# taz.de -- Sterbefasten als Ausweg: Ein letztes Loslassen | |
> Die Mutter ist krank und ohne Aussicht auf Heilung. Sie hört auf zu essen | |
> und zu trinken. Die Tochter begleitet sie und führt Tagebuch. | |
Bild: Nicht mehr essen, nicht mehr trinken. Aber nicht alleine sein | |
Die Finger zeigten ihre Krankheit zuerst. Manchmal konnte Gisela Kujawa, zu | |
dieser Zeit 76 Jahre alt, ein Glas nicht mehr halten, sie konnte nicht mehr | |
schreiben und musste die Handarbeiten, die sie gerne machte, liegen lassen. | |
Nach einer Odyssee durch Arztpraxen, verschiedenen Diagnosen und einer | |
schweren Wirbelsäulenoperation war drei Jahre später klar: Sie hat | |
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). | |
Da konnte Gisela Kujawa ihre Arme und Hände schon nicht mehr bewegen, | |
schlaff hingen sie an den gelähmten Schultern. ALS ist eine unheilbare | |
Krankheit, bei der die Verbindung des Nervensystems zu den Muskeln | |
allmählich zerstört wird. Lähmungen am ganzen Körper, auch der Schluck- und | |
Atemmuskulatur, sind die Folge. | |
Die 79-jährige Rentnerin aus Hannover, die gerne eigenständig lebte, als | |
geschiedene Frau ihre beiden Töchter alleine erzogen und als | |
Büroangestellte gearbeitet hatte, war verzweifelt. In den letzten Monaten | |
ihres Lebens wollte sie nicht als schwerer Pflegefall einem aussichtslosen | |
Leiden ausgeliefert sein. Da fragte sie ihre Tochter, ob es einen Weg gebe, | |
wie sie bald sterben könne. Mutter und Tochter sprachen über Sterbefasten, | |
Gisela Kujawa hatte schon davon gehört. Wenig später entschied sie sich für | |
diesen Weg. | |
„Unsere Mutter lebte immer selbstständig, sie wollte nicht ins Heim und sie | |
sagte immer, sie wolle uns nicht belasten“, berichtet Tochter Maren Kujawa, | |
ein Jahr, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Die 59-jährige ist Pastorin | |
und arbeitet als Seelsorgerin in einem Kinder- und Jugendhospiz südlich von | |
Bremen. Den Weg der Mutter dokumentierte sie auf deren Wunsch. Weil sie | |
mich kennt, gab sie mir das sorgfältig geführte Tagebuch zu lesen. Mit der | |
ausdrücklichen Erlaubnis, daraus zu zitieren. Es entspreche dem Wunsch | |
ihrer Mutter, dass über Sterbefasten informiert werde. Denn für sie waren | |
bei ihrer Entscheidung genaue Informationen, auch aus Fallgeschichten, | |
wesentlich. | |
Die Quellen der Geschichte über den Sterbeweg von Gisela Kujawa sind ein | |
langes, persönliches Gespräch, die Dokumentation ihrer Tochter und zwei | |
ausführliche Telefonate mit ihr ein Jahr nach dem Tod der Mutter. | |
„Du gehörst zu uns, auch wenn es dir schlecht geht“, habe Maren Kujawa der | |
Mutter mehrfach versichert. Sie sitzt am Esstisch, zwischen der hellgrauen | |
Küchenzeile und der gemütlichen Couchgarnitur, die am bodentiefen Fenster | |
steht. Sie und ihre Familie seien bereit gewesen, ihrer Mutter alle | |
Unterstützung zukommen zu lassen, die sie angesichts von Alter und | |
Krankheit gebraucht habe. Ihre Mutter habe nicht ins Pflegeheim gewollt. | |
Sie hatte ihre eigene Mutter neun Jahre lang im Pflegeheim begleitet und | |
gewusst, wie das Leben dort sei. | |
Beim Sterbefasten hört man aus eigenem Entschluss auf, Nahrung zu sich zu | |
nehmen, man trinkt auch nichts mehr. Angesichts einer oder mehrerer | |
unheilbarer Krankheiten nimmt man so Einfluss auf den Zeitpunkt des Todes. | |
Man möchte sein körperliches und seelisches Leiden vermindern und leitet | |
den Sterbeprozess ein. Weil das Wort „fasten“ oft in gesundheitlichen und | |
religiösen Zusammenhängen verwendet wird, werden auch die neutral | |
klingenden Abkürzungen FVNF – „Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und | |
Flüssigkeit“ – oder FVET – „Freiwilliger Verzicht auf Essen und Trinke… | |
gebraucht. Dieser Verzicht fällt in der letzten Lebensphase oft nicht | |
schwer, weil viele alte, kranke Menschen keinen Appetit oder Durst mehr | |
haben. Wer sich auf den Weg des Sterbefastens begibt, stirbt innerhalb | |
einer oder mehrerer Wochen, je nach Art der Erkrankungen, der körperlichen | |
Verfassung und der Einschränkungen bei der Flüssigkeitszufuhr. | |
Das überraschend liberale Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur | |
Sterbehilfe vom Februar 2020 belebte die ethischen Debatten um ein | |
menschenwürdiges Sterben. Der Raum für unterschiedliche Gedanken und | |
Gefühle, Haltungen und Handlungen im Grenzbereich zwischen Leben und Tod | |
ist geöffnet. Es gebe ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, das sich | |
aus der Menschenwürde und dem Persönlichkeitsrecht ableite, entschieden die | |
Verfassungsrichter*innen. Jeder könne „entsprechend seinem Verständnis von | |
Lebensqualität und Sinnhaftigkeit“ entscheiden, seinem Leben ein Ende zu | |
setzen. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, (...) hierfür bei Dritten | |
Hilfe zu suchen und diese in Anspruch zu nehmen“, führte Gerichtspräsident | |
Andreas Voßkuhle aus. Damit kippte das Bundesverfassungsgericht den erst | |
2015 neu eingeführten Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs. | |
Unstrittig war stets, dass die aktive Sterbehilfe, bei der ein tödliches | |
Medikament verabreicht wird, unter Strafe steht. Auch die passive | |
Sterbehilfe, bei der lebensverlängernde Maßnahmen verringert oder | |
eingestellt werden, stand nicht zur Verhandlung. Sie war und bleibt | |
straffrei. Die Karlsruher Richter*innen entschieden über den assistierten | |
Suizid. Ein tödliches Medikament wird dabei überlassen, aber nicht | |
verabreicht. Der assistierte Suizid war im Prinzip straffrei, aber nicht, | |
wenn er „geschäftsmäßig“, das heißt organisiert und auf Wiederholung | |
angelegt war. Das galt auch dann, wenn kein Geld damit verdient wurde. | |
Sterbehilfevereine, einige Palliativmediziner und betroffene, schwerkranke | |
Menschen hatten gegen den Paragrafen 217 geklagt. Sie siegten. Seitdem | |
können Ärzte ohne Angst vor straf- oder standesrechtlichen Folgen wieder | |
ans Bett ihrer sterbewilligen Patienten kommen. Auch die Sterbehilfevereine | |
können wieder tätig sein. | |
## Dem natürlichen Sterbevorgang ähnlich | |
Ist Sterbefasten überhaupt berührt von diesem Urteil? Bis vor Kurzem noch | |
war es eine der ganz wenigen sozial akzeptierten Möglichkeiten, aus eigenem | |
Entschluss aus dem Leben zu scheiden. Vor allem, weil Sterbefasten dem | |
natürlichen Sterbevorgang sehr ähnlich ist und die Entscheidung nach Beginn | |
noch einige Tage umkehrbar. Sogar wenn man aufgehört hat zu trinken, kann | |
man noch zurückkehren zu den Lebenden. Das gilt bis zur letzten | |
Ausscheidung von Urin. Danach sind die Nieren unheilbar geschädigt, und ein | |
weiteres Leben wäre nur mit Dialyse möglich. Leisten Angehörige, | |
Pfleger*innen und Ärzt*innen beim Sterbefasten also passive Sterbehilfe, | |
bei der alle medizinischen Behandlungen abgebrochen und eine künstliche | |
Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit abgelehnt werden? | |
Wenn sich ein Mensch angesichts einer schweren lebensbedrohlichen Krankheit | |
für Sterbefasten entscheide, sei der Freiwillige Verzicht auf Essen und | |
Trinken (FVET) nicht als Suizid zu bewerten. Das ist die Position der | |
Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Sterbefasten entspreche | |
aber auch nicht einem Therapieverzicht, denn Essen und Trinken sei bei | |
Menschen, die essen und trinken könnten, kein Teil der Therapie. FVET sei | |
als eine Handlung eigener Kategorie zu werten. Für diese 2019 | |
veröffentlichte Position arbeitete die DGP mit Expert*innen aus Medizin, | |
Pflege, Ethik und Recht zusammen. „Der Entschluss einer | |
entscheidungsfähigen Patient*in durch freiwilligen Verzicht auf Essen und | |
Trinken aus dem Leben zu scheiden, ist Ausdruck von Selbstbestimmung und | |
(…) als Sterbewunsch wahrzunehmen und zu respektieren“ heißt es dort. | |
Die beiden großen Kirchen betonen stets, dass kein alter, kranker Mensch | |
sich von der auf Effizienz getrimmten Gesellschaft, von Angehörigen oder | |
durch Mängel bei der Pflege zum baldigen Sterben gedrängt fühlen dürfe. | |
„Als Christen sind wir den Menschen nahe und geben sie nicht auf, auch wenn | |
keine Aussicht auf medizinischen Erfolg besteht“, schrieb Bischof | |
Franz-Josef Bode, Vorsitzender der Pastoralkommission der Deutschen | |
Bischofskonferenz, die zuständig ist für Analyse und Entwicklung der | |
Seelsorge, der christlichen Form von psychologischer Beratung, in Gemeinden | |
und in Einrichtungen, zum Beispiel in Krankenhäusern. | |
Die katholische Kirche möchte „Hilfe beim Sterben, aber nicht Hilfe zum | |
Sterben geben.“ Sterbefasten liegt für sie in einer Grauzone, eine | |
offizielle Stellungnahme dazu gibt es nicht. Anders die evangelischen | |
Kirchen: So sagte Andrea Peschke, die Beauftragte für Hospiz- und | |
Palliativarbeit der Landeskirche Hannovers, der größten Landeskirche | |
innerhalb der EKD 2018: „Natürlich muss über das Sterbefasten diskutiert | |
werden. Aber zur Menschenwürde gehört es auch, selbst zu entscheiden, wann | |
ich aufhöre zu essen und zu trinken.“ | |
## Nicht länger leben, nicht länger leiden | |
Im Sommer 2019 las Gisela Kujawa das Buch „Umgang mit Sterbefasten“, | |
veröffentlicht von der Trauer- und Sterbebegleiterin Christiane zur Nieden | |
und ihrem Mann Hans-Christoph zur Nieden, Arzt für Allgemein- und | |
Palliativmedizin im Ruhestand. Dort werden verschiedene Fälle von | |
Sterbefasten vorgestellt, sowohl von Menschen, für die Sterbefasten ein | |
guter Weg war als auch von solchen, die es abbrachen. Kujawa war bei ihrer | |
Lektüre vor allem von einer Frau beeindruckt, so berichtet es ihre Tochter | |
Maren im Tagebuch und erzählt davon auch später im Gespräch. Edith, 88, mit | |
vielen schmerzhaften neurologischen Krankheiten, mit Herzproblemen und | |
zunehmender Erblindung, wollte nicht länger leben und leiden. In den | |
letzten Tagen mit ihrer Tochter, die sie liebevoll begleitete, erzählte | |
Edith ihre ganze Lebensgeschichte, räumte auf, kündigte ihre Wohnung und | |
sämtliche Versicherungen. Edith betonte in Videos, die ihre Tochter | |
aufnahm, dass alle Ärzte sie für austherapiert hielten. Sterbefasten sei | |
für sie kein Suizid, sondern ihre freie Therapiewahl. Diese Einstellung | |
überzeugte Gisela Kujawa. Sie fasste ihren Entschluss, sprach ihn auch im | |
Beisein ihrer Ärztin aus. „Seid Ihr bereit, diesen Weg mitzugehen?“, fragte | |
sie ihre beiden Töchter. | |
„Ich bin erleichtert und entlastet. Es gibt eine Lösung. Das Schwere dieses | |
Weges ist viel weniger schwer als das, was mich sonst zu erwarten hätte“, | |
schrieb Gisela Kujawa am 1. Juli 2019 in ihr Tagebuch, da hatte sie gerade | |
ihre Entscheidung getroffen. Am 20. Juli schrieb ihre Tochter Maren: „Ich | |
besuche sie in Hannover. Wir bereiten die Liste für die Trauerfeier vor. | |
Wir reden über die Begleitung während des Fastens. Wir reden darüber, was | |
noch organisiert werden muss.“ Mit Verwunderung lese ich über die Stimmung | |
von Mutter und Tochter: „Wir freuen uns miteinander, genießen das Reden und | |
Sein. Mutti sagt, dass es ihr gut geht und sie sich, obwohl es absurd | |
klingt, darauf freut, dass es nun bald beginnt.“ | |
Gisela Kujawa und ihre Töchter hatten gemeinsam entschieden, dass Anfang | |
August das Sterbefasten beginnen solle. Die Hausärztin stellte Rezepte aus, | |
Morphium gegen Schmerzen, ein anderes Medikament gegen Unruhe und Angst, | |
und ein Abführmittel. Sie stellte auch einen Antrag auf Aufnahme ins | |
Hospiz, Gisela Kujawa kam auf die Warteliste. Während ihres Sterbefastens | |
wollte sie im Hospiz sein, gepflegt von Fachkräften, begleitet und | |
unterstützt von ihren Angehörigen. Auch ihre Töchter erhofften sich durch | |
das Hospiz Entlastung. Doch es kam anders. | |
Mit dem Sterbefasten kann – wenn die Voraussetzungen stimmen – eine | |
intensive, oft als wertvoll erlebte Zeit für den Sterbewilligen, dessen | |
Familie und Freunde beginnen. „Es sollte gut vorbereitet sein“, sagt | |
Sterbebegleiterin und Buchautorin Christiane zur Nieden am Telefon. Seit | |
sie vor zehn Jahren ihre Mutter beim Sterbefasten begleitet hat, widmet sie | |
sich diesem Thema. „Mir ist wichtig: Wenn einer gehen will, dass er gehen | |
darf“, sagt die 67-jährige. Aber sie betont, „nur mit Kommunikation und | |
Kontakt“ sei es „ein schönes Sterben“ und stellt bedauernd fest: „Immer | |
mehr Menschen sind heute einsam.“ Zusammen mit ihrem Mann bietet sie | |
Beratung per Telefon und E-Mail für Sterbewillige und deren Angehörige an. | |
Zwischen 30 und 50 Anrufe kämen pro Woche, berichtet sie. Auch Maren Kujawa | |
schrieb und telefonierte mit Christiane zur Nieden und bekam von ihr | |
hilfreiche Informationen für die Sterbebegleitung bei ihrer Mutter. | |
„Es war Aufbruchsstimmung“, erzählt Maren Kujawa ein Jahr nach dem Tod | |
ihrer Mutter. Als diese ihre Entscheidung getroffen hatte, wollte sie | |
möglichst bald anfangen. Schon zu Hause, noch ohne Bett im Hospiz, das sie | |
ja vermutlich bald bekäme. | |
Am 29. Juli fuhr Maren Kujawa mit gepacktem Koffer nach Hannover in die | |
Eineinhalb-Zimmer-Wohnung ihrer Mutter. Als sie dort ankam, hatte diese mit | |
dem Mittagessen ihre letzte Mahlzeit bereits zu sich genommen. Maren Kujawa | |
schrieb ins Tagebuch: „Meine Mutter ist erleichtert und freudig gestimmt. | |
Später erzählt sie, sie hätte keinen Tag hier mehr länger alleine leben | |
können. Sie ist gut gelaunt, es ist nett, wir reden, erzählen, planen, | |
lachen, gehen die Pflegemittel durch.“ | |
Am zweiten Tag notierte sie: „Mutti morgens superaktiv. Im Laufe des heißen | |
Tages zunehmend schlapper.“ Ihre Mutter nahm Abführmittel, um die bei jedem | |
Fasten entstehende Verstopfung zu vermeiden. Vom Hospiz kam die Nachricht, | |
dass Gisela Kujawa doch nicht so schnell einen Platz bekommen könne. Darauf | |
nahm Maren Kujawa Kontakt zur Spezialisierten Ambulanten | |
Palliativversorgung auf und bestellte vorsorglich einen fahrbaren | |
Toilettenstuhl. Abends notierte sie: „So viele Telefongespräche, viel Kraft | |
von meiner Schwester und mir.“ Ihre Schwester, die in der Nähe wohnte, | |
kochte und sie aß dort nun regelmäßig zu Abend. | |
Auch über die oft unruhigen Nächte gibt die Dokumentation der Tochter | |
Auskunft. In der Nacht zum dritten Tag brauchte Gisela Kujawa um halb drei | |
Uhr Hilfe bei ihrem Gang zur Toilette. Danach schlief sie nur noch schlecht | |
ein. Morgens half ihre Tochter beim Duschen. Danach schaute sie | |
Frühstücksfernsehen und nahm wieder Abführmittel. Sie erzählte Tochter | |
Maren, wie anstrengend die letzten Wochen für sie gewesen seien, wie | |
unverstanden sie sich auch von manchen Menschen gefühlt habe. Deren | |
Drängen, sie solle doch weiter Therapien versuchen, habe sie belastet. Aber | |
es habe auch echte Hilfen gegeben, besonders die der Nachbarin. | |
## Doch nicht ins Hospiz | |
Am Nachmittag dieses dritten Tages kamen zwei Mitarbeiter*innen des | |
Hospizes, um Gisela Kujawa kennenzulernen und einige Fragen zu klären. Beim | |
Abschied stellten sie in Aussicht, sie könne in der nächsten Woche ins | |
Hospiz kommen. Danach fühlten sich Mutter und Tochter erschöpft. „Mutti | |
legt sich mit einem feuchten Waschlappen zum Nuckeln ins Zimmer. Sie hat | |
sehr wenig getrunken, ein bisschen Bauchweh, Schwäche und geht früh ins | |
Bett“ notierte Maren Kujawa. Beide Frauen ahnten, dass es nicht klappen | |
könnte mit dem Hospiz. Ein Bett erst in der nächsten Woche – das liegt sehr | |
weit weg, wenn man nur noch wenige Tage zu leben hat. Gisela Kujawa weinte. | |
Ihrer Tochter gestand sie schließlich, dass vor allem deshalb ins Hospiz | |
wollte, um sie und die anderen Angehörigen nicht zu sehr zu belasten. Maren | |
Kujawa beruhigte sie: Sie habe sich doch frei genommen, sie habe Zeit und | |
wolle diese Zeit auch mit ihr verbringen, sie sei ja nur noch so kurz. | |
Beide weinten. | |
Am vierten Tag, am 1. August, hörte Gisela Kujawa auf zu trinken. Morgens | |
hatte sie ein Kloßgefühl im Hals und spuckte Schleim aus. Sie schaute das | |
Morgenmagazin, nahm wieder einen mit Zitronenwasser getränkten | |
Waschlappenzipfel zum Nuckeln. So blieben ihre Lippen und die Mundhöhle | |
feucht. Die empfindliche Haut von Lippen und Gaumen gut zu pflegen, ist | |
wichtig. Trotz des Hitzesommers hatte Gisela Kujawa keinen Durst. Am | |
Nachmittag fingen ihre Hände und Finger an zu kribbeln, ihre Zehen fühlten | |
sich steif an. Sie hatte Schmerzen und konnte nicht mehr ruhig liegen. | |
Tochter Maren massierte ihren ganzen Körper, nahm danach Kontakt zur | |
Hausärztin auf und zur Sterbebegleiterin zur Nieden. Auf deren Rat hin gab | |
sie ihrer Mutter abends eine Tablette Morphium gegen die Schmerzen. Die | |
Nacht war ruhig, Gisela Kujawa schlief bis zum nächsten Morgen. | |
Sterbefasten ist dem natürlichen Sterben sehr ähnlich. Der Körper stellt | |
die Funktionen seiner Organe nach und nach ein, deshalb braucht er dafür | |
keine Energie in Form von Nahrung mehr. Auch Herz und Lunge werden in den | |
letzten Tagen so schwach, dass Flüssigkeit nicht mehr verarbeitet werden | |
kann. Es bilden sich Ansammlungen von Wasser im Gewebe der Beine, des | |
Bauches und auch der Lunge. Bei manchen Sterbenden fängt der Atem deshalb | |
an zu rasseln. Mit dem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit trocknet der | |
Körper langsam aus. Das Gehirn bekommt zu wenig Sauerstoff, bei manchen | |
Menschen bildet es dann körpereigene Opiate, die Schmerzen lindern und die | |
Stimmung aufhellen können. Wie stark die Schmerzen, Unruhezustände, Ängste | |
und der Durst beim Sterben sind, ist individuell. Menschen sterben wie sie | |
leben – verschieden. | |
Gisela Kujawa wog noch 45 Kilo. So steht es im Tagebuch beim siebten Tag | |
des Sterbefastens. Am Morgen wollte sie Kaffeeduft riechen, danach schlief | |
sie wieder. Besuch wollte sie nur noch von Angehörigen und von zwei | |
Nachbarinnen, der Kontakt zu anderen Menschen wurde zu anstrengend. Als | |
eine dieser Nachbarinnen sah, wie schmal Gisela Kujawa mittlerweile war, | |
sagte sie beim Abschied an der Tür zu Maren Kujawa: „So ist sie, ihre | |
Mutter. Was sie will, zieht sie durch“. Sterbefasten, so erkannte sie | |
intuitiv, ist nur für Menschen geeignet, die gewohnt sind, selbst | |
Entscheidungen zu treffen und diese auch durchzuhalten. | |
Wesentlich sei, dass „eine entscheidungsfähige Person aufgrund | |
unerträglichen anhaltenden Leidens freiwillig und bewusst (…) aus freiem | |
Willen handelt“, erklärt dazu die Deutsche Gesellschaft für | |
Palliativmedizin. Damit sind Bedingungen formuliert, die längst nicht alle | |
Menschen, die sterben möchten, erfüllen können. Bei psychischen | |
Grunderkrankungen, zum Beispiel bei Magersucht oder Depressionen, ist dies | |
nicht der Fall. Auch für Menschen, die an Demenz leiden, ist es keine | |
Option. | |
Ein weiteres Auschlusskriterium: zu jung sein. Der Körper hat auch im | |
mittleren Alter noch einen hohen Grundumsatz an Energie. Beim Verzicht auf | |
Nahrung und Flüssigkeit tritt deshalb quälender Mangel auf. Nur wer 75 und | |
älter ist und ernsthaft erkrankt, hat einen so geschwächten Körper, dass | |
der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zum baldigen Tod führt. Auch von | |
einer einsamen Entscheidung für Sterbefasten ist klar abzuraten, | |
Unterstützung und Begleitung durch Angehörige und medizinische | |
Palliativteams ist wesentlich. | |
Die Abende gestaltete Maren Kujawa mit einem Ritual. Sie schlug | |
Klangschalen an und brachte damit den dünnen Körper ihrer Mutter in | |
Schwingungen, sie massierte sie und las Karten und Briefe von Menschen vor, | |
die zum Abschied geschrieben hatten. Am Ende jedes Tages sangen und beteten | |
Mutter und Tochter gemeinsam. „Meine Mutter war nie eine Schmusemama | |
gewesen. Jetzt war da eine neue Innigkeit, die wir so noch nie hatten“, | |
erinnert sie sich heute. „Die Pflege war ein Liebesdienst. Ich habe es | |
gerne gemacht. Ich möchte diese Zeit nicht missen“. | |
Aber diese Zeit hielt auch viele Herausforderungen bereit, besonders in der | |
zweiten Woche. Da waren Nächte voller Unruhe und Tage, in denen Maren | |
Kujawa müde und erschöpft war. Sie war unsicher mit der Dosierung der | |
starken Medikamente. Wie viel sollte sie ihrer Mutter bei Schmerzen, Unruhe | |
und Angst geben? Zwar hatte sie Erfahrung mit Pflege, aber solche | |
Entscheidungen waren neu. Deshalb war der Kontakt zur Haus- und | |
Palliativärztin, zur Sterbebegleiterin und zur Krankenschwester der | |
Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung wichtig. | |
Der elfte Tag des Sterbefastens: Gisela Kujawa fehlte die Kraft zu sitzen, | |
sie wollte fast nur noch liegen. Tochter Maren schrieb auf: „Der Umgang mit | |
ihr ist schön. Sie fragte heute nach dem Datum und wird so weich und redet | |
ganz leise und heiser. Ihre Hörgeräte möchte sie nicht mehr und auch das | |
Gebiss hat sie seit heute Mittag nicht mehr im Mund. Ich lege feuchte | |
Waschlappen auf Stirn, Arme und ein Bein und das tut ihr gut. Heute war ein | |
schöner Tag mit ihr. Sie fühlt sich mit den Waschlappen als ob Wasser um | |
sie kreist, das mag sie.“ Die Nacht war wieder unruhig. Um halb drei legte | |
Maren Kujawa, die sonst im Wohnzimmer schlief, ihre Matratze neben das Bett | |
ihrer Mutter und beruhigte sie mit ihrer Nähe. | |
Auch in Pflegeheimen gibt es Sterbefasten. Allerdings vermeidet man dort | |
diesen Begriff und spricht von „Freiwilligem Verzicht auf Essen und | |
Trinken“. Alte Menschen, die schon lange ein Pflegefall sind, treffen | |
möglicherweise nur zum Teil eine bewusste Entscheidung. Aber sie haben | |
keinen Hunger und Durst mehr, sie pressen die Lippen aufeinander und drehen | |
ihren Kopf weg. Üblicherweise folgt im Heim dann eine „ethische | |
Fallbesprechung“, bei der Arzt, Heimleitung, Pfleger und Angehörige sich | |
beraten. | |
Die Heimleitungen reagieren unterschiedlich. Manche haben Angst vor | |
Beanstandungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Eine | |
Ernährung gegen den Willen der Heimbewohner*in wäre jedoch eine | |
Körperverletzung und damit strafbar. Die Träger der Heime, oft die Kirchen, | |
setzen sich mit der Thematik zunehmend auseinander. So kam der Ethikrat | |
katholischer Träger von Pflegeeinrichtungen im Bistum Trier vor über zwei | |
Jahren zum Schluss, es sei „ungeachtet berechtigter moralischer Bedenken | |
Pflicht der Einrichtung, den Sterbenden nicht sich selbst zu überlassen, | |
sondern Hilfe zu leisten.“ | |
In der Nacht zum dreizehnten Tag fiel Gisela Kujawa nachts aus dem Bett. | |
Mit großer Anstrengung hievte ihre Tochter die kraftlos gewordene Mutter | |
wieder zurück. Aber die blieb weiter unruhig. Nach einigen Stunden gab | |
Maren Kujawa ihr eineinhalb Tabletten des starken Beruhigungsmittels Tavor. | |
So konnten Mutter und Tochter noch etwas schlafen. Am Tag danach schrieb | |
Maren Kujawa: „Sie ist unruhig, will, dass ich sie ausziehe, aber sie ist | |
ausgezogen, nachts hatte sie auch wieder gesagt, alles zieht raus.“ | |
Um die Mittagszeit, so das Tagebuch, bewegte Gisela Kujawa unruhig ihre | |
Arme und Beine und sprach mit nur noch schwer verständlicher Stimme. Maren | |
Kujawa verstand einmal „Arsch voll“ und fragte, ob sie mal den Arsch voll | |
bekommen habe. Ihre Mutter nickte. „Ich frage: Oma? sie verneint. Ich | |
frage: Opa? und sie bejaht“. Sie gab ihr eine halbe Beruhigungstablette und | |
legte sich neben sie. Später lächelte ihre Mutter und sagte mehrmals „Alles | |
geht weg, aus Armen, Beinen.“ Aber es tue nicht weh. Abends aber kamen die | |
Schmerzen zurück. Gisela Kujawa kommunizierte nur noch über Nicken und | |
Schütteln ihres Kopfes. Ihre Tochter rief den ambulanten Palliativdienst. | |
Eine Krankenschwester half Maren Kujawa eine Spritze mit niedrig dosiertem | |
Morphium aufzuziehen. Jederzeit könne es nun geschehen, sagte die | |
Krankenschwester. Es gehe nur noch um das letzte Loslassen. | |
Am vierzehnten Tag, an einem Sonntag, fand der Weg von Gisela Kujawa sein | |
Ende. Um zehn Uhr morgens kam ihre Enkelin, spielte an ihrem Bett Gitarre. | |
Bis zum frühen Nachmittag kam Enkel, Schwiegersohn und beide Töchter ans | |
Bett und verabschiedeten sich. Danach feierte eine Pastorin mit der ganzen | |
Familie ein Abschiedsritual. | |
Gisela Kujawa erhielt den Segen. Am frühen Abend des 11. August 2019 starb | |
sie. Tochter Maren schrieb ins Tagebuch: „Die Sonne kommt durch die Wolken | |
(…) Wir halten sie an der Hand und am Kopf. Es ist wie ein friedliches | |
Ausatmen.“ | |
8 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Gunhild Seyfert | |
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