| # taz.de -- taz-Serie Inklusion (6): Wenn Olav rot blinkt | |
| > Gemeinsames Lernen erfordert Selbstdisziplin, feste Rituale und moderne | |
| > Unterrichtsmethoden. Das zeigt ein Besuch in einer Berliner Grundschule. | |
| Bild: Inklusion kann Spaß machen. Wichtig ist aber, dass der Unterricht klar s… | |
| Olav ist der Chef. Ohne Olav läuft nichts, und wenn Olav von Grün auf Rot | |
| umspringt und tutet, werden alle mucksmäuschenstill. Olav ist die | |
| Lärmampel, die mitten im Klassenzimmer steht, den Geräuschpegel automatisch | |
| misst und beim Überschreiten einer bestimmten Marke ein Signal von sich | |
| gibt. Wenn Olav zu oft Rot zeigt, bekommt die Klasse Minuspunkte, und es | |
| wird nichts mit der Lesenacht, die sich alle so wünschen. | |
| Regeln, die jeder begreifen kann, sind die Grundlage für den Unterricht in | |
| der Klasse 4b in der Grundschule an der Geißenweide in Berlin-Marzahn. Hier | |
| lernen 20 SchülerInnen inklusiv, das heißt, „etwa zehn Kinder haben | |
| Förderbedarf“, sagt die 32-jährige Klassenlehrerin Frau P., die ihren | |
| vollen Namen lieber nicht in der Presse haben will. | |
| Diese Kinder leiden unter dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) oder | |
| gelten als lernschwach, haben eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder große | |
| Probleme, stillzusitzen und nicht bei jedem Anlass aufzubrausen. | |
| Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass Kinder mit Handicap | |
| einen Anspruch darauf haben, mit nichtbehinderten Schülern gemeinsam in | |
| einer Regelschule unterrichtet zu werden. In Berlin lernen inzwischen etwa | |
| 60 Prozent der SchülerInnen mit Förderbedarf in Regelschulen, eine im | |
| bundesweiten Vergleich hohe Quote. Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf in Berlin | |
| hat Inklusion bereits weitgehend umgesetzt. | |
| Doch das Thema ist heikel. Es braucht mehrere Anläufe an mehreren Schulen, | |
| um als Journalistin überhaupt an einer inklusiv arbeitenden Regelschule zu | |
| einem Unterrichtsbesuch zugelassen zu werden. Die Angst vor einer negativen | |
| Presse ist offenbar groß. | |
| ## Sonnen-, Mond- und Sternenkinder | |
| In der Klasse 4b ist die Stimmung fröhlich. Es tagt der „Klassenrat“. Die | |
| Kinder sitzen im Kreis auf runden Kissen. Das heißt, Paul* sitzt nicht auf | |
| seinem Kissen, sondern knetet es mit den Händen. Er ist ein unruhiges Kind, | |
| Frau P. lässt ihre rechte Hand die ganze Zeit auf seinem Arm liegen. | |
| Felicitas hat sich ihr Sitzkissen auf den Kopf gestülpt, es ist ein weiches | |
| Kissen, da kann man auch noch was anderes mit machen als nur drauf zu | |
| sitzen. | |
| Der blonde Harry ist unruhig und wiegt den Kopf hin und her. „Du kannst | |
| kurz rausgehen“, sagt Frau P., „nimm dir die Sanduhr mit und komme in ein | |
| paar Minuten wieder.“ Harry greift sich eine große Plastiksanduhr, steht | |
| auf und verschwindet auf den Flur. | |
| In der Sitzrunde wiederholen die SchülerInnen die „Klassenregeln“ vom | |
| Zuhören, sich Melden und Aufräumen. Dann sind die „Wunsch-“, „Lobe-“ … | |
| „Kritikzettel“ der Kinder dran. Rieke soll die Zettel vorlesen. | |
| Die blonde Zehnjährige gehört zu den „Sternenkindern“ in der Klasse, das | |
| sind die normal oder besonders Begabten. Die Lernschwächeren heißen | |
| „Mondkinder“, die noch langsameren „Sonnenkinder“. Jedes Kind weiß, zu | |
| welcher Gruppe es gehört, weil sich auch sein Lernmaterial danach richtet. | |
| Rieke liest vor: „Wir kritisieren Harry, weil er uns ohne Grund geschlagen | |
| hat. Unterschrieben von Nadine, Rieke und Anna.“ „Was können wir tun, wenn | |
| Harry so aufbrausend ist?“, fragt Frau P. in die Runde. „Manchmal, da meint | |
| er es nicht so“, glaubt Rieke. „Wir müssen uns zusammensetzen und reden“, | |
| sagt Anna, ein „Mondkind“. | |
| Die Tür geht auf, Harry kommt wieder herein und setzt sich mit seiner | |
| Sanduhr in die Runde. Das ist ein großer Erfolg. Denn mit dem ADS sei er | |
| ein anstrengender Schüler, sagt Frau P. später. Er sei schwer berechenbar. | |
| Deswegen bekommt er auch heute wieder um zehn Uhr eine Einzelstunde bei | |
| einer Psychologin. Jede Inklusionsklasse hat Kinder wie Harry, es dürfen | |
| nur nicht zu viele davon in einer Klasse sein, wenn wie in den Klassen an | |
| der Grundschule an der Geißenweide keine „Doppelsteckung“ herrscht, also | |
| keine zusätzliche Lehrkraft mit im Unterricht sitzt. | |
| Die Frage der „Doppelsteckung“ ist politisch sehr umstritten. | |
| Doppelbesetzungen steigern die Personalkosten. Aber auch Frau P. würde sich | |
| manchmal über eine zusätzliche Hilfe im Unterricht freuen, sagt sie. Nicht | |
| nur Harry, auch Felicitas könnten mehr Einzelförderung gebrauchen. | |
| Inklusiver Unterricht ist immer auch ein Kompromiss zwischen dem Bedarf der | |
| Kinder nach Zuwendung und begrenzten Ressourcen. | |
| ## Zehn Minuten Einzelbetreuung | |
| Das zeigt sich in der nächsten Stunde. Englisch ist angesagt. „Wir achten | |
| auf Flüsterlautstärke“, steht als Klassenregel auf einem Schild an der | |
| Wand, und das Flüstern ist wichtig beim inklusiven Unterricht, wenn jeder | |
| für sich mit seinem Heft lernt. Die Kinder greifen sich ihre Arbeitshefte, | |
| ziehen sich Kopfhörer auf und nehmen einen besonderen Stift in die Hand. | |
| „Ting“ heißt der „Hörstift“, und wer mit ihm auf bestimmte Zeichen im | |
| Arbeitsheft streicht, dem werden die Wörter und Sätze über den Kopfhörer | |
| vorgelesen. | |
| So kann sich jedes Kind mit der Aufgabe beschäftigen, bei der es in der | |
| letzten Stunde aufgehört hat. Die einen können schon den Satz: „I’d like | |
| spaghetti and carrot soup“, während die andern nur die Wörter „kitchen“… | |
| „garage“ irgendwo einsetzen müssen. | |
| Die „Mondkinder“ tragen keine Kopfhörer. Sie haben ein Blatt vor sich mit | |
| Bildern und Wörtern. Ein Stück Kreide, eine Schultasche sind dort | |
| abgebildet, daneben stehen die Wörter „chalk“, „school bag“. Sie solle… | |
| Wörter und Bilder zuordnen. | |
| Die zierliche Felicitas, ein „Sonnenkind“, kann nicht mal das. Frau P. holt | |
| für Felicitas Karten mit Zahlen von eins bis zehn aus einem Karton. Wenn | |
| Felicitas es schafft, auf die Karte mit der „5“ dann fünf Muggelsteine zu | |
| legen, ist das ein Erfolg. Zehn, fünfzehn Minuten kann sich Frau P. mit | |
| Felicitas allein beschäftigen, während die anderen an ihren Heften sitzen. | |
| Mehr Einzelbetreuung ist nicht möglich. | |
| Paul macht heute nicht richtig mit. Er quatscht dauernd dazwischen. „Ich | |
| zieh dich“, sagt Frau P. mahnend. An der Tafel haften Magnetkarten mit den | |
| Namen der Kinder. Daneben ist ein längliches Schild mit dem Bild einer | |
| Ampel befestigt: Grün, Gelb, Rot. Ist jemand unruhig, zieht Frau P. seine | |
| Karte vom grünen in den gelben Bereich. Wird es ärger, zieht sie weiter | |
| nach Rot. Heute sind zwei Namen im gelben Bereich, die von Paul und Jean. | |
| Wer lange nicht dazwischengequatscht oder herumgehampelt hat, landet links, | |
| unter dem Bild eines Engels im lilafarbenen Kleid und darf sich als „Engel“ | |
| fühlen. Einige Namen haften dort, auch die Karte von Harry. Er ist in der | |
| letzten Zeit umgänglicher geworden. „Ich setze für die Kinder | |
| unterschiedliche Maßstäbe an“, sagt Frau P. | |
| Ohne Sonderförderung geht es auch in der Klasse 4b nicht. Die nächsten | |
| beiden Stunden sind Deutsch und Mathe. Vier Sonnenkinder gehen in einen | |
| anderen Raum, für eine Förderstunde mit einer Sonderpädagogin. Auch in der | |
| Mathestunde sitzen keine Sonnenkinder mit im Raum, sie sind in der | |
| „Inklusionswerkstatt“ mit speziellem Unterricht. | |
| Die verbliebenen Kinder im Matheunterricht nehmen sich ihre Arbeitshefte | |
| vor. Jedes macht für sich da weiter, wo es in der letzten Stunde aufgehört | |
| hat. Steht allerdings neuer Stoff an, wird die betreffende Gruppe gemeinsam | |
| unterrichtet. Wenn Frau P. demnächst den Stärkeren beibringt, was eine | |
| Million ist, werden die Schwächeren gleichzeitig individuell mit ihren | |
| Heften ganz andere Aufgaben lösen. Stellen sie zwischendurch Fragen, „muss | |
| ich immer switchen, das ist schon anstrengend“, schildert die Lehrerin. | |
| ## Die Skepsis der Eltern hat sich gelegt | |
| Man könnte sich natürlich fragen, ob etwa Rieke und Nadine, beides | |
| Sternenkinder, genug gefördert werden in einer so heterogenen Klasse. Doch | |
| wer erlebt hat, wie Rieke den Klassenrat mit moderiert und Nadine sich | |
| freut, als „Expertin“ zu gelten und von Frau P. gelobt zu werden, der kann | |
| sich vorstellen, dass die „Sternenkinder“ hier eine soziale Qualifikation | |
| erwerben, die ihnen später hilft, etwa in einer Führungsposition. Sie | |
| lernen von klein auf, wie unterschiedlich Menschen sind und dass dabei | |
| jeder was wert ist. | |
| Bisher habe noch niemand von den Eltern einen Rückzieher gemacht, weil ihr | |
| Kind in eine Inklusionsklasse geht, sagt Schulleiterin Monika Rudolph, „es | |
| gab am Anfang Skepsis, aber das hat sich gelegt“. Seit vier Jahren arbeitet | |
| die Grundschule an der Geißenweide mit Inklusion. | |
| Natürlich hätte auch Monika Rudolph gerne mehr Personal und vor allen | |
| Dingen mehr Rückzugsräume für die Kinder zur Verfügung. Die Schule nimmt | |
| auch keine Schüler im Rollstuhl auf, es fehlt ein Aufzug. Die | |
| Inklusionskinder in der Schule sind auch nicht schwerst geistig behindert. | |
| Für diese Kinder gibt es Förderschulen im Bezirk. | |
| Heute hat Olav nur viermal rot geblinkt und laut getutet. Ansonsten zeigte | |
| er Grün, was immer Pluspunkte einbringt. Vielleicht wird es doch was mit | |
| der Lesenacht. | |
| * Namen aller Kinder geändert | |
| 28 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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