# taz.de -- Streit um assistierten Suizid in Pflegeheim: Tod auf Bestellung | |
> Ein Sterbehilfeverein hat in einem Pflegeheim bei einem assistierten | |
> Suizid geholfen, ganz legal. Palliativmediziner befürchten einen | |
> Präzedenzfall. | |
Bild: Unbeschriftete Grabsteine im Hof eines Steinmetzes in Bonn | |
BERLIN taz | Der 90-jährige Mann lebte jahrelang in einem Appartement in | |
einer Pflegeeinrichtung, zuerst mit seiner Frau zusammen und nach ihrem Tod | |
allein. Seine körperlichen Gebrechen verschlimmerten sich. Im Juni | |
entschloss er sich, mithilfe des [1][Vereins Sterbehilfe] aus dem Leben zu | |
scheiden. Die Heimleitung wurde informiert, prüfte den Fall und erklärte | |
dann, dass sie den Suizid des Bewohners dulden werde. Der Mann starb Anfang | |
Juni mithilfe eines Medikamentencocktails in seinem Appartement – und | |
entfachte damit eine Debatte um Sterbehilfe für PflegeheimbewohnerInnen. | |
„Es war sein sehnlichster Wunsch, zu sterben“, sagt Jakob Jaros, | |
Geschäftsführer des Vereins, der taz. Nach dem [2][Urteil des | |
Bundesverfassungsgerichts] vom 26. Februar ist der ärztlich assistierte | |
Suizid in Deutschland nicht mehr verboten. In einigen Bundesländern | |
untersagt auch das ärztliche Standesrecht die Beihilfe zum Suizid nicht. | |
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts habe der Verein Sterbehilfe | |
bisher in 24 Fällen in Deutschland Suizidhilfe geleistet, so Jaros. | |
Der Fall in Norddeutschland ist nach Mitteilung des Vereins aber der erste | |
Fall, in dem ein Pflegebedürftiger, der in einem Heim lebte, mit ärztlicher | |
Hilfe aus dem Leben schied. Im Falle des Heimbewohners brachte Roger Kusch, | |
umstrittener Gründer des Vereins und Jurist, selbst die zuvor ärztlich | |
verordneten Medikamente in die Pflegeeinrichtung. Da der alte Mann schon | |
lange seine Wohnung aufgegeben hatte, blieb auch nur das Appartement im | |
Heim für den Vollzug des Suizids, schildert Jaros. | |
Der Verein fordert in einer Erklärung nun alle Alten- und Pflegeheime und | |
deren Betriebsgesellschaften auf, ihre Hausordnungen so zu ergänzen, „dass | |
für Bewohnerinnen und Bewohner sowie für potentiell Suizidhelfende klar | |
ist, dass das Grundrecht auf Suizid und auf Suizidhilfe gemäß dem Urteil | |
des Bundesverfassungsgerichts jederzeit ausgeübt werden kann“. „Wir laden | |
die Heime dazu ein, sich damit zu beschäftigen. Es wäre gut, wenn das | |
Selbstbestimmungsrecht respektiert wird“, sagt Jaros. | |
## Angst vor Schmerzen | |
Beim Verein Sterbehilfe zahlen die Suizidwilligen im Schnitt 9.000 Euro für | |
die Vereinsmitgliedschaft und die Sterbebegleitung. Sie bekommen ein | |
ärztliches Gespräch und ein Gutachten, der Arzt verschreibt eine | |
Kombination aus Medikamenten, die in Deutschland rezeptpflichtig, aber | |
legal sind. Ein Suizidhelfer, der kein Arzt sein muss, bringt den | |
Medikamentencocktail vorbei, der Klient oder die Klientin muss das Präparat | |
aber grundsätzlich selbst einnehmen. | |
Dass Infos über die Möglichkeit des assistierten Suizids in den Heimen | |
kursieren und die Zahl der Selbsttötungen dadurch ansteigen könnte, | |
beunruhigt die Palliativmediziner. „Der Fall in dem Altenheim macht in | |
besorgniserregender Weise klar, wie das Urteil des | |
Bundesverfassungsgerichts von Sterbehilfevereinen genutzt werden kann, um | |
ein Angebot nach ihrem Zuschnitt zu fordern“, sagt Benno Bolze, | |
Geschäftsführer des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV), der | |
taz. In den Hausordnungen dieses Grundrecht auch noch zu betonen mit | |
Hinweisen auf die Beihilfe, wird vom Verband strikt abgelehnt. | |
„Suizidhilfe darf auch unter Vermittlung anderer niemals zu einer gängigen | |
Behandlungsmethode für Heimbewohner werden“, so Bolze. „Hinter dem Wunsch | |
nach einem Suizid steht oft der Wunsch, so nicht weiterleben zu wollen. Da | |
spielt die Angst vor dem Alleinsein, vor Schmerzen eine große Rolle“. Bolze | |
fürchtet, dass sich ältere Menschen, die in Pflegeheimen leben und viel | |
Versorgung und Begleitung brauchen, „unter Druck gesetzt“ fühlen könnten, | |
wenn die Möglichkeiten des Suizids erleichtert werden. | |
Pflegebedürftige in Seniorenresidenzen oder Heimen gelten allerdings rein | |
rechtlich dort als „Bewohner“ und es dürfte der Heimleitung nicht ohne | |
Weiteres erlaubt sein, ihnen das Grundrecht auf einen assistierten Suizid | |
zu verweigern. „Man kann einem Menschen eine Rechtsposition nicht deshalb | |
verwehren, weil er sich in einem Heim aufhält“, sagt Dieter Graefe, | |
Justitiar bei Dignitas. Auch der Verein [3][Dignitas] bietet für | |
Schwerstkranke und -leidende den ärztlich assistierten Suizid an, hatte | |
aber noch keinen Fall in einem Pflegeheim. | |
## Heikel: Welche Medikamenten nutzen? | |
Matthias Steiner, Sprecher der Augustinum GmbH, die bundesweit 23 | |
Seniorenresidenzen betreibt, sagte auf Anfrage der taz, in „schwierigen | |
Krankheits- und Sterbefällen“ setze das Augustinum „auf ein intensives | |
Angebot der Palliative Care, um Betroffene angemessen zu begleiten“. | |
Gleichwohl sei das Selbstbestimmungsrecht der Bewohnerinnen und Bewohner | |
für die Einrichtungen „von zentraler Bedeutung“. „Dazu gehört auch, dass | |
die Bewohnerinnen und Bewohner selbst entscheiden, wen sie zu sich in die | |
Wohnung einladen“, so Steiner. | |
Auch Tanja Kurz, Sprecherin der Korian-Gruppe, eines der größten | |
Pflegeheimbetreiber, erklärte, Korian respektiere „das Recht auf | |
Selbstbestimmung“ und den „letzten Willen“ der Bewohner, „im Rahmen der | |
geltenden Gesetze“. Die Heime weisen dabei darauf hin, dass Leitung und | |
Personal in einem Pflegeheim ja auch akzeptieren müssen, wenn BewohnerInnen | |
etwa die [4][Nahrungsaufnahme verweigern und dadurch versterben]. | |
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat eine Gesetzesinitiative | |
angekündigt, um die Verfahren für den ärztlich assistierten Suizid zu | |
reglementieren. Ein solches Reglement hat das Bundesverfassungsgericht | |
ausdrücklich zugelassen. Bisher bekannt gewordene außerparlamentarische | |
Vorschläge für einen [5][Gesetzentwurf,] darunter einer unter Beteiligung | |
des Palliativmediziners Gian Domenico Borasio, zielen darauf ab, vor dem | |
ärztlich assistierten Suizid mindestens noch einen zweiten ärztlichen | |
Gutachter heranziehen zu müssen und eine Frist von mindestens zehn Tagen | |
zwischen der Beratung und dem Suizid einzuhalten. Auch solle es verboten | |
sein, Werbung für die Suizidhilfe zu machen. | |
Heikel ist nach wie vor die Medikamentenfrage. Das sicherste Medikament, | |
Natrium-Pentobarbital, ist zwar in der Schweiz für die Sterbehilfe | |
zugelassen, in Deutschland aber nur zum Einschläfern von Tieren erlaubt. | |
Obwohl es ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gibt, das Präparat in | |
Ausnahmefällen auch für den ärztlich assistierten Suizid zu gewähren, | |
gestattet der Bundesgesundheitsminister dies bisher nicht. Dignitas und der | |
Verein Sterbehilfe greifen daher auf andere, selbst zusammengestellte | |
Medikamentenkombinationen zurück. | |
2 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sterbehilfe.de/ | |
[2] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/0… | |
[3] http://www.dignitas.de/ | |
[4] /Debatte-Sterbefasten/!5310404 | |
[5] /Aerzte-als-Suizidhelfer/!5691058/ | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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