# taz.de -- Arbeitsbedingungen für Behinderte: Ausgenutzt statt ausgebildet | |
> Werkstätten sollen Menschen mit Behinderung fit für den Arbeitsmarkt | |
> machen. Was sie eigentlich machen, weiß keiner, wie die Regierung zugibt. | |
Bild: Anstatt eine Ausbildung zu bekommen, müssen Behinderte oftmals Industrie… | |
MÜNCHEN taz | Sie drücken Gummischeiben in Deckel. Den ganzen Tag. Jeden | |
Tag. Sie bekommen dafür weniger als den Mindestlohn und ihr Auftraggeber | |
wird vom Staat belohnt. Was sie dabei lernen: Es gibt ein Produkt namens | |
Bördelscheibe. Was sie nicht lernen: Fähigkeiten, die ihnen zu einem | |
richtigen Job verhelfen könnten. | |
Dass Menschen mit Behinderung so ihre Zeit in den Werkstätten verbringen, | |
die sie eigentlich weiterbilden sollen, wird sich nicht ändern. Zumindest | |
suggeriert das die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der | |
Grünen-Bundestagsfraktion. Anlass für die Anfrage war unter anderem eine | |
Fernsehsendung im Februar: Das Team Wallraff hatte undercover in drei | |
Behinderteneinrichtungen recherchiert. Die eingangs beschriebene Misere | |
wurde verdeckt gefilmt und durch heimlich aufgenommene Zitate von | |
Betreuer*innen ergänzt. | |
Aufgabe der Werkstätten ist laut dem Sozialgesetzbuch, eine „angemessene | |
berufliche Bildung“ anzubieten. Laut dem Team-Wallraff-Bericht wird den | |
Betroffenen aber jegliche Weiterbildung verwehrt, weil sie | |
Industrie-Aufträge abarbeiten müssen. | |
Die Werkstätten seien durchaus „ein Teil des inklusiven Arbeitsmarkts“, | |
schreibt die Regierung, die keinen Reformbedarf sieht. Sie seien | |
angehalten, mit Betrieben zusammenzuarbeiten, müssten „Rahmenlehrpläne“ | |
erstellen und würden „beispielsweise Staplerscheine, Sprach- oder | |
EDV-Kurse“ anbieten. Ob diese Vorgaben eingehalten werden, werde nicht | |
regelmäßig geprüft, nur bei der Eröffnung der Werkstatt und bei | |
Beschwerden. | |
Allerdings prophezeit das Schreiben, dass „gerade junge behinderte | |
Menschen“ sich sowieso „mehr und mehr dafür entscheiden werden, gar nicht | |
erst in eine Werkstatt für behinderte Menschen zu gehen“. Denn ab nächstem | |
Jahr zahlt der Staat 70 Prozent des Lohns, wenn Betroffene in einem Betrieb | |
statt in einer Werkstatt arbeiten. Ansonsten sei das Ziel der Werkstätten, | |
„Menschen, die wegen ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen | |
Arbeitsmarkt tätig sein können, Beschäftigung zu bieten“. | |
## Ernüchternde Antworten | |
Solche Hinweise darauf, dass die Einrichtungen eher Abstellgleis denn | |
Karrierestation sein sollen, erhärten die Kritik von Corinna Rüffer. Die | |
Bundestagsabgeordnete ist Sprecherin für Behindertenpolitik der | |
Grünen-Fraktion und hat die Anfrage gestellt. „Die Antworten der | |
Bundesregierung sind ernüchternd“, kommentiert Rüffer. Ihr zufolge | |
verlassen weniger als ein Prozent der Mitarbeiter*innen jährlich die | |
Werkstätten, um einen bezahlten Job anzutreten. Das Arbeitsministerium kann | |
diesen Prozentsatz nicht bestätigen. Man werde aber künftig die „Teilhabe | |
am Arbeitsleben beobachten“. | |
Im Wallraff-Film kommt eine Mitarbeiterin vor, die von ihren Betreuer*innen | |
misshandelt wird: Sie lachen, als sie ausrutscht, demütigen sie mit | |
sexualisierten Anspielungen und setzen sich zum Spaß auf ihren Schoß. Auf | |
die Frage, wie emotionale Gewalt künftig verhindert wird, beschreibt die | |
Regierung zwei Vorsorgemaßnahmen: Erstens dürften Werkstätten seit Januar | |
keine vorbestraften Betreuer*innen mehr beschäftigen. Zweitens wurden | |
Frauenbeauftragte ernannt. „Das ist lächerlich“, kommentiert Rüffer. Die | |
Frauenbeauftragten seien bislang nicht für solche Aufgaben ausgebildet und | |
die Anzahl bewege sich „im niedrigen zweistelligen Bereich“. | |
Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. | |
arbeiten bundesweit knapp 309.000 Menschen in 680 Werkstätten. | |
13 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Jana Anzlinger | |
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