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# taz.de -- Debatte um Sterbehilfe: 15 Gramm Gift, nur für den Fall
> Hans-Jürgen Brennecke kämpft für sein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.
> Ein Betäubungsmittel steht ihm zu, das Gesundheitsministerium blockiert.
Bild: Hans-Jürgen Brennecke 2018 in seinem Haus in Reppensted
Berlin taz | Es wäre nur ein kleines Fläschchen, das ungeöffnet und
lichtgeschützt in Hans-Jürgen Brenneckes Medizinschrank stehen würde. Die
Gewissheit, dieses kleine Fläschchen jederzeit nutzen zu können, würde
Brenneckes Lebensqualität extrem verbessern, das weiß er. Der 76-Jährige
hat Krebs und in dem Fläschchen befände sich Natrium-Pentobarbital. 15
Gramm des weißen Pulvers bräuchte er, um sein Leben zu beenden. Es gilt als
sicherstes Arzneimittel für diesen Zweck.
„Eine Riesenberuhigung wäre es, zu wissen, dass ich im Notfall Zugriff
darauf habe“, sagt er. „Keiner weiß, wie sein Ende aussieht, ob er es am
Schluss braucht, oder nicht. Aber die Möglichkeit, es zu gebrauchen, gäbe
mir die Option eines selbstbestimmten Todes.“ Das Fläschchen könnte schon
seit Jahren in seinem Besitz sein und ihm das Leben erleichtern. Ist es
aber nicht.
Im März 2017 entschied das Bundesverwaltungsgericht Leipzig, dass
Schwerstkranke ein Recht auf die Herausgabe von Natrium-Pentobarbital haben
können. Menschen in „extremen Ausnahmesituationen“ müsse der Zugang zu
einer tödlichen Dosis des Betäubungsmittels ermöglicht werden, hieß es in
dem Urteil damals.
Brennecke stellte daraufhin einen Antrag an das Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Die Behörde forderte ihn auf,
Gutachten einzureichen: über den prognostizierten Verlauf seiner Krankheit,
über seine geistige Zurechnungsfähigkeit. Brennecke ist damals
optimistisch, kann nachvollziehen, dass jeder Fall geprüft werden muss. 65
Seiten schickt er ein. Einige Monate später lehnt das BfArM seinen Antrag
ab.
## Zugriff auf das Betäubungsmittel, für den Notfall
Im August 2018, anderthalb Jahre nach dem Urteil, findet der
[1][Tagesspiegel] heraus, dass sich das Bundesministerium für Gesundheit
von Anfang an geweigert hat, dem Richterspruch Folge zu leisten. Denn er
„würde die bisherige ethisch-politische Linie von Herrn Minister
konterkarieren“. So steht es in einem Vermerk, der vier Tage nach dem
Urteil verfasst wurde und sich noch auf den ehemaligen Minister Hermann
Gröhe (CDU) bezieht.
Der Tagesspiegel hatte sich die Akteneinsicht vor dem Verwaltungsgericht
Köln erklagt. Ende Juni 2018 bittet ein Staatssekretär im
Gesundheitsministerium das BfArM, alle Anträge abzulehnen. „Die Bitte eines
vorgesetzten Ministeriums ist natürlich eine Dienstanweisung“, sagt
Brennecke und lacht.
Bis zu diesem Zeitpunkt war es 109 Menschen so ergangen wie ihm. Sie hatten
Anträge gestellt, unwissend, dass das von Anfang an völlig aussichtslos
war. Sie hatten Hoffnung gehabt, denn es wurde sich ja vermeintlich mit
ihren Einzelfällen befasst.
„Gutachten anzuleiern ist anstrengend, langwierig und verursacht erhebliche
Kosten“, sagt Brennecke. Schon Menschen, die völlig gesund sind, kann der
Umgang mit Bürokratie viel Energie abverlangen. „Nur handelte es sich bei
diesen Antragstellern um Menschen, die sterbenskrank sind.“
## Die Bürokratie als Hürde
Hans-Jürgen Brennecke wuchs in Hamburg auf und lebt heute in der Nähe von
Lüneburg. Er ist Diplompädagoge und arbeitete 40 Jahre lang als
Sozialarbeiter für Jugendliche. 2015 erhielt er die Diagnose
Burkitt-Lymphom, eine besonders schnell wachsende Tumorart. Seitdem kämpft
Brennecke für sein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.
Am 26. Februar 2020 sitzt er in seinem Wohnzimmer und fixiert Andreas
Voßkuhle auf dem Fernsehbildschirm, als der sagt: „Die Entscheidung des
Einzelnen, nach seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit
seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen, ist als Akt autonomer
Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“
Damit kippen die RichterInnen den Paragrafen 217, das Verbot
geschäftsmäßiger Sterbehilfe, und ermöglichen in Deutschland den
assistierten Suizid. Menschen haben die Freiheit, sich das Leben zu nehmen
und dabei Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen.
Für Brennecke, der bei den zweitägigen Verhandlungen in Karlsruhe anwesend
war, ist die Entscheidung des Gerichts eine „Sensation“, ein
„Jahrhunderturteil“. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihm das
Statement eines seiner Mitstreiter, Harald Mayer, 47 Jahre alt, ehemaliger
Feuerwehrmann, der seit Jahren unter Multipler Sklerose leidet. „Der hat
damals in die Fernsehkamera gesagt, er wäre am liebsten aus seinem
Rollstuhl aufgesprungen. Das fand ich ein sehr schönes Bild.“
## „Akt autonomer Selbstbestimmung“
Für die Bundesregierung bedeutet das Urteil, dass sie nun [2][Regeln
schaffen muss], um die Beihilfe zum Suizid zu ermöglichen. Doch wie schon
Hermann Gröhe weigert sich der aktuelle Bundesgesundheitsminister Jens
Spahn, dieser Pflicht nachzukommen. Anträge auf Natrium-Pentobarbital
werden nach wie vor abgelehnt.
Lediglich ein einziges Mal, am Tag des Urteils, äußerte Spahn sich
öffentlich über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Bei Sandra
Maischberger sagt er, es gebe keinen Anspruch darauf, dass jemand beim
Suizid helfen müsse. Das gelte allerdings nicht für den Staat, der die
Grundrechte seiner BürgerInnen umzusetzen habe, entgegnet
Verfassungsrechtler Hubertus Gersdorf im NDR-Magazin „[3][Panorama]“.
Mittlerweile sind über neun Monate vergangen, die Brennecke mit
Natrium-Pentobarbital im Medizinschrank deutlich entspannter verlebt hätte.
„Es ist wirklich erschütternd mit anzusehen, dass ein Minister den
Rechtsstaat mit Füßen tritt“, sagt er. Jens Spahn tut dies auch mit der
Begründung, dass er fürchtet, eine neue Regelung könne dazu führen, dass
aus einem Recht Gewöhnung oder sogar eine Pflicht für Alte und Kranke
werde, die ihrer Familie [4][nicht zur Last fallen wollen].
Dass das sehr unwahrscheinlich ist, zeigen Zahlen aus dem US-Bundesstaat
Oregon. Dort gilt seit 1998 ein Gesetz, das unheilbar Erkrankten das Recht
auf ein tödliches Medikament einräumt, vorausgesetzt zwei ÄrztInnen haben
die Urteilsfähigkeit des Patienten oder der Patientin sowie die
Aussichtslosigkeit auf Heilung überprüft. Von 1.000 Todesfällen sterben im
Durchschnitt zwei Menschen durch ärztliche Suizidhilfe.
## Hohe gesellschaftliche Befürwortung
Mitte April betonte Spahn in einem Schreiben an Rechts- und
GesundheitsexpertInnen, dass ein neues Sterbehilfegesetz auf breite
Zustimmung in der Gesellschaft stoßen müsse. Eine Mehrheit in der
Bevölkerung für selbstbestimmtes Sterben gibt es allerdings längst.
Laut [5][einer Studie von Infratest dimap], die kurz vor dem Urteil im
Februar veröffentlicht wurde, sprachen sich 67 Prozent gegen den damals
noch geltenden Paragrafen 217 aus, 81 Prozent befürworteten ausdrücklich,
dass es ÄrztInnen gestattet sein sollte, Menschen beim Suizid zu
unterstützen.
Auch Brennecke weiß, dass es keinen Klärungsbedarf mehr gibt, wenn es um
die Zustimmung in der Bevölkerung geht. „Es ist eine bodenlose Frechheit zu
behaupten, man bräuchte in dieser Frage noch Zeit.“
Hans-Jürgen Brennecke ist froh, dass er dabei sein konnte, als das
„fantastische Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts fiel. Auch seine
Umsetzung würde er gerne noch erleben.
23 Nov 2020
## LINKS
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/leiden-von-schwerkranken-regierung-igno…
[2] /Streit-um-assistierten-Suizid-in-Pflegeheim/!5697550
[3] https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2020/Sterbehilfe-Spahn-boykottiert-…
[4] /Sterbefasten-als-Ausweg/!5723593
[5] https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuel…
## AUTOREN
Leonie Gubela
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