# taz.de -- Coronakrise im Pflegeheim: 100 Tage Einsamkeit | |
> Die Mutter unserer Autorin lebt im Kreuzberger Pflegeheim. Die | |
> Corona-Isolation setzt ihr so sehr zu, dass ihre Tochter sie kaum | |
> wiedererkennt. | |
Bild: Auch die schlichte Nähe beim Händehalten war lange Zeit nicht möglich | |
BERLIN taz | Drei Monate fast habe ich meine Mutter im Pflegeheim nicht | |
besuchen dürfen. Ausnahmsweise sitze ich ihr beim Arzt gegenüber und | |
erkenne sie nicht mehr. Ihr Blick ist trübe geworden, die Augen | |
eingefallen, der Teint fahl. Kein Lippenstift, kein Rouge aufgetragen, | |
sonst geht sie ohne nicht aus dem Haus. Ich will nicht wahrhaben, dass die | |
gebeugte Gestalt meine Mutter ist, mit diesen Streichholzbeinchen, wie eine | |
Magersüchtige mit zu großem Kopf. Das Unterhemd schlottert, sie schämt | |
sich, es auszuziehen. Die weißen Arme sind fleckig, vernarbt von Wunden und | |
Kratzspuren der Entzündungen, die infolge allergischer Reaktionen durch | |
starke opioide Schmerzmittel entstehen. | |
Meine Mutter lebte bereits zwei Jahre in einem Kreuzberger Pflegeheim, als | |
das neuartige Virus Sars-CoV-2 sich verbreitete. Die soziale Isolation hat | |
sie apathisch gemacht, als hätte jemand den Stecker gezogen. Schon vorher | |
hat sie einiges durchgestanden: einen schweren Schlaganfall mit | |
anschließendem Koma, einen weiteren Hirninfarkt, einen Herzstillstand mit | |
Wiederbelebung. Sie hat eine halbseitige Lähmung zurückbehalten, sitzt im | |
Rollstuhl und wollte doch immer leben. | |
Nach alldem frage ich mich jedoch, ob sie schlussendlich im Heim verhungern | |
wird, weil ihre Bedürfnisse nicht zählen angesichts des Schutzbedürfnisses | |
all der anderen. Ich werfe alle Abstandsregeln über Bord, traurig, dass | |
dieser sterile Ort – das Arztzimmer – der einzige ist, wo ich sie in den | |
Arm nehmen und streicheln kann. „Ich vermisse meine Therapeuten“, sagt sie. | |
Von Tag zu Tag verkürzen sich ihre Sehnen in den gelähmten Gliedmaßen, von | |
Tag zu Tag nimmt der Schmerz zu, weil sie nicht bewegt werden. Ein Termin | |
bei einem neuen Spezialisten für Schmerztherapie und Hanfmedizin ist | |
aufgrund der Pandemie abgesagt worden. | |
Mein Telefon steht nicht mehr still, ständig bekomme ich Anrufe aus dem | |
Heim, und oft gehe ich schon gar nicht mehr ran. Entweder ist sie wütend, | |
oder sie weint. Ich erfahre von ihrem Bulimie-Anfall. Sie hatte sich die | |
Zahnbürste in den Rachen gesteckt, um das Essen herauszuwürgen. Zu Anfang | |
des von der Pflegeleitung verordneten Besuchsverbots im Heim glaubte sie | |
vielleicht, ihre Wut würde allen Angst machen und sie könnte einen Besuch | |
ihrer Tochter erzwingen. | |
## Von Tag zu Tag seltsamer | |
Die Ärztin im Haus will sie auf Demenz untersuchen lassen, dabei zeigte sie | |
bislang keinerlei Anzeichen für eine Verwirrung oder starken | |
Realitätsverlust. Doch ihr Verhalten wird von Tag zu Tag seltsamer, was | |
beängstigend ist. | |
Sie behauptet, es würden Dinge aus ihrem Zimmer verschwinden. Mal ist es | |
ein Spiegel, mal eine Ananas oder eine Tablette. Sie verdächtigt das | |
Pflegepersonal, sie zu bestehlen, und streitet ständig über Kleinigkeiten. | |
Gehässig und bitter ist sie geworden, denke ich, die Pflegerinnen und | |
Pfleger sind erschöpft, das höre ich heraus, wenn ich mit ihnen spreche. | |
Die Situation eskaliert, als sie randaliert, eine Vase an der Wand | |
zerschmettert. „Ich bringe mich um, wenn sie mich nicht rauslassen“, | |
schreit sie ins Telefon. Sie knallt den Hörer auf, weil ich ihr nicht | |
helfen kann. Aus Verzweiflung nimmt sie ein Messer und schneidet sich ins | |
Bein. | |
Es folgt ein kurzer Aufenthalt in der Psychiatrie, danach hat sie mit | |
ernsthaften Atemproblemen zu kämpfen, sodass sie eines Nachts mit hohem | |
Blutdruck auf der Kardiologie im Urbankrankenhaus eingeliefert wird. Um | |
operiert zu werden: Es müssen Stents gelegt werden, da die Herzklappen | |
nicht mehr gut schließen. „Ich habe mich einfach so aufgeregt“, sagt sie | |
später. Eine weitere Herz-OP wird verschoben, die sie aufgrund ihrer | |
schlechten Verfassung wahrscheinlich nicht überleben würde. | |
## Ohne soziale Kontakte | |
Bei der Entlassung wird ein Coronatest mit negativem Ergebnis durchgeführt. | |
Trotzdem landet sie im Pflegeheim in einer zweiwöchigen Quarantäne („Sie | |
könnte sich ja auf dem Transport beim Sanitäter angesteckt haben“). Zwei | |
Wochen ohne soziale Kontakte, außer zum Pflegepersonal – für meine Mutter | |
wohl das Schlimmste, was sie bisher erlebt hat. Obwohl der Kardiologe im | |
Urban bei Einhaltung aller Hygiene- und Abstandsregeln einem Besuch von | |
Angehörigen im Heim zugestimmt hat, als ich ihn nach seiner Einschätzung | |
bat, obwohl sich das zuständige Gesundheitsamt in Kreuzberg der Arztmeinung | |
angeschlossen hat. | |
Alle wünschen sich Normalität und Alltag zurück, doch zu welchem Preis? Die | |
Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für Pflegeheime und Risikogruppen | |
sind sinnvoll, da Pflegebedürftige ganz besonders betroffen sind und ein | |
Drittel aller Covid-19-Toten ausmachen. Die Verantwortung für sie wird in | |
der Praxis allerdings auf die Heimleitungen abgewälzt, nicht anders sind | |
die unterschiedlichen Handhabungen des Besuchs- und Ausgangsrechts in den | |
verschiedenen Heimen in einem einzigen Bundesland zu erklären. | |
Verständlich, die Heimleitung muss sowohl Sorge für die Patienten als auch | |
für das Personal tragen. Sie ist es im Ernstfall ja auch, die schlechte | |
Presse und die Angehörigen fürchten muss, wenn Bewohner sich infizieren und | |
zuhauf sterben, wie in mehreren Heimen in Deutschland bereits geschehen. | |
In den Medien reden viele über die Alten. Selten jedoch Betroffene selbst. | |
Wie auch, keine andere Bevölkerungsgruppe ist so abgeschottet, kaum eine | |
hat so wenige Fürsprecher in Coronazeiten. Trotz aller gut gemeinten | |
Mahnungen – es sei ethisch nicht vertretbar, alte Menschen sozial | |
vollständig zu isolieren – passiert in vielen Heimen Deutschlands genau | |
das. | |
Auf der Website der Interessenvertretung der Pflegebetroffenen (biva) steht | |
über Besuchsverbote: „Im Falle einer bestätigten Covid-19-Infektion in der | |
Einrichtung kann die Leitung der Einrichtung im Rahmen einer | |
Gefährdungsabschätzung für die Bewohnerinnen und Bewohner, an der das | |
zuständige Gesundheitsamt zu beteiligen ist, die Besuchsregelung nach Satz | |
1 einschränken oder ein Besuchsverbot festlegen.“ Das Hausrecht gewährt der | |
Pflegeheimleitung einen undefinierten Spielraum für Entscheidungen, da es | |
keine eindeutigen Regelungen auf Länder- und Bundesebene gibt. Dazu | |
untersagt sie Heimbewohner*innen den Ausgang. Auch das, obwohl sie dazu | |
keine Befugnis hat. | |
Mittlerweile gibt es im Pflegeheim meiner Mutter wieder eine eingeschränkte | |
Besuchserlaubnis. In einem abgegrenzten Raum sind wir durch zwei Tische | |
drei Meter voneinander entfernt. Die Tür steht offen, es bleibt | |
unpersönlich, da helfen auch die Blümchen auf dem Tisch nicht. Ich muss | |
sehr laut sprechen, da meine Mutter schwerhörig ist, und bin nicht sicher, | |
was bei ihr ankommt. | |
Alles, was ich mitbringe, jeder Gegenstand muss desinfiziert werden. Der | |
leckere Kuchen muss wieder mit nach Hause, da er zwar in Plastik verpackt, | |
aber nicht eingeschweißt ist. Jetzt steigt in mir die Wut auf, die ich | |
gleich zu unterdrücken suche. Dennoch werde ich den Verdacht nicht los, | |
dass manche Verbote Schikanen sind. Ich bin immer in der Klemme zwischen | |
Helfenwollen, schlechtem Gewissen, Apathie und Stillhalten und will die | |
Pflegeheimleitung nicht verärgern. Ich weiß, welchen Beitrag die | |
Pflegekräfte leisten, und mag mich nicht ständig beschweren. Eigentlich | |
dürfte ich meine Mutter täglich besuchen. Eigentlich, so steht es in den | |
Pandemie-Verordnungen des Berliner Senats. Doch es fehlt an Personal, um | |
diesem Bedürfnis der Angehörigen zu entsprechen. So bekomme ich zehn Tage | |
keinen Besuchstermin. | |
Ich glaube, meine Mutter hat bislang durchgehalten, weil die neuen | |
Medikamente sie ruhigstellen. Jedenfalls klagt sie nicht mehr, auch höre | |
ich nichts mehr davon, dass sie wütend ist. Ist der Spuk vorbei? Oder | |
beginnt bald alles wieder von vorn? | |
22 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Susanne Gupta | |
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