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# taz.de -- Unterwegs mit Sozialarbeiter:innen: Wohnungslos in der Krise
> Die Coronakrise trifft Wohnungslose besonders hart. Sozialarbeiter:innen
> in Leipzig suchen sie auf, um sie zu unterstützen.
Bild: Obdach- und Wohnungslose haben keine Lobby, nicht im Winter und nicht zu …
Leipzig taz | Hinter einer Brachfläche am Leipziger Hauptbahnhof,
stadtauswärts, einen steilen, matschigen Trampelpfad entlang, liegt das
sogenannte Hexenhaus. In dem ehemaligen Bahngebäude haben sich Menschen
einen Unterschlupf gebaut. Vor dem Eingang stehen Einkaufswagen mit
Kleidung, die Fenster sind von innen mit Brettern verschlagen, an der Tür
haben die Bewohner:innen ein Schloss angebracht – wenigstens ein kleines
bisschen Schutz vor Kälte und Eindringlingen. An der Tür steht auf einem
Schild: „Von 0–12 Uhr keine Störung erwünscht. Sonntag Ruhetag!“
Helen Matzke klopft einige Male erfolglos an die Tür aus Pressspanplatten.
Sie und ihr Kollege Markus Hörold sind Straßensozialarbeiter:innen und
kommen regelmäßig an diesen Ort. Sie kennen die Menschen, beraten sie,
bringen Essen vorbei, helfen bei Behördengängen. Die beiden sind Teil des
„Teams Wohnen“ der Straßensozialarbeit für Erwachsene (Safe), die im
Suchtzentrum Leipzig angesiedelt ist.
Fast täglich laufen sie durch das Gebiet um den Leipziger Hauptbahnhof. Am
Hexenhaus haben sie heute keinen Erfolg. Einige hundert Meter weiter, in
einem kleinen Park gegenüber dem Bahnhof, kommen sie mit einer Gruppe
Männer ins Gespräch, die sich gerade Witze erzählen. Auf der Bank neben
ihnen stehen einige Bierflaschen und ein Pfefferminzschnaps. Matzke und
Hörold bieten den Männern Äpfel und Brötchen an und fragen, ob sie sie
unterstützen können.
Ein junger Mann mit glasigen Augen, der sich nur mit dem Vornamen Nico
vorstellt, zieht sich die Atemmaske über den Mund. Immer wieder verrutscht
sie. Sein Blick geht zu zwei Beamt:innen in Uniform, die ihre Runden
drehen. Laut Coronaverordnung gilt Maskenpflicht im Innenstadtring.
Nico zuckt mit den Achseln. Er sagt, er trage den Mundschutz nur, damit er
keinen Ärger kriege. Angst vor dem Virus habe er nicht. „Es gibt hier doch
kaum Todesfälle, an Erkältung sterben viel mehr Leute.“ Ein anderer Mann
pflichtet ihm bei: Corona sei eine große Lüge. Er kenne viele, die
infiziert waren und gesagt haben, das Virus sei nicht schlimmer als eine
Grippe.
Für viele Wohnungslose ist es nicht das Virus selbst, das ihnen Angst
bereitet, sondern die sozialen Folgen, die damit einhergehen. Nico sagt, er
warte seit Monaten auf das Geld vom Jobcenter. Tatsächlich steigt seit dem
im März verabschiedeten Sozialschutzpaket die Zahl der eingehenden Anträge
auf Grundsicherung beim Jobcenter massiv an. Die Streetworker von Safe
kennen das Problem. Viele ihrer Klient:innen berichten von langen
Wartezeiten und von Anträgen, die ewig nicht bearbeitet würden. 27 Prozent
mehr Arbeitslose gibt es gegenüber dem Vorjahr.
Der Mann, der neben Nico steht, rote Arbeiterhose, Sicherheitsschuhe, sagt,
er habe zwar eine Wohnung, habe jedoch wegen Corona seinen Job verloren.
Sein ehemaliger Arbeitgeber, eine Veranstaltungstechnikfirma, sei pleite
gegangen. Nun arbeite er für eine Zeitarbeitsfirma in einer Druckerei. Ein
öder Job, wie er sagt, „aber wenigstens muss ich da keine Maske tragen“.
Amüsiert beäugt er die zwei Beamt:innen in Uniform, auf deren Rücken man
nun den Schriftzug „Polizeibehörde“ erkennen kann. „Das ist gar nicht die
Polizei, sondern das Ordnungsamt“, sagt einer. „Die haben sich kürzlich
umbenannt.“ Ein anderer erwidert: „Dann haben die ja gar nichts zu sagen.“
Die anderen lachen.
Häufig sind es nicht die Beamt:innen, die den Wohnungslosen helfen, sondern
Streetworker wie Matzke und Hörold. Oftmals geht es vor allem darum, dass
ihnen jemand zuhört. Wenn Helen Matzke mit einem Klienten redet, der auf
dem Boden sitzt, dann kniet sie sich vor ihn, um ihm auf Augenhöhe zu
begegnen. Sie sagt, die Zeit des Lockdowns sei vor allem für Frauen sehr
schwierig gewesen. An vielen Orten waren sogar die öffentlichen Toiletten
geschlossen, der letzte Rückzugsort für viele Frauen, beispielsweise, wenn
sie menstruieren.
## „Schnorren“ ist schwerer geworden
Schon gleich zu Beginn ihres Arbeitstags treffen die zwei in der Innenstadt
auf einen ihrer Klienten, der gerade von drei Polizist:innen kontrolliert
wird. Der junge Mann sitzt vor der Sparkasse auf dem kalten Boden mit einer
Kappe, in der er Geld sammelt. Wenn jemand kommt, hält er ihnen die Tür
auf, wünscht einen schönen Tag.
„Das Schnorren“ sei schwerer geworden, sagt Marcel, der nur seinen Vornamen
nennt. Die Abstandsregelungen würden dazu führen, dass weniger Leute ihm
Geld geben, zudem würden weniger Leute kommen, weil die Bars geschlossen
sind.
Marcel ist erst 18 und erst seit Kurzem wohnungslos. Von der Polizei werde
er ständig kontrolliert, sie wolle ihn „nur abfucken“, sagt er. „Warum
sonst kontrollieren sie nur mich und einen Schwarzen, sonst aber
niemanden?“ Ein Polizist sagt, die Auswahl der Personen sei nur „Zufall“
gewesen, seine Kollegin will sich erst gar nicht erklären, zieht ihn weg
und verabschiedet sich. Marcel meint, wären die Sozialarbeiter:innen nicht
dagewesen, wäre nicht nur sein Ausweis, sondern all seine Sachen
kontrolliert worden – so wie in letzter Zeit häufiger.
Der Umgang mit Wohnungslosigkeit wird vor allem ordnungspolitisch geregelt.
Zwischen Parkbänke, auf denen sonst Menschen nächtigen, werden Lehnen
gebaut, auf öffentlichen Plätzen werden Metallstachel angebracht, die
Menschen vom Verweilen abhalten sollen. Was jedoch an vielen Stellen fehlt,
sind die sozialpolitischen Maßnahmen.
## Quarantäne auf der Straße?
In der Coronakrise verschärfen sich die medizinischen Probleme. „Es gibt
einen generellen Mangel bei der ärztlichen und Pflegeversorgung von
Wohnungslosen“, sagt Hörold. Viele Menschen, die auf der Straße leben,
haben eine Suchtproblematik, sind als chronisch Kranke im Falle einer
Covid-19-Infektion einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt. Eine Studie der
Universität Kalifornien kommt zu dem Schluss, dass die Gefahr einer
chronischen Lungenerkrankung bei Obdachlosen zwei bis drei Mal höher ist
als bei dem Rest der Bevölkerung.
Doch was passiert, wenn eine wohnungslose Person sich mit Covid-19
infiziert? Matzke glaubt, „es würde einfach untergehen“. Es gebe kein
richtiges Konzept für Corona und Wohnungslose, weder vom Sozial- noch vom
Gesundheitsamt. Viele ihrer Klient:innen hätten jetzt, in den kalten Tagen,
bereits Erkältungssymptome.
Falls eine Person etwa durch einen Krankenhausaufenthalt positiv auf das
Virus getestet werden sollte und in Quarantäne müsste, dann ist das nur
schwer umzusetzen, wenn die Person keinen festen Wohnsitz hat. Da die
Kosten für einen Coronatest bei den Krankenkassen liegen, die meisten
Wohnungslosen aber keine Krankenversicherung haben, müssten Vereine die
Kosten übernehmen, die ebenfalls auf städtische Förderung angewiesen sind.
Es fehle generell an einer aufsuchenden ärztlichen Versorgung gezielt für
Wohnungslose, die über ehrenamtliche Tätigkeiten hinausgeht, sagen die
Sozialarbeiter:innen. Es bräuchte Pflegebetten für Wohnungslose, wie es sie
etwa in Städten wie Frankfurt am Main und Hamburg gibt. Zudem kritisieren
Hörold und Matzke, dass die Übernachtungshäuser für Wohnungslose bis
September noch ganztägig inklusive Essensausgabe geöffnet und die
Tagesgebühren bis Juli ausgesetzt waren – diese Regelung nun aber nicht
mehr gelte. „Obwohl es jetzt auch noch kalt wird.“
Ende Oktober wandte sich die Geschäftsführerin der
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Werena Rosenke, öffentlich an
die Politik und forderte von Kanzlerin und Ministerpräsident:innen, die
neuen Coronabeschlüsse auch im Hinblick auf die Lage Wohnungsloser zu
beachten.
## Erfolglose Forderungen
„Es müssen sofort wieder zusätzliche Hotel- und Pensionszimmer,
Jugendherbergen, eventuell auch leerstehende Ferienwohnungen angemietet
werden, um eine Belegung unter Wahrung der Abstandsregeln zu ermöglichen“,
so Rosenke. „Bund und Länder sollten dafür unbürokratisch zusätzliche
finanzielle Mittel zur Verfügung stellen.“
Bislang ist die Forderung ohne einheitlichen Erfolg geblieben. In manchen
Städten wie Nürnberg oder Hamburg stellt die Stadt zusätzliche Unterkünfte
bereit. Leipzig beruft sich auf Anfrage darauf, dass es eine Einrichtung
für Obdachlose in Leipzig gibt, in denen eine Quarantäne in Containern
möglich wäre. Eine ganztägige Öffnung der Unterkünfte sei derzeit nicht
geplant, ob man Hotels oder ähnliches anmieten müsse, werde sich mit der
Kälte zeigen, so eine Sprecherin.
Die Kälte ist auch ohne Corona jedes Jahr die größte Bedrohung für
Wohnungslose. Im Winter 2018/2019 sind laut der Bundesarbeitsgemeinschaft
für Wohnungslosenhilfe deutschlandweit 12 Obdachlose durch niedrige
Temperaturen gestorben. Für die Streetworker heißt es in der kalten
Jahreszeit immer: Schlafsäcke organisieren, Tee verteilen, die Nummer des
Kältebusses weitergeben.
Von den Hilfsaktionen wie Gabenzäunen, an denen während des ersten
Lockdowns an vielen Orten Menschen Essen oder Hygieneartikel spendeten, ist
heute nur noch wenig zu sehen. „Am Anfang gab es eine große Welle der
Solidarität“, sagt Matzke. „Aber jetzt sind alle wieder mehr bei sich.“
Wegen der drohenden sächsischen Haushaltskürzungen ist auch der gesamte
Dresdner Ableger von Safe in Gefahr. Trotz kommender Kälte und steigenden
Infektionszahlen werden die Wohnungslosen damit zunehmend alleine gelassen.
Oder, wie Nico es sagt: „Uns hat niemand darüber informiert, was hier
eigentlich gerade passiert.“
4 Dec 2020
## AUTOREN
Sarah Ulrich
## TAGS
Sozialarbeit
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Wohnungslosigkeit
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Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Armut
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