| # taz.de -- Menschen mit Assistenzbedarf in Berlin: Gefährlicher Protest | |
| > Das Bündnis Selbstbestimmt leben kämpft für Autonomie bei der Auswahl der | |
| > AssistentInnen. Mitglieder haben sich zum Protest auf die Straße gelegt. | |
| Bild: Menschen mit Assistenzbedarf wollen ihre Assistent:innen selbst einstelle… | |
| BERLIN taz | Bevor es losgeht, rollen ein knappes Dutzend Assistent:innen | |
| Isomatten auf dem asphaltierten Platz vor dem Abgeordnetenhaus aus und | |
| legen Decken auf den Boden. Auf diese legen sich kurz darauf Aktivist:innen | |
| des Bündnis Selbstbestimmt: assistenzbedürftige Menschen und ihre | |
| Mitstreiter:innen. Vorsichtig, und mit Hilfe ihrer Assistenzkräfte. | |
| Davor hatten sie sich vor dem Martin Gropius Bau zuvor versteckt, bis | |
| Birgit Stenger, leitende Aktivistin an diesem Morgen, den Startschuss gab | |
| und mit ihrem Rollstuhl als erste die Straße überquerte und vor das | |
| Abgeordnetenhaus fuhr. Alle gemeinsam protestieren sie nun, auf dem Boden | |
| liegend, Banner haltend, im Rollstuhl sitzend und pfeifend vor dem Gebäude, | |
| um ihrer Forderung nach einer gerechteren Bezahlung der Assistenzkräfte auf | |
| besondere Art Nachdruck zu verleihen. Die Adressatin ihres Protests: Elke | |
| Breitenbach, Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales (Die | |
| Linke), die drinnen, im Abgeordnetenhaus, gerade im Sozialausschuss sitzt. | |
| Die Aktion des Bündnis entfaltet auf den zweiten Blick ihre volle Kraft: | |
| Hier liegen Menschen, die nicht einfach von der Polizei weggetragen werden | |
| können, weil das Verletzungsrisiko viel zu hoch wäre. Sie sind konsequent: | |
| „Wir bleiben solange hier, bis Elke Breitenbach herauskommt“, sagt Stenger. | |
| Rundherum stehen etliche Assistenzkräfte und halten Schilder mit der | |
| Aufschrift „Kein Aus für das Arbeitgeber:innenmodell“ in die Höhe. Denn d… | |
| Aktivist:innen des Bündnisses befürchten, dass sie bald nicht mehr selbst | |
| entscheiden können, wer sie im Alltag unterstützt. | |
| Menschen mit Assistenzbedarf benötigen im alltäglichen Leben Persönliche | |
| Assistenz. Entweder beziehen sie die Assistent:innen über einen | |
| Assistenzdienst, oder sie stellen sie über das Arbeitgeber:innen-Modell | |
| selbst an. Dieses Modell will das Bündnis retten. Denn das | |
| Arbeitgeber:innen-Modell wird finanziell zunehmend unattraktiv für | |
| Arbeitnehmer:innen in diesem Bereich, da die Assistenzdienste seit Juli | |
| 2019 einen Tarifvertrag abgeschlossen haben. Seitdem werden diejenigen, die | |
| bei einem Pflegedienst angestellt sind, im Vergleich besser bezahlt als | |
| diejenigen Assistent:innen, die direkt bei Menschen mit Assistenzbedarf | |
| anstelltet sind. Jetzt verlieren die Arbeitgeber:innen dadurch | |
| Arbeitnehmer:innen, das von ihnen bevorzugte Modell ist damit in Gefahr. | |
| ## Selbst entscheiden, wer unterstützt | |
| Das Dilemma der ungleichen Bezahlung für gleiche Arbeit konterkariere | |
| grundsätzlich das Selbstbestimmungsrecht, sagt das Bündnis. Sie wollen | |
| selbstbestimmt entscheiden, wer ihnen assistiert. Die Aktivist:innen | |
| empfinden des außerdem als übergriffig, dass Assistenzdienste ihre Arbeit | |
| komplett dokumentieren müssen – und damit indirekt auch auflisten, wie sie | |
| ihren Alltag verbringen. Bei den direkt anstellten Assistent:innen besteht | |
| diese Dokumentationspflicht nicht. Um dieser Bevormundung durch | |
| Assistenzdienste zu entgehen und gegen die Ungleichbehandlung zu kämpfen, | |
| liegen sie heute hier und fordern einen Dialog mit Senatorin Breitenbach. | |
| Auf dem Platz umkreisen Sicherheitskräfte und Polizist:innen das Geschehen, | |
| sie nehmen schließlich die Lautsprecher weg, es ist von Räumung die Rede. | |
| Rund Hundert Menschen haben sich mittlerweile zusammengefunden. Zwischen | |
| den Aktivist:innen befinden sich auch Mitglieder des Ver.di-Landesverbands | |
| und verteilen Flugblätter. Sie sagen, sie seien als „solidarische | |
| Delegation“ gekommen, die die Aktivist:innen zu einem Interessenaustausch | |
| über einen möglichen Tarifvertrag für das Persönliche Budget einladen | |
| wollen. Das Bündnis reagiert erst mal zurückhaltend auf diesen | |
| Annäherungsversuch. Ivo Garbe, ver.di Gewerkschaftssekretär, schlägt einen | |
| ähnlichen Tarifvertrag wie bei den Assistenzdiensten vor, um die | |
| Selbstbestimmung von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen zu sichern. | |
| „Elke, komm raus!“, tönt es von Seiten des Bündnisses. Die Aktivist:innen | |
| bleiben unbeirrt bei ihrer Forderung. Dann kommt die Senatorin tatsächlich | |
| nach ihrer Sitzung aus dem Gebäude und die Polizist:innen tragen die | |
| Lautsprecher der Aktivist:innen wieder vor die Menge. „Frau Breitenbach, | |
| ich möchte nicht als persönliche Assistentin auf der Straße landen“, ruft | |
| eine Aktivistin. | |
| „Sie hätten es einfacher haben können“, betont Breitenbach ihre | |
| Dialogbereitschaft. „Es gibt eine sehr einfache Lösung.“ Die | |
| Arbeitgeber:innen sollten sich zu einer Tarifgemeinschaft | |
| zusammenschließen, sagt sie. Gewerkschaftler Ivo Garbe klatscht, die | |
| Aktivist:innen bleiben ruhig, sie wollen, dass sich der Senat um die | |
| bessere Bezahlung ihrer Assistenzkräfte kümmert und das regelt. | |
| Gleichzeitig aber halten sie den Weg des Tarifvertrags auch für eine | |
| Verbesserung, so Aktivistin Stenger. Aber: im Bündnis gibt es einen Dissens | |
| über diese Option, weil die Aktivist:innen um den Tarifvertrag kämpfen | |
| müssten. Breitenbach sagt, sie wisse von dem Dissens, sie wisse aber auch, | |
| dass es gleichzeitig ein gemeinsames Dilemma gebe – die Rechtsgrundlage des | |
| Neunten Sozialgesetzbuchs, die Änderungen in der Bezahlung nur durch | |
| Tarifverträge vorsieht. | |
| ## Es bräuchte einen eigenen Tarifvertrag | |
| Breitenbachs Staatssekretär, Alexander Fischer, betont, der geltende | |
| Rechtsrahmen ließe dies nicht zu. Der Tarifvertrag für den öffentlichen | |
| Dienst der Länder (TV-L) sehe für „einfache“ Assistenz eine niedrigere | |
| Bezahlung vor, als es der Haustarifvertrag täte, der jetzt für die | |
| Assistenzdienste geschlossen wurde. Erst über einen eigenen Tarifvertrag | |
| gäbe es die Möglichkeit, den aktuellen Rechtsrahmen zu ändern. „Wir machen | |
| ausdrücklich das Angebot, diesen Prozess zu begleiten“, wiederholt Fischer | |
| mehrmals. Zu guter Arbeit gehöre auch gute Bezahlung, deshalb solle man | |
| sich auf den Vorschlag der Senatorin einigen, fordert er das Bündnis auf. | |
| Aktivistin Birgit Stenger reagiert erstaunt: „Auch bis zur Änderung 2019 | |
| gab es keine rechtliche Grundlage, und trotzdem hat das Land Berlin eine | |
| gleiche Bezahlung der Assistenzkräfte zugelassen“, sagt sie. „Bisher waren | |
| wir stärker miteinbezogen, als wir es jetzt sind.“ | |
| Senatorin Breitenbach beharrt darauf, dass sich die Haltung des Landes | |
| Berlins nicht geändert habe, verändert habe sich aber, dass Beschäftigte | |
| von Pflegediensten nun Tarifverträge hätten und so besser bezahlt würden. | |
| Sie zwinge niemanden, für einen Tarifvertrag zu kämpfen, aber die | |
| rechtliche Grundlage für alternative Lösungen für bessere Löhne fehle, das | |
| sei ein gemeinsames Problem. | |
| Dass die Senatorin ihr Anliegen zumindest in der Sache begleiten möchte, | |
| freut die Aktivist:innen des Bündnis. Einerseits. Aber andererseits geht es | |
| ihnen nicht weit genug. Sie hätten sich einen konkreten Vorschlag | |
| gewünscht, und sie hätten sich gewünscht, nicht noch weiter kämpfen zu | |
| müssen. „Ich verstehe nicht, warum es für Personen in besonderen | |
| Lebenssituationen nicht besondere Lösungen geben kann“, fragt sich eine | |
| Aktivistin. | |
| 25 Sep 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Alissa Geffert | |
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