# taz.de -- Ersatzfreiheitsstrafen in Niedersachsen: Wegen Armut in den Knast | |
> Die niedersächsischen Grünen wollen Ersatzfreiheitsstrafen vermeiden. | |
> Problematisch finden die auch andere Parteien, verzichten wollen sie aber | |
> nicht. | |
Bild: Wer nicht zahlen kann, fährt ein: Ersatzfreiheitsstrafen treffen meist O… | |
HANNOVER taz | Das Problem ist lange bekannt, wird von fast allen Parteien | |
als solches erkannt – und trotzdem ändert sich wenig bis gar nichts: Die | |
Rede ist von [1][Ersatzfreiheitsstrafen]. Rund 20 Millionen Euro wendet | |
allein Niedersachsen jedes Jahr dafür auf, Leute einzuknasten, die | |
eigentlich nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurden. | |
Ersatzfreiheitsstrafen, das haben Untersuchungen und Studien immer wieder | |
gezeigt, sind ein [2][Armuts- und Verelendungsproblem]. Sie treffen in der | |
Regel Leute, die wegen Bagatelldelikten wie Schwarzfahren, Drogenbesitz | |
oder Ladendiebstahl zu Geldstrafen verurteilt wurden, die dann nicht | |
aufbringen können und dafür ins Gefängnis wandern. | |
Um die 40 Prozent aller Haftantritte in Niedersachsen sind solche Fälle. | |
Rund 7.500 Haftantritte waren das in den Jahren vor der Pandemie jedes Jahr | |
– wobei einzelne Personen möglicherweise mehrfach erfasst sind. Denn lange | |
bleiben sie ja nie im Knast: Zwei bis drei Wochen im Schnitt, das ist | |
manchmal nicht einmal genug, um mit dem zuständigen Sozialarbeiter | |
Bekanntschaft zu machen. Dann stehen sie wieder auf der Straße, werden | |
wieder beim Schwarzfahren erwischt, fahren wieder ein. | |
Selbst in der Pandemie sank der Anteil nur geringfügig. Zwar wurde die | |
Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen in Niedersachsen wie in anderen | |
Ländern vorübergehend ausgesetzt, um die Haftanstalten zu entlasten und | |
Corona-Ausbrüche zu verhindern. Gleichzeitig funktionierten aber auch | |
Programme wie „Schwitzen statt Sitzen“, in denen die Betroffenen ihre | |
Geldstrafen abarbeiten können, nicht mehr. | |
## Die Justizministerin könnte mehr tun, finden die Grünen | |
„Ersatzfreiheitsstrafen sind kontraproduktiv, teuer und sozial ungerecht“, | |
sagt Marie Kollenrott (Grüne). Schon 2019 hat die Justizministerkonferenz | |
einen umfangreichen Bericht zum Thema verabschiedet, der auch ein Bündel | |
von Maßnahmen enthält, mit denen sich die Anzahl der teuren Hafttage | |
verringern ließe. | |
Aber Niedersachsen habe nur ein Bruchteil davon umgesetzt, sagt Kollenrodt. | |
Sie wirft insbesondere der Justizministerin Barbara Havliza (CDU) vor, das | |
Thema auszusitzen. Deshalb hat Kollenrott nun einen Antrag mit einem | |
detaillierten Forderungskatalog im niedersächsischen Landtag eingebracht. | |
Dabei ist es nicht so, dass Niedersachsen gar nichts unternommen hat. Es | |
gibt diverse Programme, die verhindern sollen, dass Leute in den Knast | |
wandern, die dort nicht hingehören. Dazu gehören zum Beispiel Anlaufstellen | |
der Straffälligenhilfe, die meist bei den großen Wohlfahrtsverbänden | |
angesiedelt sind und den Betroffenen helfen können, realistische | |
Ratenzahlungen zu vereinbaren, Arbeitsgelegenheiten zu finden oder | |
krankheitsbedingte Aufschübe zu erwirken. | |
Seit 2020 soll auch die Gerichtshilfe des Ambulanten Justizsozialdienstes | |
(AJSD) die Betroffenen noch einmal aufsuchen, wenn die Ladung zum | |
Haftantritt schon erfolgt ist – und versuchen, sie dazu zu bringen, die | |
Strafe doch irgendwie abzustottern oder abzuarbeiten. Eine detaillierte | |
Auswertung dieser Maßnahme steht demnächst erst an, was sich aber jetzt | |
schon sagen lässt, ist: Viele Betroffene erwischen sie so gar nicht. | |
## Gut gemeinte Maßnahmen erreichen die Betroffenen oft nicht | |
Ein Problem dabei ist: Die Justiz hat die Angewohnheit, vor allem | |
schriftlich zu kommunizieren. In vielen dieser Fälle kommt es nicht einmal | |
zu einer Gerichtsverhandlung. Die Sache wird per Strafbefehl erledigt. Auch | |
die Aufforderungen zur Zahlung, die Hinweise auf die alternativen | |
Tilgungsmöglichkeiten, die Beratungsstellen, die Hilfsangebote – alles | |
kommt per Brief. | |
Es wäre doch gut, fordern die Grünen, wenn diese Briefe vielleicht auch in | |
die Muttersprache des Betreffenden übersetzt werden, wie es andere Länder | |
schon machen. Im Ermittlungs- und Strafverfahren ist das | |
selbstverständlich, dass man sicherstellen muss, dass der Angeklagte | |
versteht, worum es geht. Bei allem, was nach dem Urteil kommt, nicht mehr. | |
Viele der Betroffenen wird auch das aber wahrscheinlich nicht erreichen. | |
Etliche kriminologische Studien zeigen: Die Betroffenen sind häufig | |
wohnungslos, isoliert, überschuldet, suchtkrank – sie bekommen gar keine | |
Post oder machen sie nicht auf. | |
Dass da irgendwo im Hintergrund noch Strafen ausstehen oder Haftbefehle | |
schlummern, fällt ihnen erst dann auf, wenn sie von der Polizei wegen | |
anderer Dinge aufgegriffen und direkt zur nächsten JVA gekarrt werden. Dort | |
greifen die meisten sozialarbeiterischen Maßnahmen auch nicht so richtig, | |
weil die auf Langzeitgefangene ausgelegt sind. Auch daran, fordern die | |
Grünen, müsste man etwas ändern. | |
## Die Arbeit im Knast zählt bisher nicht | |
Genauso wie an den Verrechnungsmethoden: Eigentlich sollte sich ein | |
Tagessatz am Nettolohn eines Tages orientieren. Wenn es jedoch keine | |
Verhandlung gibt, in der sich der Angeklagte zu seiner Einkommenssituation | |
und schon bestehender Verschuldung äußern kann, wird das geschätzt – und | |
diese Schätzung fällt nicht immer realistisch aus. | |
Auch die Umrechnung in Hafttage oder „freie Arbeit“ ist nicht ganz | |
schlüssig: Ein Tagessatz (der ja einem Arbeitstag entsprechen soll) wird | |
1:1 in einen Hafttag umgerechnet – der dauert aber nun einmal 24 Stunden | |
und ist viel invasiver, weil er die Betroffenen aus dem letzten bisschen an | |
sozialen Zusammenhängen reißt, die sie noch haben. | |
Um sich „freizuarbeiten“, muss man in der Regel sechs Stunden ableisten. | |
Andere Bundesländer fordern weniger oder bieten Möglichkeiten, das | |
Stundenkontigent an das Leistungsvermögen der Person anzupassen oder | |
teilweise zu erlassen. | |
Mit sogenannten „Day-by-day“-Projekten bieten sie auch die Möglichkeit, die | |
Arbeit im Knast anzurechnen. In Niedersachsen geht das bisher nicht, weil | |
Inhaftierte ohnehin einer Arbeitspflicht unterliegen – also kann die Arbeit | |
ja keine freiwillige oder zusätzliche Leistung sein. | |
## Konservative haben Angst, auf Strafen zu verzichten | |
Es sind zahlreiche kleinteilige Maßnahmen, die da gefordert sind. Mit | |
etlichen davon, deuten Vertreter von SPD, CDU und FDP im Landtag an, | |
könnten sie sich sogar anfreunden. Darüber wird also demnächst im Ausschuss | |
beraten. | |
Beim ganz großen Durchbruch scheiden sich allerdings die Geister: Die | |
Grünen hoffen, dass die Ampel auf Bundesebene den Strafrahmen für Dinge wie | |
Schwarzfahren oder Cannabisbesitz runterfährt. Die niedersächsische | |
Landesregierung sollte einen entsprechenden Vorstoß unterstützen, fordern | |
sie. | |
Das ist allerdings der Punkt, wo für die noch mitregierende CDU und auch | |
die niedersächsische FDP die Toleranzgrenzen überschritten werden. „Unrecht | |
muss Unrecht bleiben“, sagt Marco Genthe (FDP), „der Rechtsstaat darf nicht | |
kapitulieren“, sagt Thiemo Röhler (CDU). Ein Verzicht auf Strafen ist für | |
sie schwer vorstellbar – selbst wenn die nachweislich nichts bringen. | |
4 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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