# taz.de -- Bildungsaufsteiger klagt an: Die Schranken-Gesellschaft | |
> Das Thema scheint verstaubt, Marco Maurer bearbeitet es dennoch. Er | |
> veröffentlicht ein Buch über fehlende Bildungsgerechtigkeit in | |
> Deutschland. | |
Bild: Schüler vor der Rütli-Schule in Berlin. | |
Der Journalist Marco Maurer war schon über 30, als ihm aufging, dass er | |
besonders ist. Da las er in der Süddeutschen Zeitung, wer eigentlich | |
studiert. Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien gehen 77 an die | |
Hochschulen, während es von 100 Arbeiterkindern nur 23 schaffen. Maurer ist | |
so ein Arbeiterkind, auch wenn er den Begriff grässlich und gestrig findet. | |
Die Zeit mochte ihn und veröffentlichte vor zwei Jahren einen langen Text | |
von Maurer: „Ich Arbeiterkind“. Der hat seitdem weiter recherchiert hat und | |
nun ein Buch zum Thema Chancengleichheit geschrieben: „Du bleibst, was du | |
bist“. | |
In Maurers Fall stimmt das nicht wirklich, denn der Sohn einer Friseurin | |
und eines Kaminkehrers machte auf dem zweiten Bildungsweg Abitur, | |
studierte, besuchte die Münchner Journalistenschule und schreibt heute für | |
Leitmedien des linken Bildungsbürgertums. Er hätte also eine | |
Aufsteigergeschichte schreiben können, zumal er für sein Buch zahlreiche | |
Menschen mit ähnlicher Bildungsbiografie getroffen und interviewt hat – vom | |
slowakischen Einwandererkind Jacek Cerny, das Arzt wird, bis zu Bahnchef | |
Rüdiger Grube. | |
Aber Maurer hat sich für eine Abrechnung entschieden: mit dem | |
Bildungssystem in Deutschland, das die Chancen ungleich verteilt. Und zwar | |
vor allem dadurch, dass in den meisten Bundesländern Kinder nach der | |
vierten Klasse in leistungsstarke und leistungsschwache Schüler eingeteilt | |
und auf Schultypen verteilt werden. Bei dieser vermeintlichen | |
Begabtenauslese landen Kinder aus sozial bessergestellten Familien | |
überproportional häufig auf Gymnasien, während Kinder deren Eltern nicht | |
studiert haben oder wo das Geld im Haushalt knapp ist deutlich seltener | |
eine Gymnasialempfehlung erhalten. Damit werden Weichen für ihre spätere | |
Bildungslaufbahn gestellt und Schranken geschlossen, was Maurer zu der | |
These treibt, „dass sich die Gleise in die Zukunft unserer Gesellschaft | |
immer weiter zu verengen scheinen“. | |
Das bleibt nicht unwidersprochen, der Bildungsjournalist Christian Füller | |
schreibt in seinem Blog [1][pisaversteher.com], dass Maurers Kritik von | |
gestern sei. Als Beleg führt Füller an, dass mittlerweile 60 Prozent eines | |
Jahrgangs studierten. Problem sei heute also nicht mehr die | |
Bildungsungerechtigkeit, sondern die große Zahl übervoller Hörsäle. Das | |
stimmt – auf den ersten Blick. Doch Kindern aus nichtakademischen | |
Elternhäusern reüssieren in der Schule seltener als Akademikerkinder, sie | |
erwerben ihr Abitur häufiger auf dem zweiten Bildungsweg und sind somit | |
auch überproportional an Fachhochschulen repräsentiert. Unter den | |
HochschulprofessorInnen oder Doktoranden sind sie dagegen kaum präsent. | |
All das hat Maurer in seinem Buch herausgearbeitet. Er hat sich durch | |
Studien und Bücher gewühlt, die seine Thesen stützen und widerlegen, er ist | |
kreuz und quer durch Deutschland gereist und sogar – widerwillig – nach | |
Finnland geflogen. | |
## Mit Wollsocken in Finnland | |
Er hat sich drei Tage in eine neunjährige Basisschule für alle mit extra | |
hohem Migrantenanteil (40 bis 70 Prozent) gesetzt, beheimatet in einem | |
extra hässlichen Plattenbauviertel Helsinkis. | |
Und kam mit einer Erkenntnis, einem Wunsch und einer Frage zurück. Maurer | |
erkannte, dass das finnische Schulsystem dafür sorgt, dass Chancen | |
gerechter verteilt werden, weil es sich den Bedürfnissen der Schüler und | |
nicht die Schüler der Schule anpasst. Er formulierte den Wunsch, mit | |
beinharten Verteidigern des ständischen deutschen Schulsystems nach | |
Finnland zu reisen und an der Schule in Helsinki zwei schweigsame Tage zu | |
verbringen: „Alle tragen Wollsocken (wie die finnischen Schüler Anm. d. | |
Red.) und löffeln mittags auf den Kinderstühlen in der Kantine ihren Teller | |
leer.“ Und er stellt sich die Frage: Warum ist es in Finnland politischer | |
Konsens viel in die Schulen zu investieren, während in Deutschland nur | |
darüber geredet wird? | |
Das Kapitel, in dem Maurer das linke Versagen der Bildungspolitik | |
untersucht, gehört zu den aufschlussreichsten, weil er SPD- und | |
Grünenpolitiker mit ihren Wahlversprechen konfrontiert. | |
Das ist unbequem, weil Bildungsgerechtigkeit, wie nicht nur Füller glaubt, | |
gerade kein allzu hippes Thema ist. Hip vielleicht nicht, aber aktuell. | |
Maurer gebührt das Verdienst, diese Tatsache in Erinnerung zu rufen. Er | |
liefert mit seinem Buch zwar keine neuen Erkenntnisse, was zu tun wäre – | |
das ist aber auch nicht seine Aufgabe. Er schaut vielmehr gründlich hin und | |
hinterfragt das angeblich eingelöste Versprechen des Aufstiegs durch | |
Bildung. Eine saubere journalistische Leistung. | |
16 Apr 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://pisaversteher.com | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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