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# taz.de -- Corona-Regeln für Menschen mit Handicap: Schutz oder Diskriminieru…
> Für Menschen mit Behinderungen tun sich die Behörden schwer, das richtige
> Verhältnis von Schutz und Gleichbehandlung zu finden.
Bild: Harte Zeit der Trennung: Eingangstür eines Wohnheims für Behinderte in …
Neumünster taz | Marie (Name geändert) hatte beste Laune. Das machte den
Besuch ihres Vaters Fritz Bremer in der schleswig-holsteinischen Wohngruppe
für Menschen mit Behinderungen angenehmer, als der erwartet hatte. Denn die
ersten Treffen zwischen der mehrfachbehinderten Tochter und ihren Eltern
unter Coronabedingungen fanden in einem sterilen Besuchsraum statt,
getrennt durch eine Scheibe.
Bremer, der als Sozialpädagoge sein Berufsleben lang mit Menschen mit
Behinderung zu tun hatte, empfand diese Regeln als „skurril und
lebensweltfern“. Er wandte sich an Landtagsabgeordnete, bat im Kieler
Sozialministerium darum, die strengen Regeln zu ändern. Inzwischen gibt es
einen neuen Erlass: „Seit Mitte Juni dürften wir nun zu zehnt zu Besuch
kommen“, sagt Bremer. „Das finde ich nun wiederum deutlich zu viel.“
Denn die Bewohner*innen der betreuten WG seien durch ihre körperlichen
Behinderungen besonders gefährdet, zudem sind bei den meisten die
kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt, sodass sie selbst kaum
Vorsichtsmaßnahmen ergreifen können. „Wir treffen uns mit Marie draußen auf
der Terrasse und tragen Masken“, sagt der Vater. Erst zu streng, nun zu
locker: „Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.“
Im ganzen Norden tun sich die Behörden schwer damit, das richtige
Verhältnis von Schutz und Gleichbehandlung zu finden. In Bremen etwa
benennt auch die aktuelle, zehnte „Verordnung zum Schutz vor
Neuinfektionen“ Werkstätten oder Wohnhäuser für Menschen mit Behinderungen
noch auf einer Stufe mit Pflegeheimen.
Dabei hatte Arne Frankenstein, Landesbehindertenbeauftragter der
Hansestadt, bereits vor einigen Wochen den Senat aufgefordert, „den
Unterschied zwischen Pflegeheimen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe
hinreichend zu berücksichtigen“. Denn gerade junge und körperlich gesunde
Behinderte erkranken nicht häufiger als der Rest der Bevölkerung.
Für Dirk Mitzloff, stellvertretender Behindertenbeauftragter in
Schleswig-Holstein, kamen daher die starken Einschränkungen zu Beginn des
Lockdowns unerwartet: „Am Anfang habe ich noch gesagt, na dann seid ihr ja
nicht gemeint, denn die Erlasse sprechen ja von vollstationärem Wohnen, das
es in Schleswig-Holstein in der Eingliederungshilfe gar nicht mehr gibt.“
Doch in Coronazeiten gelten die WGs dann doch wieder als Heime, egal
welche Arten von Behinderungen die Bewohner*innen haben.
Ein Problem ist, dass nicht alle Menschen mit Behinderungen eine
Schutzmaske tragen können. Zwar gelten Ausnahmeregeln, dennoch komme es zu
Diskriminierungen: Personen ohne Maske würden nicht in Busse gelassen,
sogar Arztpraxen verweigerten den Einlass, berichtet Mitzloff. Die Idee,
Betroffene mit einem Ausweis auszustatten, lehnte das Ministerium mit
Hinweis auf die allgemeine Verordnung ab.
Unterschiede gab es auch beim Arbeiten: Werkstätten für Menschen mit
Behinderungen wurden zunächst alle geschlossen. „Alle Leute hingen zu
Hause, ohne soziale Kontakte – für Leute mit psychischen und Suchtproblemen
bedeutete das Vereinsamung und Rückfallgefahr“, sagt Kerstin Scheinert,
Sprecherin der Werkstatträte in Schleswig-Holstein. Inzwischen wird wieder
gearbeitet, allerdings in Kleingruppen. Dass es besondere Regeln für
möglicherweise gefährdete Personengruppen gibt, findet Schreinert
„letztlich nicht schlecht“. Die Einrichtungen würden sich Mühe geben, ist
ihr Eindruck: „Es ist wichtig, dass man gut auf alle achtgibt.“
Doch wo schlägt Achtgeben in Bevormunden um? Kerrin Stumpf vom Hamburger
Verein „Leben mit Behinderung“ sah in „Corona auch eine Chance“, etwa in
der Schule: „Durch Homeschooling und digitalen Unterricht sehen Lehrkräfte
anders auf die Kinder und merken, was ein Kind mit Behinderung eigentlich
kann.“ Dennoch hätten sich viele Eltern geärgert, dass für ihre Kinder
besondere Regeln vorgesehen waren: „Es kam die Frage auf, ob die Kinder mit
Behinderung nun überhaupt auch wieder zur Schule sollten – allein darüber
diskutieren zu müssen, empfanden viele Eltern als empörend.“
Dennoch hofft sie auf Verbesserungen und mehr Individualisierung im Herbst.
Für einige Eltern, gerade wenn sie selbst schon älter und die Kinder
erwachsen seien, habe der Lockdown mit dem strengen Besuchsverbot auch eine
wichtige Erkenntnis gebracht, sagt Stumpf: „Sie haben gemerkt, dass es
ihren Kinder gut geht, auch wenn die Eltern nicht regelmäßig kommen. Mir
hat jemand gesagt: Nun kann ich auch beruhigt sterben.“
28 Jul 2020
## AUTOREN
Esther Geißlinger
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Bremen
Hamburg
Schleswig-Holstein
Menschen mit Behinderung
Leben mit Behinderung
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Feminismus
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Lesestück Recherche und Reportage
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