten Journalisten: Marco Maurer. | |
„Du bleibst, was du bist“ steht auf dem Umschlag seines Buches, und Marco | |
Maurer wird am Ende des Gesprächs erzählen, dass er den Verlag überreden | |
wollte, es als Stencil zu gestalten, eine Schablone für Graffiti. Man | |
könnte den Umschlag mit der einen Hand an eine Hauswand pressen, während | |
man mit der anderen auf den Knopf der Spraydose drückt. Dass sein Buch | |
Aktivisten als Vorlage dient, um gegen Bildungsungerechtigkeit zu | |
protestieren, das würde Maurer gefallen. | |
Die Fassade des Hauses gegenüber würde sich eignen, die leuchtet so schön | |
gelb. Bisher ist noch niemand auf die Idee gekommen sie mit Farbbeuteln zu | |
bewerfen. Über dem Torbogen des Eingangs ist eine Steinplatte mit | |
eingravierter Inschrift angebracht: Bayerisches Staatsministerium für | |
Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst. Seit fast 70 Jahren stellt die | |
CSU die Hausherren – mit einer Unterbrechung. „Die können hier schalten und | |
walten, wie sie wollen“, sagt Maurer. | |
Auf Anfrage, ob man sich im Haus irgendwo hinsetzen und reden könne, hatte | |
der Pressesprecher sogar sein Büro angeboten – aber nicht, wenn Herr Maurer | |
das Ministerium nur als Kulisse nutzen wolle. Sein Chef, der Herr Spaenle, | |
habe in den letzten Jahren viel dafür getan, die Durchlässigkeit zu | |
verbessern. | |
Maurer ist überrascht, dass man ihn hier kennt. Aber die Erklärung liegt | |
bei der Pförtnerin aus. Auf der Aufmacherseite des Kulturteils im Münchener | |
Merkur prangt Maurers Bild, daneben ein Interview mit ihm über | |
Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Oder über das Fehlen derselben. In | |
dem Buch „Du bleibst, was du bist“, erzählt der Journalist und Autor Maurer | |
auch seine eigene Geschichte. Es könnte eine Aufstiegsgeschichte sein. Aber | |
es ist vor allem eine Anklage. | |
Der Vorschlag, sich am Kultusministerium zu treffen, kam von ihm selbst, | |
denn dass Ministerium steht für ihn für die Dreiteilung des Schulsystems | |
und die frühe Aufteilung der Kinder nach der vierten Klasse. Dann werden | |
die Schüler auf Gymnasium, Realschule oder Hauptschule, die in Bayern jetzt | |
Mittelschule heißt, sortiert. Angeblich geht das nach Begabung, doch diese | |
Auslese verläufte entlang sozialer Schranken. | |
## „Er wird es nicht schaffen“ | |
Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien studieren 77, während unter 100 | |
Arbeiterkindern nur 23 studieren. Maurer kommt aus einer Arbeiterfamilie. | |
Als sich seine Mutter in der sechsten Klasse von seinem Klassenlehrer über | |
den weiteren Schulweg ihres Sohnes beraten ließ, riet der Lehrer, Marco auf | |
der Hauptschule zu lassen. Realschule, das sei nichts, „er wird es nicht | |
schaffen.“ Ein Schlüsselsatz für Maurer, eine mühsam verwundene Kränkung, | |
so früh abgestempelt zu werden. | |
Wir entscheiden uns dann doch für das Literaturhaus direkt gegenüber dem | |
Haus des Kultusministeriums. Maurer fällt unter den Gästen nicht auf mit | |
seiner beigefarbenen Hose und dem dunklen Pullover, unter dem die | |
Aufschläge eines gestreiften Hemdes hervorlugen. „Ich bin nicht immer so | |
gekleidet“, sagt er – eine Rechtfertigung weswegen? | |
Er wird sich im Verlauf des Gesprächs noch öfter rechtfertigen. Für einen | |
Mann, der mit 35 Jahren mehrere Journalistenpreise gewonnen hat und dessen | |
Buch von der Süddeutschen Zeitung positiv besprochen wurde, ist das | |
erstaunlich wenig lässig. Doch Maurer ist in Verteidigungshaltung. Sein | |
Buch ist seit Anfang April auf dem Markt und zur Kritik freigegeben: 384 | |
Seiten, fast 100 Interviews, zwei Bananenkisten voller Notizbücher, drei | |
Jahre Arbeit. „Da wirst du kirre“, sagt er, lacht und streicht mit einer | |
schnellen Bewegung durch die braunen Haare, verstrubbelt sieht er jetzt | |
aus. | |
Seine Mutter schneidet ihm die Haare, wenn er sie alle paar Wochen in der | |
Provinz besucht. Sie ist gelernte Friseurin, sein Vater hat als Kaminkehrer | |
gearbeitet. Marco Maurer selbst wollte, seit er zehn ist, Journalist | |
werden, aber auch während seiner Zeit auf der Realschule meinte ein | |
Berufsberater zu ihm: „Herr Maurer, fangen Sie nicht an zu träumen.“ | |
## Vom Molkereifachmann zum Bildungsbürger | |
Er wurde Molkereifachmann. Zunächst. Dann machte er auf dem zweiten | |
Bildungsweg Abitur am Bayernkolleg, studierte Germanistik, bestand die | |
Zulassungsprüfung für die Münchener Journalistenschule, und heute arbeitet | |
er als freier Mitarbeiter unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und für | |
die Zeit. Noch bildungsbürgerlicher geht nicht. | |
Zeigt das nicht, dass das Schulsystem trotz allem Türen und Wege offen | |
hält? Dass man es schaffen kann, aus dem qua Geburt vorgegebenen Milieu | |
auszubrechen? | |
Maurer, der sich sonst Zeit nimmt, über Antworten nachzudenken, antwortet | |
rasch. Ja, aber er selbst und viele andere, die wie er aus | |
nichtakademischen Elternhäusern kommen und die er für sein Buch | |
interviewte, hätten es als schwer empfunden. Als zu schwer. Weil es eben | |
nicht ausreicht, intelligent und ehrgeizig zu sein. Man braucht Netzwerke | |
und ein finanzielles Polster, um in bestimmte Berufe zu gelangen. Und | |
Menschen, die erkennen, dass man begabt ist, die einen fördern. „Der Zufall | |
spielt leider eine entscheidende Rolle beim sogenannten Bildungsaufstieg.“ | |
Der Journalismus ist ein gutes Beispiel. Maurer zitiert eine Studie: | |
Journalisten kommen zu über 90 Prozent aus der Mittel- und Oberschicht. Die | |
meisten Journalisten verdienen sich ihre ersten Meriten in unbezahlten | |
Praktika. „Journalismus muss man sich leisten können“, zitiert er einen | |
taz-Journalisten. Und was die taz und andere Zeitungen da machen, wenn sie | |
ihre Praktikanten ohne angemessenes Honorar auf Recherche schickten, könne | |
er nicht gutheißen. | |
## Arbeiter und Studenten | |
In anderen Berufen ist das ähnlich. Nur jeder neunte Professor hat einen | |
nichtakademischen Hintergrund, zitiert er eine weitere Studie. Maurer hat | |
viele Zahlen im Kopf. Die Zahlen geben ihm Gewissheit und sie bestätigen | |
ihn in dem Gefühl: trotz des Geredes über Chancengerechtigkeit, | |
Durchlässigkeit und Aufstieg durch Bildung – soziale Barrieren bleiben. | |
Dafür sorgen auch die Schrankenwärter im Haus gegenüber. „Nicht wenige der | |
Kinder, die heute durch das dreigliedrige Schulsystem gehen, werden leider | |
über die Hauptschule nicht hinauskommen.“ | |
Eine Kernszene des Buches ist eine Party, die er gab, als er das Abitur | |
nachholte. Seine neuen Freunde vom Studienkolleg und seine alten aus der | |
Ausbildung hatte er eingeladen. „Das waren zwei Gruppen, die sich eher | |
sprachlos gegenüberstanden. Die einen haben mit sich gesprochen und die | |
anderen mit sich und ich habe versucht, das Bindeglied zu sein. Hat nicht | |
so funktioniert.“ Er würde diese Party gern noch einmal wiederholen. „Aber | |
keine Ahnung, ob es dann klappt.“ | |
Jeder bleibt in seinem Milieu. Er selbst bemühe sich, die Schranken | |
zwischen seiner neuen und seiner alten Welt niedrig zu halten. „Ich habe | |
auch gar keine Mühe mich an einen Stammtisch zu setzen.“ In | |
München-Giesing, wo er wohnt, geht er zum Fußballgucken in den Pilshahn. | |
„Dort treffen die alten Arbeiter auf Studenten. Ich fühle mich dort sehr | |
wohl, schaue Fußball und esse Schnitzel.“ | |
Auch der Kontakt zu seinen alten Freunden sei nie abgebrochen ist. Nur | |
momentan sieht man sich wenig, er ist viel unterwegs. Neben dem Tisch steht | |
ein Rollkoffer, Maurer ist gerade aus Zürich gekommen. Er ist viel auf | |
Lesereise, gibt Interviews. Sein Buch hat einen Nerv getroffen. | |
## Momente der Entfremdung | |
In dem Buch schreibt er, dass es heute manchmal Momente gebe, in denen er | |
sich in der Familie seiner Partnerin – ihr Vater ist Klinikchef, ihre | |
Mutter Paartherapeutin – heimischer fühle als in seiner eigenen, und dass | |
ihn diese Erkenntnis der Entfremdung traurig mache. | |
Im Gespräch erzählt er davon nichts. Er gibt überhaupt wenig preis, aber | |
das ist eher typisch für Journalisten – sie wissen, was man aus einem | |
hingeworfenen Satz machen kann, wie man ihn aufbläht oder schrumpfen lässt. | |
Aber dann ist er doch wieder kein typischer Journalist. Er will etwas | |
verändern. Flächendeckend müssten Gemeinschaftsschulen eingeführt werden, | |
ein Umdenken müsse stattfinden, sagt er mit ernster Miene. „Vielleicht | |
bewirkt mein Buch ja was. Ist vielleicht naiv und größenwahnsinnig. Aber | |
für diesen Größenwahn würde ich mich gern kritisieren lassen.“ | |
3 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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