# taz.de -- Diebstahlschutz an Lebensmitteln: Arme sollen hungern müssen | |
> Supermärkte beginnen offenbar, Lebensmittel mit Diebstahlschutz zu | |
> versehen. Dass Arme gehindert werden, an Lebensmittel zu gelangen, ist | |
> ein Unding. | |
Bild: Diebstahlschutz künftig auch für Lebensmittel? | |
Berlin taz | Manchmal sind gerade vermeintlich kleine Veränderungen ein | |
Gradmesser für große gesellschaftliche Schieflagen. Eine solche Veränderung | |
könnte sein, was [1][ein Reporter der Berliner Zeitung] in einem Supermarkt | |
in Berlin-Weißensee entdeckte: eine ganze Reihe von Billigfleischprodukten, | |
die mit Sicherungsmarkierungen versehen wurden, die sonst nur bei | |
Luxusartikeln wie Champagner zum Einsatz kommen. Die deutlich teureren | |
Bioprodukte in derselben Filiale seien dagegen nicht gesichert gewesen. | |
Arme Menschen gönnen sich also auch dann nichts, wenn sie klauen. | |
Dass Supermarktkonzerne einen solchen Aufwand betreiben, um Menschen daran | |
zu hindern, an Nahrungsmittel zu gelangen, ist ein Unding. Zumal es sich | |
offenbar nicht um einen Einzelfall handelt: [2][Auf Twitter kursiert ein | |
Foto] aus einer Lidl-Filiale, das mit einer ähnlichen Markierung gesicherte | |
Butterpackungen zeigt. Laut Bild sichern britische Supermärkte bereits im | |
großen Stil Produkte wie Käse, Babymilch oder Vitaminpräparate. | |
Es überrascht nicht, dass scheinbar immer mehr Menschen klauen müssen. Laut | |
[3][Verbraucherzentrale] haben sich Lebensmittel allein im letzten Jahr um | |
fast 15 Prozent verteuert – die Preise für Produkte wie Speiseöl sind sogar | |
um fast 40 Prozent in die Höhe geschossen. Menschen, die schon zuvor jeden | |
Cent umdrehen mussten, stellt das vor existenzielle Probleme. Zu Recht | |
spricht Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland, gegenüber | |
Bild von „Verzweiflungstaten“. | |
## Befreiungsakte gegen das kapitalistische Tauschprinzip | |
Auch nicht überraschen kann im Kapitalismus allerdings, dass Supermärkte | |
versuchen werden, die Menschen am Klauen zu hindern – schließlich ist es | |
ihr Geschäftsmodell, aus Grundbedürfnissen Profit zu machen. Weil der | |
Ladendiebstahl ein Ausbruch aus dem kapitalistischen Tauschprinzip (Arbeit | |
gegen Geld gegen Nahrung) darstellt, wurde er von Anarchist:innen immer | |
wieder als Befreiungsakt zelebriert. | |
„Ladendiebstahl nimmt den Waren die mythische Macht“, heißt es in [4][einem | |
Essay des anarchistischen Thinktanks „CrimethInc.“] Man muss aber | |
keineswegs ein:e Anarchist:in sein, um zu sehen, dass der Hunger die | |
Vorstellung von Nahrungsmitteln als Ware obsolet macht. Auch für einen | |
bürgerlichen Philosophen wie Immanuel Kant war klar, dass es so etwas wie | |
ein Recht der Notwendigkeit gibt. | |
Wer in einem Sturm Unterschlupf sucht, wird sich von einer Tür nicht | |
aufhalten lassen. Wer hungert, wird sich Nahrung beschaffen – dagegen | |
Gesetze zu schreiben ist bei Kant ein logischer Widerspruch. Es kann | |
deshalb nie gerecht sein, Menschen zu bestrafen, weil sie sich das Leben | |
nicht mehr leisten können. | |
14 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berliner-zeitung.de/news/inflation-erster-berliner-supermarkt-v… | |
[2] https://twitter.com/NinjaTrekkie/status/1547852753858207744?ref_src=twsrc%5… | |
[3] https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/lebensmittelprodukti… | |
[4] https://de.crimethinc.com/2000/09/11/warum-ich-ladendiebstahl-liebe-von-gro… | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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