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# taz.de -- Demo gegen Ersatzfreiheitsstrafen: Abschaffen statt halbieren
> Wer Bußgelder nicht zahlen kann, muss bisher oft in Haft. Die Ampel will
> die Ersatzstrafen verringern. Initiativen wollen die Praxis ganz beenden.
Bild: Protest gegen diese Praxis: Wer nicht bezahlen kann, muss in Knast
Berlin taz | „Man kann wegen Fahren ohne Ticket im Gefängnis landen?“,
fragt eine ältere Frau erstaunt, als sie vor dem Bundestag die Kundgebung
zur Abschaffung von Ersatzfreiheitsstrafen sieht. „Das ist nicht fair.“ Die
rund 20 Aktivist*innen, die am Mittwochmorgen im Nieselregen für die
Entkriminalisierung von Bagatelldelikten wie Schwarzfahren demonstrieren,
finden dafür noch deutlichere Worte.
„Ersatzfreiheitsstrafen sind dysfunktional und diskriminierend“, sagt
Anna-Rebekka Helmy vom Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe,
in dem unter anderem die Berliner Obdachlosenhilfe, die
Gefangenengewerkschaft GG/BO und das Komitee für Grundrechte und Demokratie
aktiv sind. Dass Menschen, die kein Geld für einen Fahrschein haben,
weggesperrt werden, ist für sie und ihre Mitstreiter*innen vor allem
eins: Klassenjustiz.
56.000 Menschen kommen laut dem Bündnis jedes Jahr wegen einer
Ersatzfreiheitsstrafe ins Gefängnis. Davon schätzungsweise 7.000 Menschen
wegen Schwarzfahren – genaue Zahlen gibt es nicht. [1][Betroffen sind vor
allem arme Menschen], die die gegen sie verhängte Geldstrafe nicht bezahlen
können. „85 Prozent der Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafe leben am
Existenzminimum“, sagt Helmy. „Das ist Armutsdiskriminierung.“ Angesichts
der Inflationskrise befürchtet sie, dass die Armut – und damit auch die
Ersatzfreiheitsstrafen – noch zunehmen werden.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) [2][will die
Ersatzfreiheitsstrafe reformieren]. Immerhin kritisieren selbst
Gefängnisdirektoren diese in vielen Fällen als unverhältnismäßige
Ressourcenverschwendung. Der von Buschmann vorgelegte Entwurf sieht vor,
[3][die Dauer der Haft künftig um die Hälfte zu kürzen].
## Halbiertes Elend
Für das Bündnis ist das nicht ausreichend. „Der Reformvorschlag schafft
keine einzige Verbesserung, weder für die überlastete Justiz noch für die
Betroffenen“, kritisiert Helmy. Statt das Elend abzuschaffen, werde es
lediglich halbiert. Dabei würden Menschen allein durch ihren Haftantritt
Gefahr laufen, ihre Wohnung und ihren Job zu verlieren. Auch finden die
meisten Suizide hinter Gittern innerhalb der ersten Wochen statt.
Unterstützung kommt von der Linke-Bundestagsabgeordneten Clara Bünger. Ihre
Partei setzt sich bereits seit Längerem für die Abschaffung von
Ersatzfreiheitsstrafen ein. Die nun vorgelegte Reform hält sie für
unzureichend. „Eine Halbierung der Strafe wird nichts verbessern, es müssen
genauso viele Menschen ins Gefängnis“, sagt Bünger zur taz.
Das kostet die Steuerzahler*innen mehr, als die ursprüngliche
Geldstrafe, kritisiert auch der Deutsche Anwaltverein. Der hält das
Gesetz aus dem 19. Jahrhundert für nicht mehr zeitgemäß und spricht sich
ebenfalls für dessen Abschaffung aus.
Die Abgeordnete Canan Bayram will der Reform trotzdem zustimmen. „Es ist
eine Verbesserung, die allerdings nicht ausreicht“, sagt die
Grünen-Politikerin zu den Demonstrant*innen. Darüber hinaus müssten
Tatbestände wie Schwarzfahren, Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht oder
Cannabiskonsum entkriminalisiert werden. Auch die Herabstufung von
Schwarzfahren zu einer Ordnungswidrigkeit oder ein kostenloser Nahverkehr
würde helfen.
Bis es so weit ist, will der Freiheitsfonds weiterhin Menschen freikaufen,
die wegen Fahrens ohne Ticket einsitzen. Mehrere Hundert Menschen wurden so
mit Hilfe von Spendengeldern schon befreit. Auf Dauer könne der
Freiheitsfonds staatliches Handeln allerdings nicht ersetzen, so Gründer
Arne Semsrott, hier sei die Politik gefragt.
19 Oct 2022
## LINKS
[1] /Ersatzfreiheitsstrafen-in-Berlin/!5857164
[2] /Ersatzfreiheitsstrafen-in-Deutschland/!5862399
[3] /Reform-der-Ersatzfreiheitsstrafe/!5865970
## AUTOREN
Marie Frank
## TAGS
Gefängnis
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Fahren ohne Fahrschein
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Marco Buschmann
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