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# taz.de -- Diskussion um Sterbehilfe: Das Recht auf einen Notausgang
> Im Februar entscheidet das Verfassungsgericht über eine Beschwerde zur
> Sterbehilfe. Sollen Schwerkranke ein Recht auf professionelle Hilfe
> haben?
Die Berge leuchteten rot in der untergehenden Sonne Norwegens, die Hunde
zogen Schlitten durch die schneebedeckte Landschaft. In einem saß Anja
Clement warm eingepackt, zugedeckt, ein Begleiter hielt sie von hinten
fest. „Wir waren überglücklich“, sagt Anja Clement, 55, heute. „Ich rei…
gerne. Ich suche immer neue Wege, wie ich mit der Krankheit umgehen kann.“
Während sie erzählt, sitzt sie in ihrem Rollstuhl in ihrem Wohnzimmer in
Dessau-Roßlau. Durch die Fenster fallen Sonnenstrahlen. An der Wand hängen
Fotos: ein blühender Garten, Abendlichter in der Stadt, ein lachender
Junge, ihr Sohn. „Ich lebe ganz gut“, sagt Clement. „Und ich würde läng…
durchhalten, wenn ich wüsste, ich kann selbst entscheiden, wann ich gehe.“
Wenn Clement spricht, dolmetscht eine Freundin, eine Assistentin oder der
Ehemann. Die Lähmung hat einen Teil der Zungenmuskulatur erfasst. Clement
leidet seit 17 Jahren unter amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer
degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, bei der der Körper
nach und nach gelähmt wird. Die studierte Architektin kann nur noch die
rechte Hand ein wenig bewegen und steuert damit den Rollstuhl und eine Maus
am Computer. „Die Selbstbestimmung zu behalten“, sagt Clement, „das ist d…
Wichtigste“.
Wenn sie nicht mehr sprechen, aber immer noch klar denken kann, wenn die
Krankheit weiter fortgeschritten ist, dann wäre es gut, eine Wahl zu haben,
sagt Clement. Eine Wahl, am Computer nur noch über Augenbewegungen ein „Ja“
anklicken zu können und damit einen Prozess der Sterbehilfe einzuleiten,
vielleicht eine Infusion fließen zu lassen mit einem vom Arzt
verschriebenen todbringenden Medikament. „Diese Möglichkeit zu haben, das
wäre eine Beruhigung“, sagt Clement.
Doch das Gesetz erlaubt das nicht. Clement hat derzeit nur die Wahl, dann,
wenn sie künstlich ernährt oder beatmet werden muss, die Behandlung
abzulehnen und dadurch zu sterben. Ein vom Patienten gewollter
„Behandlungsabbruch“ ist legal.
[1][Eine ärztliche Beihilfe zum Suizid hingegen ist es nicht.] Der
[2][Paragraf 217] im Strafrecht, der seit Ende 2015 in Kraft ist, macht
jede Beihilfe zum Suizid strafbar, wenn sie „geschäftsmäßig“ erfolgt. Ge…
den Paragrafen haben Schwerkranke, Palliativmediziner, Sterbehilfevereine,
vertreten durch ihre RechtsanwältInnen, mehrere Beschwerden vor dem
Bundesverfassungsgericht eingelegt. Die Beschwerdeführer wollen, dass der
Paragraf 217 gekippt oder zumindest verändert wird, weil er gegen das
Grundgesetz verstoße: gegen die Menschenwürde, das Selbstbestimmungsrecht,
die Gewissensfreiheit und die Berufsfreiheit.
Verfechter des Sterbehilfeverbots befürchten, dass nach einer Legalisierung
ein Damm brechen könnte: Wären die Wartezimmer voller hilfesuchender
depressiver Schwerkranker? Das Urteil soll am 26. Februar verkündet werden.
Wenn das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen kippt, landet der Ball
wieder beim Gesetzgeber. Die Bundesregierung bekäme den Auftrag, ein neues
Gesetz zur Sterbehilfe zu schaffen. Eines, das die Sterbehilfe der Ärzte
nicht kriminalisiert, aber vielleicht doch Grenzen zieht.
Wo sollen diese Grenzen liegen? Wer soll die Möglichkeit der ärztlichen
Hilfe zum Suizid bekommen und wer nicht? Oder ist diese Frage ethisch
vermessen, weil Außenstehende niemals das Leid eines Schwerstkranken
wirklich nachvollziehen können?
Diverse Gesetzesvorschläge und unlängst auch ein Eckpunktepapier einer
FDP-Gesundheitsexpertin nannten als Voraussetzungen einer ärztlichen
Beihilfe zum Suizid immer eine tödliche, unheilbare Erkrankung, das
„freiverantwortliche Handeln“ der Betroffenen und deren
„Einwilligungsfähigkeit“. Es gibt aber schwerste Leiden, die nicht zum Tod
führen, es gibt todbringende Krankheiten, die lange im Voraus
diagnostiziert werden können und mit zunehmender Einschränkung und Demenz
einhergehen.
Jörg Littmann-Stöwer, 63, Informatiker, weiß seit sechs Jahren, dass er die
Huntington-Krankheit hat. „Früher bin ich dauernd herumgereist als
Informatiker, habe viel kommuniziert. Jetzt geht alles viel langsamer, auch
das Sprechen“, erzählt Littmann. Er sitzt auf dem Sofa zu Hause in
Berlin-Lichtenrade. Durch die schwarzgeränderte Brille blicken seine Augen
wach und etwas melancholisch. Hager ist er, das komme von der Krankheit,
sagt er. Der Arzt habe ihm geraten, am Tag 4.000 Kalorien zu sich zu
nehmen, um nicht abzumagern, „das ist kaum zu schaffen“.
Die [3][Huntington-Krankheit], auch Chorea Huntington, im Volksmund früher
„Veitstanz“ genannt, ist eine Hirnerkrankung. Nervenzellen werden in
bestimmten Hirngebieten abgebaut, die Störung ist genetisch bedingt. Man
kann durch einen Test schon sehr früh feststellen, ob ein Mensch das fatale
Gen in sich trägt und später daran erkranken wird. PatientInnen im
fortgeschrittenen Stadium erkennt man an unkontrollierten Bewegungen von
Armen und Beinen, Gesicht, Hals und Rumpf. Wenn das Ende naht, können die
Kranken oft nicht mehr sprechen, sind verwirrt, manche haben
Wahnvorstellungen.
Littmann ist nicht in diesem Stadium. „Ich bewege mich viel, das hilft“,
erzählt er, „die Hunde sind meine Lebensfreude.“ Die beiden Mischlinge
toben durch das Wohnzimmer. Auf seinem Klapprad fährt Littmann jeden Tag
durch die Parks in der Nachbarschaft, begleitet von den Hunden. Das
Radfahren geht besser als das Laufen. „Wir genießen jeden Tag“, sagt seine
Frau.
Das Problem ist die Zukunft, die unaufhaltbare. Littmanns Mutter starb im
hohen Alter an der Krankheit, schwerst pflegebedürftig, verwirrt, am Ende
warf sie Lebensmittel aus dem Fenster. Ein Sterbehilfegesetz, laut dem man
sich ein todbringendes, schmerzlos wirkendes Medikament verschreiben lassen
könnte, das würde Littmann begrüßen. Es wäre „eine Form der Sicherheit zu
wissen, dass man könnte, wenn man wollte“, sagt er. Zu wissen, dass es
einen Notausgang gibt, würde ihn freier machen für das Leben. „Sterbehilfe
ist Lebenshilfe.“
Doch da gibt es einen Widerspruch: Solange er noch fit genug ist, auch für
eine klare Entscheidung, wolle er leben, sagt Littmann. Erst wenn er stark
abgebaut haben wird, auch geistig, kommt die Phase, die aus heutiger Sicht
so schrecklich ist. Doch dann würde ihm ein Arzt möglicherweise keine
„freiverantwortliche“ Entscheidungsfähigkeit mehr zugestehen. Eine solche
Entscheidungsfähigkeit wäre aber auch nach einer Gesetzesänderung
Voraussetzung für jede Gewährung von Sterbehilfe.
Zudem: „Der Überlebenswunsch kann sich ändern“, sagt Littmann nachdenklic…
Bei einer Freundin hat das Ehepaar genau dies erlebt. Die krebskranke Frau
erklärte unmittelbar nach der Diagnose, weder Chemotherapie noch sonst eine
invasive Behandlung zu wollen. Doch als es dem Ende zuging, habe sie alles,
was es gab, in Anspruch genommen, erzählt Littmann.
Der Informatiker hat eine Patientenverfügung verfasst. Darin steht, dass er
nicht künstlich über eine Magensonde ernährt werden möchte, sollte es zu
Schluckstörungen kommen, was irgendwann passiert bei Huntington. Ein
solches „Sterbefasten“ kann ärztlich begleitet und dadurch möglichst
beschwerdefrei gestaltet werden. Wie lange es jeweils dauert, kann niemand
vorhersagen.
Die Suizidrate unter Huntington-Kranken sei relativ hoch, sagt Littmann. In
seiner Selbsthilfegruppe gab es einen Betroffenen, der drei Suizidversuche
unternommen hatte. Der vierte endete tödlich.
Wenn man eingesperrt ist in einen Körper, in eine Krankheit, ist es
wichtig, noch eine letzte Handlungsmöglichkeit zu haben. Das Gefühl, in
einem Tunnel zu stecken, der immer enger und dunkler wird, treibt auch
viele Schwerkranke um, die sich vor dem Alter und der Pflegebedürftigkeit
fürchten.
Amy Fiocca, 67, zum Beispiel hat keine Krankheit, an der sie schon im
nächsten halben Jahr sterben wird, aber ein schweres Leiden und Angst vor
der Zukunft. „Wenn ich ins Pflegeheim müsste, dann möchte ich zuvor
entscheiden können, ob ich nicht lieber schmerzlos durch ein Medikament
sterben will“, sagt die ehemalige Sozialpädagogin aus Berlin.
Fiocca klingt wie eine Roboterstimme aus „Star Wars“. Wer sie im Restaurant
trifft, stellt fest, dass manche Tischnachbarn befremdet herüberschauen.
Der Klang ihrer Stimme kommt vom Sprechgerät, das wie eine Art Mikrofon die
Schwingungen des Mundbodens überträgt. Fiocca, die anonym bleiben möchte
und deshalb in diesem Text einen anderen Namen hat, verlor vor vier Jahren
durch eine Krebsoperation ihren Kehlkopf. Hinzu kommt die Lungenerkrankung
COPD, neuerdings noch schmerzhaftes Rheuma.
Der Kreis der Freundinnen ist arg geschrumpft, Familie hat sie nicht.
Fiocca atmet durch ein Loch im Hals. Sie muss ständig durch dieses Loch
abhusten. Oft hat sie Angst zu ersticken. Ein Pflegefall im Heim zu sein,
vielleicht dauerhaft intubiert, ans Bett gefesselt wie ihre Mutter, die sie
jahrelang pflegte, „dieser Gedanke macht mir große Angst“, sagt sie. „Es
würde mich beruhigen, wenn ich wüsste, ich könnte selbst bestimmen, ob und
wann ich gehe.“
Es gibt Ärzte, die dafür Verständnis haben. „In der Situation dieser Frau
nicht noch jahrelang mit diesem extremen Leiden leben zu müssen, ob zu
Hause oder in einem Pflegeheim, ist ein berechtigtes Anliegen“, sagt der
Berliner Arzt Michael de Ridder (großes Foto oben). [4][De Ridder] ist
einer der ärztlichen Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht. Er
findet, der Paragraf 217 verstoße gegen die Berufs- und Gewissensfreiheit.
De Ridder ist Intensivmediziner im Ruhestand, Gründer eines Hospizes und
hat mehrere Bücher über Sterbebegleitung und Sterbehilfe geschrieben. Er
hat in mehreren Fällen auch Sterbehilfe geleistet, bis 2015 war dies unter
bestimmten Bedingungen straffrei.
De Ridder, eloquent, gern gesehener Talkshowgast, befürwortet die
Abschaffung des Paragrafen 217 und den ärztlich assistierten Suizid unter
bestimmten Voraussetzungen. „Die Ausgestaltung der Sterbehilfe hängt von
den Rahmenbedingungen ab“, sagt er, „man könnte es vielleicht ähnlich
machen wie beim Paragrafen 218, wo man vor einer Abtreibung eine Beratung
akzeptieren muss“.
Die Beratung sei ganz wichtig, betont er. De Ridder kennt viele
Schwerstkranke, die von ihrem Sterbewunsch wieder abkamen, „nachdem sie in
der Beratung von den Möglichkeiten der palliativen Medizin erfuhren“.
Schmerzdämpfende Medikamente, insbesondere Opiate, werden heute bei
Schwerstkranken passgenau eingesetzt. Morphium, angstlösende Medikamente,
Antidepressiva und vieles andere stehen zur Verfügung.
Psychisch Kranke würde de Ridder grundsätzlich von der Sterbehilfe
ausschließen. „Psychisch Kranke und suizidale Menschen brauchen Hilfe zum
Leben, keine Sterbehilfe“, sagt er. Er leitete jahrzehntelang die
Notaufnahme im Berliner Urban-Krankenhaus in Kreuzberg, eine Anlaufstelle
auch für Menschen in psychischen Krisen.
Dass sich PatientInnen bei klarem Verstand entscheiden können, ist auch für
de Ridder die Voraussetzung für einen ärztlich assistierten Suizid. Leute
mit einer fortschreitenden Hirnerkrankung, denen am Ende eine Demenz droht,
müssten sich dann gewissermaßen präventiv selbst umbringen, solange sie
noch klar denken können.
De Ridder berichtet von einer 71-jährigen Ärztin, die bei sich selbst die
ersten Symptome der Alzheimer-Erkrankung bemerkte, sich diagnostizieren
ließ und dann im Beisein ihrer Kinder bei klarem Bewusstsein und in relativ
guter Gesundheit einen tödlichen Medikamentenmix zu sich nahm und
einschlief. „Sie wollte nicht erleben, was sonst in den folgenden Jahren
auf sie zugekommen wäre“, sagt de Ridder.
Bei [5][Dignitas] hätte die Ärztin auch Hilfe bekommen. Der Verein hat
einen Sitz in Deutschland und den Hauptsitz in der Schweiz.
Laut Statut von Dignitas werden Menschen für den ärztlich begleiteten
Suizid in der Schweiz akzeptiert, die an einer „unheilbaren, zum Tode
führenden Krankheit“ oder an einer „unzumutbaren Behinderung“ oder an
„nicht beherrschbaren Schmerzen“ leiden.
Diese Sterbehilfe muss man sich leisten können: Inklusive
Vereinsmitgliedschaft, Vorgesprächen, Gutachten, Verschreibung des Mittels,
Sterbebegleitung und Einäscherung werden für Deutsche rund 9.000 Euro
fällig.
Bei Dignitas sprechen auch Altersleidende vor. Eine 85-Jährige zum Beispiel
mit stark nachlassendem Augenlicht, rheumatischen Schmerzen,
Kontinenzproblemen, Angst vor dem Umzug ins Pflegeheim – „solchen schwer
leidenden Menschen kann Dignitas eine Freitodbegleitung gewähren“, erklärt
Dieter Graefe. Er ist Rechtsanwalt und Justitiar bei Dignitas und vertritt
den Verein in seiner Beschwerde gegen den Paragrafen 217 vor dem
Bundesverfassungsgericht.
Auch wenn die Statuten bei Dignitas mit dem Kriterium der „unzumutbaren
Behinderung“ einen breiten Spielraum lassen, gibt es Grenzen: Gesunde
Hochaltrige, die mit ihrem todkranken Partner gemeinsam aus dem Leben
scheiden wollen, „können leider von Dignitas keine Sterbehilfe erhalten“,
sagt Graefe.
Der Vizepräsident des Sterbehilfevereins Exit Schweiz Romandie wurde
kürzlich zu einer Geldbuße verurteilt, weil er einer gesunden 86-Jährigen
geholfen hatte, gemeinsam mit ihrem todkranken Ehemann durch die Einnahme
eines tödlichen Medikaments zu sterben. Die Frau hatte angekündigt, sonst
durch eine „Brutalmethode“ freiwillig aus dem Leben zu scheiden.
Solche Fälle mit suizidwilligen alten Menschen versetzen ÄrztInnen in
Deutschland in Alarmbereitschaft. Was, wenn der Sterbehilfeparagraf in
Deutschland reformiert wird und lebensmüde Hochaltrige mit schweren
Altersleiden bei ihren Hausärzten vorsprechen und diese anflehen, ihnen ein
tödliches Medikament zu verschaffen? Was, wenn ein Suizid als Lösung
erscheint, weil man Angst hat vor dem Pflegeheim und der schlechten
Versorgung dort? Oder weil man seiner Familie nicht zur Last fallen will?
Was, wenn Hausärzte und Zweitgutachter über die Entscheidungsfähigkeit, die
Prognose, das Schmerzerleben, das Ausmaß der Verzweiflung von Tausenden
schwerkranken alten PatientInnen entscheiden müssten?
Die [6][Musterberufsordnung der Bundesärztekammer] sieht vor, dass Ärzte
keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen. Diese Berufsordnung ist nur
eine Empfehlung an die Landesärztekammern. Zehn Landesärztekammern,
darunter Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Thüringen und Brandenburg, haben
diese Empfehlung in ein standesrechtliches Verbot verwandelt, das heißt:
Zuwiderhandelnde ÄrztInnen können schlimmstenfalls ihre Approbation
verlieren. Andere Kammern haben dazu keine oder liberale Regelungen
erlassen, darunter Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Berlin.
„Eine Gesetzesänderung als mögliche Folge einer Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zum Paragrafen 217 könnte Verpflichtungen für
Ärzte und Ärztinnen mit sich bringen, die wir nicht wollen und mit einer
Selbstverständlichkeit Hintertüren öffnen, die wir menschlich nicht haben
wollen und über die wir uns bisher noch gar keine Gedanken gemacht haben“,
sagt Pedram Emami, Präsident der Hamburger Ärztekammer, er räumt aber auch
ein: „So oder so werden wir uns als Ärzteschaft gesellschaftlichen
Entwicklungen stellen und über unsere Rolle in diesem Kontext diskutieren.“
Die BefürworterInnen einer kontrollierten Sterbehilfe in der Ärzteschaft
sind vor allen Dingen durch den Begriff der „geschäftsmäßigen“ Beihilfe …
Suizid im Paragrafen 217 verunsichert. Damit wollte die Große Koalition
2015 eigentlich das Geschäft der Sterbehilfevereine in Deutschland stoppen.
Doch es wuchs auch die Verunsicherung bei den ÄrztInnen, denn laut
Rechtsprechung handelt schon „geschäftsmäßig“, wer eine Handlung
„wiederholt“ begeht, eine Profitabsicht muss gar nicht erkennbar sein.
Der Münchner Medizinrechtsanwalt Wolfgang Putz, der de Ridder vor dem
Bundesverfassungsgericht vertritt, befürwortet die schlichte Abschaffung
des Paragrafen 217 ohne die Einführung neuer Kriterien für die Ärzte. Damit
wäre wie bis 2015 jegliche Hilfe zum freiverantwortlichen Suizid wieder
straffrei.
„Die Entscheidung, das Leben selbst zu beenden, ist ein Grundrecht“, sagt
Putz, „und weil die Wahrnehmung eines Rechts keine Rechte anderer tangiert,
kann es keine Einschränkungen geben.“ Das Argument, dass Ärzte von manchen
PatientInnen vor kaum lösbare Probleme gestellt werden, lässt Putz nicht
gelten. „Suizidhilfe ist keine ärztliche Pflicht“, betont er, „wer von d…
Ärzten keine Sterbehilfe machen will, muss sie nicht machen, so ist es auch
bei Abtreibungen, es gibt keine ärztliche Verpflichtung.“
Ungeklärt wäre allerdings immer noch, wer unter welchen Voraussetzungen
welche Medikamente verschreiben darf. Die wenigen Ärzte in Deutschland, die
bis 2015 Sterbehilfe leisteten, setzten jeweils eigene Mischungen ein, die
in bestimmten Dosierungen tödlich wirken.
In der Schweiz wird Pentobarbital-Natrium als Medikament in der Sterbehilfe
verwendet. In Deutschland ist dieses Präparat bezeichnenderweise nur für
die Einschläferung von Tieren zugelassen.
Das [7][Bundesverwaltungsgericht] hat allerdings 2017 in einem
aufsehenerregenden Urteil entschieden, dass Pentobarbital-Natrium in
Ausnahmefällen auch in Deutschland Schwerstkranken in „extremer Notlage“
gegeben werden müsse. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU
blockiert jedoch bislang die Abgabe des Medikaments.
Alle Beteiligten schauen jetzt nach Karlsruhe und erhoffen sich vom
Bundesverfassungsgericht eine Lösung. Der Urteilsentwurf soll 100 Seiten
dick sein, ist aus Rechtsanwaltskreisen zu hören.
Im April 2019 gab es eine [8][mündliche Anhörung] vor dem
Verfassungsgericht mit PalliativmedizinerInnen, Psychiatern und
HospizhelferInnen. Die Äußerungen des Verfassungsgerichtspräsidenten
Andreas Voßkuhle ließen erahnen, dass der Paragraf 217 vom
Bundesverfassungsgericht zumindest in Teilen als nicht grundgesetzkonform
bemängelt wird.
Die Sorge, dass die Schwelle zum Suizid niedriger wird, haben die
BefürworterInnen der Sterbehilfe nicht. „Niemand wird sich zu einem Suizid
drängen oder überreden lassen und niemand wird sich leichtfertig
suizidieren wollen“, sagt de Ridder. „Der Lebenswille im Menschen ist viel
zu stark.“
Anja Clement, die ehrenamtlich als zweite Vorsitzende des Vereins
„ALS-Mobil“ tätig ist, hielt neulich einen Vortrag zur Pflegepolitik,
genauer gesagt las jemand das Manuskript vor und sie saß als Autorin dabei.
Am Ende donnerte der Applaus. Clement rollte heraus in den Abend, die
Herbstluft duftete und umhüllte sie. „Es war ein glücklicher Moment“, sagt
Clement, „wir wollen ja leben. Und nur wir wissen, wann es nicht mehr
geht“.
12 Jan 2020
## LINKS
[1] /Sterbehilfe/!t5009775/
[2] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__217.html
[3] /Seltene-Krankheiten/!5500545
[4] /Debatte-Sterbehilfe/!5050354
[5] /Der-Entschluss-zu-sterben/!5205697
[6] https://www.bundesaerztekammer.de/recht/berufsrecht/muster-berufsordnung-ae…
[7] https://www.bverwg.de/020317U3C19.15.0
[8] https://www.aerztezeitung.de/Politik/Moeglichkeiten-der-Sterbehilfe-ausgelo…
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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