# taz.de -- Freiheitsfonds kauft Schwarzfahrer frei: Fahrschein aus dem Gefäng… | |
> Der Freiheitsfonds hat 83 Menschen freigekauft, die wegen Schwarzfahrens | |
> im Knast saßen. Sie sitzen wegen des Nazi-Paragrafen 265a. | |
Bild: Wer keinen Fahrschein hat, kann in den Knast wandern. Schuld ist der Nazi… | |
BERLIN taz | 83 Menschen hat die Berliner Initiative Freiheitsfonds | |
mittlerweile aus Gefängnissen freigekauft. Die Kampagne setzt sich für eine | |
Entkriminalisierung von Fahren ohne Fahrschein ein und bezahlt die Strafen | |
von Menschen, die deswegen im Knast sitzen. | |
Der Zuspruch für den Freiheitsfonds ist groß: Knapp 340.000 Euro Spenden | |
sind mittlerweile eingegangen, um Fahrer*innen ohne Fahrschein aus Knästen | |
freizukaufen. Knapp 100.000 Euro davon sind bereits ausgegeben. Eine | |
Person, die am Mittwoch freikam, saß bereits seit Monaten hinter Gittern | |
und sollte noch sechs Monate bleiben – alles nur, weil sie ohne Fahrschein | |
mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren ist. | |
Fahren ohne Fahrschein ist in Deutschland wegen der Nazis seit 1935 eine | |
Straftat. Wer sich eine verhängte Geldstrafe nicht leisten kann, muss eine | |
Ersatzfreiheitsstrafe antreten. Derzeit sitzen laut der Justizverwaltung | |
von Senator Dirk Behrendt (Grüne) in Berlins Knästen 330 Personen wegen | |
einer Ersatzfreiheitsstrafe – rund ein Drittel davon wegen Fahrens ohne | |
Fahrschein. Ein Hafttag kostet dem Staat im Schnitt 150 Euro. Durch die | |
Initiative hat das Justizsystem mittlerweile über eine Million Euro | |
gespart. | |
Menschen, die sich schon Fahrscheine kaum zahlen können, können sich | |
verhängte Geldstrafen erst recht nicht leisten. Die Betroffenen sind laut | |
der [1][Initiative Freiheitsfonds], die mit dem [2][Portal fragdenstaat.de] | |
und [3][Böhmermanns ZDF Magazin Royale] die Kampagne gestartet hat, | |
überwiegend arbeitslos (87 Prozent), wohnungslos (15 Prozent) oder sogar | |
akut suizidgefährdet (15 Prozent). | |
## In Berlin keine Vollstreckung bis März | |
Immerhin hat die [4][rot-rot-grüne Koalition] gerade beschlossen, die | |
Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen vorübergehend bis zum 31. März | |
auszusetzen. Die Regelung wurde allerdings nicht wegen des überzogenen | |
Strafmaßes geschaffen, sondern pandemiebedingt. Noch-Justizsenator Behrendt | |
will so verhindern, dass das Coronavirus in die Gefängnisse eingeschleppt | |
wird. | |
Vollstreckungsaufschub für Ersatzfreiheitsstrafen gab es bereits während | |
der ersten und zweiten Coronawelle. Einem Teil der Betroffenen wurde die | |
Strafe danach sogar erlassen. Ob es bei den aktuellen Fällen auch zu einer | |
Begnadigung kommt, müsste die designierte Justizsenatorin Lena Kreck | |
(Linke) entscheiden, wenn [5][die Linken denn mitregieren wollen]. | |
[6][Arne Semsrott von Freiheitsfonds] sagte der taz: „Viele Betroffene | |
haben keinen festen Wohnsitz, Post erreicht sie nicht.“ Ebenso befänden | |
sich viele in einem schwierigen gesundheitlichen Zustand, seien | |
arbeitsunfähig oder litten unter psychischen Krankheiten. Weil Fahren ohne | |
Fahrschein zudem eine Straftat ist, könne man wegen dieser Lappalie im | |
Resozialisierungsprogramm oder einem Asylverfahren Probleme bekommen und | |
etwa den Ausbildungsplatz verlieren. Semsrott plädiert dafür, Fahren ohne | |
Fahrschein zu einer Ordnungswidrigkeit herabzustufen. | |
In den Justizvollzugsanstalten sieht man das übrigens ähnlich, wie Sprecher | |
der Justizverwaltung Brux bestätigt: „Häufig wissen die Betroffenen gar | |
nichts vom Verfahren, sind obdachlos oder öffnen ihre Post nicht“, sagte er | |
der taz. Nicht selten würden die Betroffenen von der Polizei im | |
öffentlichen Raum in psychischen Ausnahmesituationen aufgegriffen. Im | |
Schnitt verbüßten sie dann eine Strafe für 30 Tage. | |
Obdachlose seien für diese Zeit zwar medizinisch versorgt und hätten ein | |
Dach über dem Kopf, aber eigentlich bräuchten sie Beratungsangebote, | |
nachhaltige Hilfe und Sozialarbeit, so Brux. Der Freiheitsfonds kauft nur | |
diejenigen frei, die ausdrücklich zustimmen. In Justizvollzugsanstalten | |
sorgen weniger Ersatzfreiheitsstrafen für Entlastung, sagt Brux, sodass sie | |
sich besser auf ihre Kernaufgaben konzentrieren könnten: die | |
Resozialisierung von richtigen Straftäter*innen. | |
Der grüne Justizsenator Behrendt sagte über den Freiheitsfonds: „Es ist | |
eine wichtige Kampagne, die auf einen Missstand hinweist, aber letztlich | |
muss das Problem der Ersatzfreiheitsstrafen die Ampelkoalition politisch | |
lösen.“ Eine Berliner Bundesratsinitiative dazu versandete. | |
Immerhin hat die Ampelkoalition im Bund versprochen, sich damit | |
auseinanderzusetzen: Das Bundesministerium von Marco Buschmann (FDP) | |
bestätigte der taz, dass derzeit geprüft wird, inwiefern beim Paragrafen | |
265a Handlungsbedarf besteht. Insgesamt waren laut der Behörde bundesweit | |
3.424 Gefangenge wegen Ersatzfreiheitsstrafen in Gefängnissen. | |
Der Freiheitsfonds hat mittlerweile knapp 7.000 Hafttage durch Spenden | |
abgewendet. 67 der 83 Befreiten sind aus Berlin, mittlerweile habe man aber | |
auch Menschen in Bremen, Freiburg, Frankfurt, Hamburg und Hannover befreit. | |
16 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.freiheitsfonds.de/ | |
[2] https://fragdenstaat.de/blog/2021/12/03/fahren-ohne-fahrschein/ | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=iWX3pqbidKk | |
[4] https://www.rbb24.de/panorama/thema/corona/beitraege/2021/12/berlin-justiz-… | |
[5] /Rot-Gruen-Rot-in-Berlin/!5816037 | |
[6] /Freikaufen-aus-Berliner-Gefaengnissen/!5820621 | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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