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# taz.de -- Ersatzfreiheitsstrafen in Deutschland: Nur noch ein halber Tag im K…
> Bundesjustizminister Buschmann will Ersatzfreiheitsstrafen halbieren,
> indem er den Umrechnungsmodus verändert. Diese treffen meistens arme
> Menschen.
Bild: Bagatelldelikt Schwarzfahren: erste Schritte Richtung softere Strafen
Berlin taz | Justizminister Marco Buschmann (FDP) will die
Ersatzfreiheitsstrafe zurückdrängen. Wichtigste Änderung dabei: Pro
Tagessatz [1][einer nicht bezahlten Geldstrafe] soll nur noch ein halber
Tag Gefängnis vollstreckt werden. Das sieht ein Gesetzentwurf des
Justizministeriums vor, der der taz vorliegt.
Die Geldstrafe ist die wichtigste strafrechtliche Sanktion in Deutschland.
86 Prozent aller Strafurteile enthalten eine Geldstrafe. Dabei wird die
Höhe sozial gestaffelt. Wer viel verdient, zahlt einen höheren Tagessatz
als ein:e Hartz-IV-Empfänger:in. Maßstab für den Tagessatz ist das
Netto-Einkommen pro Tag.
Wer seine Geldstrafe nicht bezahlt, muss dann aber doch ins Gefängnis.
Diese Ersatzfreiheitsstrafe wirkt vor allem als Druckmittel, damit die
Geldstrafe als Sanktion auch durchgesetzt werden kann. Tatsächlich bezahlen
rund 90 Prozent der Verurteilten ihre Geldstrafe. Etwa 4 Prozent leisten
ersatzweise gemeinnützige Arbeit („Schwitzen statt Sitzen“). 3 Prozent der
Verurteilten bezahlen nach Beginn der Ersatzhaft die Strafe doch noch und
nur 3 Prozent sitzen die gesamte Ersatzfreiheitsstrafe ab, im Schnitt 38
Tage.
Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft [2][vor allem sozial Deklassierte], hat
der Journalist Ronen Steinke in seinem [3][Buch „Vor dem Gesetz sind nicht
alle gleich“ dargelegt.] Die meisten Ersatzfreiheitsstrafer sind
verschuldet, zwei Drittel haben Alkohol- oder andere Drogenprobleme, 40
Prozent kommen aus der Obdachlosigkeit. Bei den Delikten geht es in rund
einem Viertel der Fälle um Geldstrafen wegen Fahrens ohne Ticket, ein
weiteres Drittel betrifft kleinere Diebstähle und Betrügereien. Hinzu
kommen Drogendelikte.
## Ampel diskutiert Entkriminalisierung von ticketlosem Fahren
Für Aufsehen sorgte jüngst der „Freiheitsfonds“ des Aktivisten Arne
Semsrott, der rund 450.000 Euro Spenden einsammelte und damit für bisher
449 Schwarzfahrer:innen die Geldstrafen bezahlte, so dass sie sofort
aus der Haft entlassen wurden. Oft hatten Vollzugsbeamt:innen den
Freiheitsfonds auf Fälle hingewiesen, die ihnen ungerecht erschienen. Die
Ampelkoalition will zwar diskutieren, ob das Fahren ohne Ticket (offiziell
„Erschleichen von Leistungen“) entkriminalisiert wird. Doch dieses Thema
steht erst nächstes Jahr auf Buschmanns Agenda, weil es dann auch um andere
umstrittene Delikte gehen soll.
Im konkreten Gesetzentwurf soll zunächst die Ersatzfreiheitsstrafe
zurückgedrängt werden, vor allem, indem der Umrechnungsmodus verändert
wird. Bisher muss der Verurteilte pro Tagessatz nicht bezahlter Geldstrafe
einen Tag ins Gefängnis. Künftig soll dies auf einen halben Tag reduziert
werden, weil die Haft Menschen ungleich schwerer belaste als eine
Geldstrafe. Bei der Umrechnung der Tagessätze in gemeinnützige Arbeit soll
der Schlüssel ebenso halbiert werden. Dies dürfte es den Bundesländern
erleichtern, flächendeckend „Schwitzen statt Sitzen“-Projekte anzubieten.
## Schärfere Strafen für „geschlechtsspezifische“ Taten
Außerdem soll die Gerichtshilfe ermuntert werden, Personen, denen eine
Ersatzfreiheitsstrafe droht, persönlich aufzusuchen, um zum Beispiel über
Möglichkeiten der Stundung oder Ratenzahlung zu sprechen. Hier will der
Bund aber nur an die Bundesländer appellieren und ihnen keine Vorschriften
machen – wobei jeder vermiedene Hafttag den Bundesländern immerhin rund 140
bis 150 Euro einspart.
Der 85-seitige Gesetzentwurf des Justizministeriums, der jetzt in die
Ressortabstimmung der Bundesregierung ging, enthält aber nicht nur
Vorschläge zum Zurückdrängen der Ersatzfreiheitsstrafe, sondern auch noch
andere Projekte. So will Buschmann bei den Regeln über die Strafzumessung
ausdrücklich schärfere Strafen vorschreiben, wenn der Täter
„geschlechtsspezifische“ Beweggründe und „gegen die sexuelle Orientierung
gerichtete“ Ziele verfolgte.
Betreffen könnte die Strafschärfung etwa den Mordversuch an einer
Partnerin, die sich trennen wollte, oder die Beleidigung gegenüber einem
Mitglied der LGBTQIA-Community. Früher genügte im Gesetz die Vorgabe, dass
„menschenverachtende“ Motive strafverschärfend sind, nun werden immer mehr
Gruppen ausdrücklich genannt.
5 Jul 2022
## LINKS
[1] /Ersatzfreiheitsstrafen-in-Niedersachsen/!5862144
[2] /Ersatzfreiheitsstrafen-in-Berlin/!5857164
[3] /Sachbuch-uebers-deutsche-Justizsystem/!5839438
## AUTOREN
Christian Rath
## TAGS
Fahren ohne Fahrschein
Ersatzfreiheitsstrafe
Gerichtsentscheid
Gefängnis
Schwerpunkt Armut
Drogenkonsum
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Ersatzfreiheitsstrafe
Schwerpunkt Stadtland
JVA Plötzensee
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