# taz.de -- Ersatzfreiheitsstrafen in Berlin: Für Armut bestraft | |
> Jetzt landen Menschen wieder im Knast, die Geldstrafen nicht bezahlen | |
> können, etwa wegen Fahrens ohne Ticket. Aktivist*innen arbeiten | |
> dagegen an. | |
Bild: Bald wieder voll besetzt: Zellen in der JVA Plötzensee | |
BERLIN taz | In Haus A der Justizvollzugsanstalt Plötzensee bereitet man | |
sich schon vor. Noch sind viele der Zellen leer, aber ab 1. Juni wird sich | |
das ändern. Wer Geldstrafen nicht bezahlen kann, muss dann wieder ins | |
Gefängnis: Die coronabedingte Aussetzung der sogenannten | |
Ersatzfreiheitsstrafen endet. | |
In Berlin betrifft das vor allem Menschen, die wiederholt ohne Ticket | |
gefahren sind, mit Drogen oder bei kleineren Diebstählen erwischt wurden. | |
Fast alle gehören zu den Ärmsten – Drogenabhängige, die für den nächsten | |
Schuss klauen, viele sind obdachlos. Das Land unterhält hier in Plötzensee | |
[1][ein eigenes, berüchtigtes Gefängnis für die „Ersatzfreiheitsstrafer]�… | |
„Dann bestrafen wir wieder Menschen für ihre Armut“ sagt Mitali Nagrecha. | |
Die Juristin ist Gründerin des [2][Justice Collective], Teil eines breiten | |
Bündnisses zur Abschaffung der Ersatzfreitsstrafen, sie plant zusammen mit | |
anderen Aktivist*innen für den 31. Mai eine Aktion gegen „diese große | |
Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit“. | |
Die Ersatzfreiheitsstrafen sind ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, das | |
sich bis heute als Teil unseres Rechtssystems gehalten hat. Am Anfang steht | |
eine Geldstrafe, die – häufig ohne Gerichtsverfahren – immer dann verhängt | |
wird, wenn eine Gefängnisstrafe nicht angemessen erscheint. Die Geldstrafe | |
wird in Tagesätzen bemessen, die Höhe des Tagessatzes richtet sich nach den | |
wirtschaftlichen Verhältnissen des Verurteilten. Eine Geldstrafe von 200 | |
Euro – das können zum Beispiel 40 Tagessätze à 5 Euro sein. Kann die | |
verurteilte Person die 200 Euro nicht bezahlen, muss sie also für 40 Tage | |
ins Gefängnis. | |
Seit rund 30 Jahren steigt die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen deutlich. | |
Das hat auch mit einer durch die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik | |
verschärften Spaltung der Gesellschaft zu tun, an deren Rand die Gering- | |
und Garnichtsverdiener*innen stehen. Inzwischen wird davon | |
ausgegangen, dass die Ersatzfreiheitsstrafen den größten Teil aller | |
Gefängnisstrafen ausmachen. In der JVA Plötzensee sitzt im Durchschnitt | |
fast ein Drittel der Ersatzfreiheitsstrafer wegen wiederholten Fahrens ohne | |
Fahrschein ein, die sogenannte Leistungserschleichung – dies wiederum ist | |
ein Straftatbestand aus der Nazizeit. | |
## Deutsche Klassenjustiz | |
Mitali Nagrecha ist amerikanische Juristin. Vor einigen Jahren hat sie | |
begonnen, sich mit dem deutschen System der Geldstrafen für minderschwere | |
Delikte zu beschäftigen, „weil es eine Alternative hätte sein können zum | |
offensichtlich ungerechten amerikanischen System“. Doch ihre Analyse des | |
vermeintlich neutralen deutschen Rechtssystems ist vernichtend: | |
Klassenjustiz, ungerecht in Sachen Einkommensunterschiede und | |
Strafangemessenheit. Inzwischen lebt Nagrecha in Berlin, die Abschaffung | |
des Geld- und Ersatzfreiheitsstrafensystems ist ihr ein besonderes | |
Anliegen. | |
Aber wie kann es ungerecht sein, wenn die Geldstrafen umso niedriger sind, | |
je weniger jemand verdient? Nagrecha erklärt: weil erstens vor allem | |
Armutsdelikte überhaupt bestraft werden – hier spielten Klassismus und auch | |
Rassismus eine große Rolle. Und weil sich zweitens die Richter*innen, die | |
in aller Regel einer anderen Schicht entstammen als die, über die sie | |
richten, oft gar nicht vorstellen könnten, wie wenig Geld ein armer Mensch | |
aufbringen kann. Wer von 350 Euro im Monat lebt, ohne jede Reserve, für den | |
sind 200 Euro ein Vermögen. Für Drogenabhängige und Obdachlose sind solche | |
Summen oft schlicht nicht aufzubringen. | |
Die Debatte über diese Unangemessenheit ist nicht ganz neu. In Fachkreisen | |
wird sie schon länger geführt, an die Oberfläche einer breiteren | |
Öffentlichkeit hat sie das Buch des Juristen [3][Ronen Steinke] („Vor dem | |
Gesetz sind nicht alle gleich“) und die Aktion des Freiheitsfonds gespült. | |
Der [4][Freiheitsfonds] kauft aus Spenden Ersatzfreiheitsstrafer, die wegen | |
Fahrens ohne Ticket einsitzen, frei. 157 Personen waren das bisher in | |
Berlin mit 10.238 Hafttagen, also insgesamt 28 Jahren Gefängnis. An Spenden | |
hat das rund 150.000 Euro gekostet, gespart hat es 1,5 Millionen Euro | |
Kosten, rechnet der Fonds vor – denn ein Hafttag in einem Berliner | |
Gefängnis kostet rund 150 Euro. | |
Und auch wenn das nicht die tatsächliche Ersparnis ist – die Haftplätze | |
werden ja trotzdem vorgehalten – betrachten selbst die Gefängnisdirektoren | |
die Ersatzfreiheitsstrafen in vielen Fällen als unverhältnismäßige | |
Ressourcenverschwendung. Denen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein hierher | |
müssen, „legen wir schon bei der Ankunft das Anmeldeformular für den | |
Freiheitsfonds vor“, erzählt der stellvertretende Anstaltsleiter der JVA | |
Plötzensee, Detlef Wolf. Außerdem sollen künftig durch systematische | |
Gnadenerlasse Ersatzfreiheitsstrafer schneller wieder entlassen werden, die | |
dement sind (gar nicht selten, heißt es aus der JVA) oder bei denen durch | |
die Haft der Verlust eines Therapie- oder Wohnplatzes droht. Ein | |
entsprechendes Konzept sei noch in der Abstimmung zwischen den | |
Haftanstalten und der Gnadenstelle bei der Justizverwaltung. | |
## Bald wieder überfüllt | |
Vor Corona saßen in den Berliner Gefängnissen im Wochendurchschnitt weit | |
über 300 Ersatzfreiheitsstrafer*innen ein. So viele, dass Haus A in | |
Plötzensee längst nicht ausreichte. Wenn die Aussetzung der | |
Ersatzfreiheitsstrafen nun ausläuft, werden die Gefängnisse wieder | |
überfüllt sein, befürchten Aktivist*innen wie Mitali Nagrecha oder | |
[5][Arne Semsrott vom Freiheitsfonds]. Deshalb fordern sie die neue | |
[6][Justizsenatorin Lena Kreck (Linke)] auf, die Aussetzung und | |
Gnadensammelerlasse beizubehalten. | |
Die Justizsenatorin lehnt das auf Anfrage der taz ab. Die Maßnahmen hätten | |
dem Infektionsschutz gedient, das strukturelle Problem der | |
Ersatzfreiheitsstrafen lasse sich damit nicht lösen, heißt es aus Krecks | |
Verwaltung. Außerdem müsse man unterscheiden: Vergehen wie Fahren ohne | |
Ticket sollten klar entkriminalisiert werden, bei der | |
Justizminister*innenkonferenz am 1. Juni will Berlin deshalb einen | |
entsprechenden Antrag einbringen. Bei anderen Geldstrafen wolle man | |
hingegen besser darauf hinwirken, dass die Verurteilten das Geld abzahlen | |
oder abarbeiten könnten. | |
Für Nagrecha vom Justice Collective ist diese Vorstellung illusorisch: | |
„Leute, die nicht zahlen können, können aus den gleichen Gründen oft auch | |
nicht arbeiten.“ Die Grundfrage bleibe, ob Menschen für Versäumnisse der | |
Gesellschaft bestraft werden und das Strafsystem weiter dem Erhalt der | |
herrschenden Machtverhältnisse dienen sollten. Aber die Aktivistin ist auch | |
realistisch und weiß: „Beim Fahren ohne Ticket ist jetzt etwas drin, das | |
ist in der Diskussion.“ Für eine tiefgreifende Reform des Strafsystems bei | |
minderschweren Delikten „brauchen wir mehr Zeit, Überzeugungsarbeit und | |
Kreativität“. | |
Vor der JVA Plötzensee wollen Nagrecha und ihre Mitstreiter*innen am | |
31. Mai ab 10 Uhr demonstrieren, Teile des Bündnisses reisen außerdem zur | |
Übergabe einer Petition zur Justizminister*innenkonferenz ins | |
bayerische Schwangau. Das Ziel: Wenigstens für Fahren ohne Ticket sollte | |
niemand mehr ins Gefängnis müssen. | |
30 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Haerten-des-Strafvollzugs/!5568800 | |
[2] https://www.justice-collective.org/ | |
[3] /Ronen-Steinke-ueber-Klassenjustiz/!5824272 | |
[4] /Freiheitsfonds-kauft-Schwarzfahrer-frei/!5818831 | |
[5] /Freikaufen-aus-Berliner-Gefaengnissen/!5820621 | |
[6] /Berliner-Senatorin-ueber-linke-Justizpolitik/!5828727 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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