# taz.de -- Wenn Menschen Tiere brauchen: Kampf um den Assistenzhund | |
> Ohne ihren Hund kann Carina Graf nicht aus dem Haus gehen. Doch der Kreis | |
> Nordfriesland weigert sich, seine Behandlung zu bezahlen. | |
Bild: Carina Graf mit ihrem Assistenzhund Ace | |
Ace ist im Dienst. Aufmerksam beobachtet der Australien-Shepard-Rüde mit | |
den zweifarbigen Augen jede Bewegung seiner Herrin Carina Graf (Name | |
geändert). Die Warnweste, die er trägt, weist ihn als Assistenzhund aus. | |
Für seine Besitzerin, die eine psychische Behinderung hat, ist er | |
unverzichtbar. Doch im Sommer erkrankte der Hund schwer – die Kosten für | |
die Behandlung belaufen sich auf mehrere Tausend Euro. | |
Graf, die aufgrund ihrer Behinderung in Rente ist, sieht den Kreis | |
Nordfriesland in der Pflicht zu zahlen, schließlich ist Ace ein Mittel für | |
ihre Teilhabe an der Gesellschaft, ähnlich wie ein Rollstuhl für Menschen | |
mit Gehbehinderung. Doch die Behörde weigert sich. Nun liegt der Fall vor | |
Gericht. Graf hofft auf ein Urteil, das nicht nur ihr, sondern auch anderen | |
helfen könnte. | |
In einem Tagestreff für Menschen mit psychischen Krankheiten in [1][der | |
nordfriesischen Kleinstadt Bredstedt] legt Carina Graf einen Stapel | |
Unterlagen auf den Tisch, während Ace es sich zu ihren Füßen bequem macht. | |
Der Aktenstapel ist dick, seit Jahren befindet sich Graf mit der | |
Eingliederungsstelle des Kreises im Rechtsstreit. Aktuell aber muss sie | |
sich täglich mit dem Thema befassen. Durch Ace’ Krankheit drücken sie hohe | |
Schulden, auch ein Spendenaufruf, den Freund*innen gestartet haben, deckt | |
die Kosten nicht. Die Lage sei extrem belastend, berichtet sie. Dennoch | |
überwiegt die Freude, dass Ace am Leben ist. Als er im Sommer an Krebs | |
erkrankte, „hatte ich die allerschlimmste Angst meines Lebens“, sagt sie | |
und kämpft mit den Tränen. „Er ist meine Familie.“ | |
Früher hatte die heute 36-Jährige einen Partner, leitete ein kleines | |
Unternehmen. Bis im Jahr 2015 Erinnerungen aufbrachen, die sie verdrängt | |
hatte. Von einem Tag zum anderen verwandelte sich die Geschäftsfrau in eine | |
Schwerstkranke, geplagt von Angststörungen und so schweren sozialen | |
Phobien, dass sie sich buchstäblich in einem Schrank verkroch. | |
## Selbstbestimmte Teilhabe | |
Ihre Beziehung zerbrach, Graf verbrachte „mehr Zeit in Kliniken als zu | |
Hause“. Dass ihr der Umgang mit einem Tier guttun würde, wusste sie: Sie | |
hatte früher schon Hunde gehalten. 2017 kam Ace als Welpe zu ihr. 2019 | |
beschloss sie, ihn zum Assistenzhund auszubilden. | |
Ein [2][Assistenzhund] ist im Behindertengleichstellungsgesetz | |
definiert als „speziell ausgebildeter Hund, der dazu bestimmt ist, einem | |
Menschen die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu | |
ermöglichen oder behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen“. Die Tiere | |
durchlaufen dazu eine auf eine einzelne Person ausgerichtete Ausbildung, | |
dafür gibt es Vereine und Einzeltrainer*innen. Bei Migräne, Diabetes, | |
Epilepsie, Narkolepsie oder Asthma kann ein ausgebildeter Hund einen | |
drohenden Anfall erkennen. Assistenzhunde begleiten Menschen mit Demenz, | |
Autismus oder anderen psychischen Krankheiten. Genau wie Blindenhunde | |
dürfen sie öffentliche Gebäude, aber auch Läden oder Arztpraxen betreten. | |
Carina Graf sagt, dass sie ohne Ace nicht in der Lage wäre, das Haus zu | |
verlassen. Einkaufen, andere Menschen treffen, Behördengänge erledigen – | |
nur dank des Hundes schaffe sie das. „Ich weiß, dass ich nach außen | |
kompetent und selbstbewusst wirke“, sagt sie. „Aber ich zahle einen Preis | |
dafür, ich bin nach jedem Termin komplett erschöpft.“ Manchmal hat sie | |
Anfälle, bei denen sie bewusstlos wird. Ace warne sie, sodass sie ein | |
Medikament nehmen könne, berichtet sie. | |
Als sie im Sommer einen Knubbel unter Ace’ Fell spürte, der sich als Tumor | |
herausstellte, brach für sie die Welt zusammen. Sie machte sich auf die | |
Suche nach einer Hilfe und fand eine Klinik in Süddeutschland, die das Tier | |
behandelte. Komplikationen erschwerten die Therapie, die Kosten stiegen, | |
die die Tierkrankenkasse nur zum Teil übernimmt. | |
Graf wandte sich an den Kreis Nordfriesland. Der setzt bei der Teilhabe | |
behinderter Menschen auf das sogenannte [3][Sozialraumkonzept], das die | |
Stärken der Betroffenen und ihres Umfelds ins Zentrum stellt – eigentlich | |
ein innovatives und oft auch erfolgreiches Modell. | |
Doch in Grafs Fall lehnte die Eingliederungsbehörde es bereits ab, sich an | |
den Ausbildungskosten zu beteiligen: Es bestehe „lediglich für den | |
Einsatz von Blindenführhunden ein gesetzlicher Anspruch“, heißt es in einem | |
Schreiben. | |
Das sei falsch, sagt [4][Dirk Mitzloff, stellvertretender | |
Landesbehindertenbeauftragter in Schleswig-Holstein]. Er verweist | |
auf die „Assistenzhundeverordnung“, die das Bundessozialministerium im | |
Dezember 2022 erlassen hat. Dort sind mehrere der Funktionen aufgeführt, | |
die Ace für Carina Graf erfüllt. Wenn eine Diagnose vorliege, das Tier | |
ärztlich verordnet sei und die Anforderungen erfülle, sollte der Antrag | |
bewilligt werden, sagt Mitzloff. Doch stattdessen passiere es häufig, dass | |
Krankenkassen und Eingliederungsbehörde versuchen, sich gegenseitig die | |
Kosten zuzuschieben. | |
Auch Carina Graf hatte sich zunächst an ihre Krankenkasse gewandt. Die | |
verwies sie an den Kreis. Der muss nach bestimmten Kriterien entscheiden, | |
ob er Anträge bewilligt. Schließlich geht es um Geld, um Steuermittel: Die | |
Kosten für Sozialleistungen steigen von Jahr zu Jahr, daher liegt es im | |
Interesse der Behörde, nicht jeden Antrag zu bewilligen. | |
Aber wenn ein Mensch nun einmal Hilfe braucht? Und wenn Alternativen noch | |
teurer wären? Hätte Carina Graf ihre vierbeinige Stütze nicht, bräuchte sie | |
vermutlich menschliche Hilfskräfte, die nicht mit Hundefutter und | |
Streicheleinheiten bezahlt werden könnten. „Im Idealfall sollten sich die | |
Kostenträger untereinander einigen und den Menschen mit Behinderung nicht | |
belasten“, sagt Mitzloff. Doch das klappe selten. Auch in Carina Grafs Fall | |
nicht: Der Kreis verwies sie zurück an die Krankenkasse und bezweifelte | |
obendrein, ob sie überhaupt einen Assistenzhund brauche. | |
## Freunde sollen helfen | |
Zwar ist Selbsthilfe – die Graf ergriff, als sie mit Ace die Ausbildung | |
durchlief – ein Kernelement des Sozialraumgedankens. Doch nach Vorstellung | |
des Kreises sei es doch auch möglich zu schauen, ob „jemand aus dem Umfeld | |
kostenlos oder für wenig Geld einen geeigneten Hund zur Verfügung stellen | |
kann“, erklärt die Pressestelle des Kreises auf taz-Anfrage. Vielleicht | |
ließen sich auch „soziale Kontakte im Lebensumfeld intensivieren oder eine | |
Unterstützung durch Freunde und Nachbarn erfragen“. Und schließlich gebe es | |
auch „öffentliche Begegnungsstätten, die Kontakte ermöglichen“. | |
Diese Tipps passen nicht zu Grafs Krankheit – ihr Arzt bescheinigt ihr | |
Traumafolgestörungen mit „schweren, komplexen, einander bedingenden“ | |
Symptomen. Sie kann allein eben nicht das Haus verlassen, in der | |
Nachbarschaft an Türen klingeln oder in eine Begegnungsstätte gehen. So | |
steht es auch in einem fachärztlichen Attest, das der taz vorliegt. Den | |
Kreis überzeugt das nicht: „Die Antragstellerin hat nicht glaubwürdig | |
gemacht, wie stark ihre Einschränkungen sind.“ Es bestünden „Diskrepanzen | |
zum Vortrag der Antragstellerin“. | |
„Wir wären gern bereit, alle Fragen im Gespräch zu klären“, sagt Tatjana | |
Schul, die Graf als Betreuerin zur Seite steht. Doch zurzeit fände die | |
Kommunikation nur schriftlich statt. Inzwischen bezweifelt der Kreis alles: | |
Dass Graf einen Hund braucht, dass es dieser sein müsse, ob die Behandlung | |
notwendig gewesen sei: Hätte es nicht eine Amputation anstelle der OP | |
getan? „In allen Schreiben schwingt die Unterstellung mit, Frau Graf wolle | |
etwas abzocken“, sagt Schul. „Einen solchen Umgang mit Behinderten kann ich | |
als Betreuerin, Juristin und Mensch nicht begreifen.“ | |
Gemeinsam mit dem Sozialverband Deutschland klagte Graf, um Geld für Ace’ | |
Ausbildung zu erhalten. Nun klagt sie zusätzlich um die Kosten der | |
Krebsbehandlung. | |
## Zu wenig Gerichtsurteile | |
Solche Verfahren können Jahre dauern, aber sie seien wichtig, sagt Dirk | |
Mitzloff. Denn das neue Bundesteilhabegesetz räumt Menschen mit Behinderung | |
zwar mehr Rechte ein, aber weil es zu wenige Gerichtsurteile gibt, können | |
sich Behörden immer noch auf „kenne ich nicht, genehmige ich nicht“ | |
zurückziehen. Bei vielen Verfahren werde den Klagenden irgendwann ein | |
Vergleich angeboten. „Das ist für die Betroffenen gut, weil es das Problem | |
löst, aber so kriegen wir keine Urteile.“ | |
Carina Graf will sich auf keinen Vergleich einlassen. Doch selbst wenn am | |
Ende ein Urteil zu ihren Gunsten fällt, bleibt sie bis dahin auf den Kosten | |
im fünfstelligen Bereich sitzen. Die Eingliederungsbehörde verweist auf die | |
laufende Spendenkampagne. Auf die Frage, ob der Kreis Nordfriesland | |
generell behinderten Menschen dazu rät, im Internet um Spenden zu werben, | |
antwortet der Sprecher leicht beleidigt: „Niemand, der einen berechtigten | |
Anspruch hat, wird auf das Spendensammeln verwiesen.“ Es schwingt mit, dass | |
Graf eben keinen Anspruch hat. | |
Graf sammelt ihre Unterlagen ein, sie ist müde – es strengt sie an, über | |
ihren Fall zu sprechen. Ace springt auf, als seine Herrin aufsteht: Er ist | |
im Dienst, egal was die Behörde dazu sagt. | |
23 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Das-Nordfriisk-Instituut-in-Bredstedt/!5867652 | |
[2] /Leben-mit-Behinderung/!5637886 | |
[3] https://www.nordfriesland.de/Kreis-Verwaltung/Projekte-Initiativen/Sozialra… | |
[4] https://www.landtag.ltsh.de/beauftragte/lb/team/ | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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