# taz.de -- Fahren ohne Ticket endet im Knast: Paragraf 265a entnazifizieren! | |
> Die Initiative Freiheitsfonds schafft Aufmerksamkeit für ein altes | |
> Problem: Fahrten ohne Fahrschein können im Knast enden. Ein | |
> Wochenkommentar. | |
Bild: Vom Bahnsteig in den Knast: Menschen, die sich keinen Fahrschein leisten … | |
Wer es noch nicht wusste, weiß es spätestens mit der Initiative | |
Freiheitsfonds, die nicht aufhört Menschen, aus dem Knast zu befreien, die | |
sitzen müssen, bloß weil sie keinen Fahrschein für Bus oder Bahn hatten. | |
Diese Woche wurde [1][der 83. Gefangene befreit]. Die Initiative sorgt für | |
Aufmerksamkeit und zeigt: Es ist komplett sinnlos, dass die Ärmsten der | |
Armen in aller Regelmäßigkeit in den Knast müssen, weil sie ohne Ticket den | |
ÖPNV nutzen. | |
Weil die Verkehrsbetriebe in diesen Fällen regelmäßig Anzeige erstatten, | |
greift der Nazi-Paragraf 265a aus dem Jahre 1935. Er erhob das sogenannte | |
Erschleichen von Leistungen zu einer Straftat, die mit Geldstrafe oder bis | |
zu einem Jahr Freiheitsentzug geahndet werden kann. | |
In der Praxis können sich Betroffene, die kein Geld etwa für eine | |
BVG-Kurzstrecke zum Preis von 2 Euro haben, natürlich erst recht kein | |
erhöhtes Beförderungsentgelt von 60 Euro leisten. Und natürlich auch keine | |
Geldstrafe von im Schnitt 1.000 Euro. Häufig müssen sie dann eine | |
sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe antreten. | |
Es trifft vor allem eine Gruppe mit multiplen Problemen: Obdachlose, die | |
oft erst von dem Strafverfahren etwas mitbekommen, wenn sie von der Polizei | |
gegriffen werden und plötzlich ein Haftbefehl vorliegt; Menschen in | |
psychischen Ausnahmesituationen, die akut nicht in der Lage sind, Post zu | |
öffnen; Suchtkranke ohne Geld, die meist darüber hinaus noch stark | |
verschuldet sind. | |
## Sozialdarwinismus der Faschisten wirkt bis heute | |
Als wäre das nicht schon genug, kommt der Knast obendrauf: Die | |
Ersatzfreiheitsstrafe verschärft die problematischen Lebenssituationen | |
dieser Gruppe; sie kann zu einer Vorstrafe führen, die eine Rückkehr in | |
geregelte Bahnen weiter erschwert. Zudem sind die Gefängnisse überfüllt | |
durch Menschen, die eigentlich Sozialarbeit und Hilfsangebote brauchen | |
statt Zeit hinter Schloss und Riegel. Kurzum: Die sozialdarwinistische | |
Gesetzgebung der Faschisten wirkt sich bis heute auf extrem gebeutelte | |
Bevölkerungsschichten aus. | |
Umso erstaunlicher, dass sich der Paragraf 265a solange halten konnte. | |
Gegen eine Entkriminalisierung von Fahren ohne Ticket stimmte in der | |
vergangenen Legislatur die große Koalition. Die Linke wollte komplette | |
Straffreiheit, die Grünen das Delikt immerhin zu einer Ordnungswidrigkeit | |
herabstufen – was allerdings auch Feiheitsstrafen nach sich ziehen kann, | |
wenn man die Bußgelder nicht zahlen kann, und entsprechend wenig hilft. | |
Eine Bundesratsinitiative Berlins versandete. | |
Reformbemühungen scheitern zumeist an CDU-Justizminister*innen, die | |
behaupten, dass Fahren ohne Ticket sonst ein Kavaliersdelikt werden würde. | |
Oder dass halt niemand mehr ein Ticket kaufen müsste. Was natürlich quatsch | |
ist: Wer kein Ticket hat und ein erhöhtes Beförderungsentgelt nicht zahlt, | |
dem kann man irgendwann das Konto pfänden. Aber wenn das Delikt straffrei | |
oder zumindest eine Ordnungswidrigkeit wäre, müssten man zumindest nicht | |
mit einer Ersatzfreiheitsstrafe in den Knast. | |
Zum Glück haben wir eine „Fortschrittskoalition“ im Bund und das Gesetz | |
wird sicher bald reformiert, richtig? | |
Nun, das wird sich erst zeigen müssen. Zwar heißt es im Koalitionsvertrag | |
der Ampel: „Das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen, | |
Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen überarbeiten wir mit dem Ziel von | |
Prävention und Resozialisierung.“ Man wolle das Strafrecht auf historisch | |
überarbeitet Straftatbestände überprüfen. Und immerhin bestätigt das von | |
Marco Buschmann (FDP) geführte Ministerium, dass es derzeit prüft, „ob vor | |
diesem Hintergrund auch beim Thema Erschleichen von Leistungen nach 265a | |
Handlungsbedarf besteht“. Das Ergebnis ist aber offen. | |
Gut also, dass die [2][Intiative Freiheitsfonds Druck aufbaut], um die | |
überfällige Reform einzufordern. Dass der Paragraf so lange unangefochten | |
existieren konnte, belegt eindrücklich, wie schlecht es um die Lobby der | |
Armen bestellt ist. | |
18 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Freiheitsfonds-kauft-Schwarzfahrer-frei/!5818831 | |
[2] /Freikaufen-aus-Berliner-Gefaengnissen/!5820621 | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
## TAGS | |
Wochenkommentar | |
Fahren ohne Fahrschein | |
Schwerpunkt Armut | |
BVG | |
Öffentlicher Nahverkehr | |
Ersatzfreiheitsstrafe | |
Berlin autofrei | |
Fahren ohne Fahrschein | |
Gefängnis | |
Dirk Behrendt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ersatzfreiheitsstrafen in Niedersachsen: Wegen Armut in den Knast | |
Die niedersächsischen Grünen wollen Ersatzfreiheitsstrafen vermeiden. | |
Problematisch finden die auch andere Parteien, verzichten wollen sie aber | |
nicht. | |
Neues BVG-Ticket in Berlin: Bloß nicht zu flexibel | |
Der Verkehrsbetrieb Berlin Brandenburg und die BVG werben für ihr neues | |
Flexticket. Doch wer soll das nutzen? | |
Freiheitsfonds kauft Schwarzfahrer frei: Fahrschein aus dem Gefängnis | |
Der Freiheitsfonds hat 83 Menschen freigekauft, die wegen Schwarzfahrens im | |
Knast saßen. Sie sitzen wegen des Nazi-Paragrafen 265a. | |
Freikaufen aus Berliner Gefängnissen: „Wir erwarten keine Dankbarkeit“ | |
Die Initiative Freiheitsfonds kauft Menschen aus Berliner Gefängnissen | |
frei. Initiator Arne Semsrott kritisiert das System der | |
Ersatzfreiheitsstrafe. | |
Debatte über Schwarzfahren: Kein Grund für den Knast? | |
Für manche Schwarzfahrer endet die ticketlose Fahrt in der JVA. Wie sich | |
das ändern ließe, darüber diskutierten Aktivist*innen mit dem | |
Justizsenator. |