| # taz.de -- Nomaden in der Mongolei: Rentiere, Starlink und zu viel Wodka | |
| > In der Mongolei leben einige der letzten verbliebenen Rentiernomaden. | |
| > Über Nomadentum zwischen Tradition und Modernisierung. | |
| Bild: Auf Geweih und Erwerb: Rentiere der Nomaden-Herde im Tengis-Shishged Nati… | |
| Tsagaannuur taz | Das Camp der Nomaden wirkt wie ein Ort aus einer anderen | |
| Zeit: Zwischen Tannen stehen und liegen unzählige Rentiere, die immer | |
| wieder lautstarke Grunzer von sich geben. Der Waldboden ist mit kleinen | |
| weißen Schneeinseln bedeckt, die in der Herbstsonne glitzern. Zwischen den | |
| Rentieren sind fünf Tipis zu sehen, aus denen kleine Rauchwolken in den | |
| Himmel steigen. Vor einem der Tipis sind Otgonjargal Munkhuu und Sansar | |
| Ganbat gerade dabei, ihr Hab und Gut zu sortieren. Auf dem Boden liegen | |
| Decken, Gummistiefel, Kochutensilien und andere Taschen. Daneben warten | |
| zwei gesattelte Pferde darauf, geritten zu werden. | |
| „Die Rentierwanderung ist eines der Dinge, die ich am meisten liebe“, sagt | |
| Otgonjargal. Sie trägt eine pinke Funktionsjacke und hellblaue | |
| Gummistiefel, ihre langen braunen Haare sind mit einer silbernen Spange | |
| festgemacht. Einen Monat lang werden die Nomaden alle paar Tage ihren | |
| Standort wechseln. Um für den Winter vorzusorgen, müssen die Rentiere im | |
| Herbst so viel Fressen wie möglich bekommen. Die Nomaden ziehen deshalb von | |
| einem Camp zum nächsten, auf der Suche nach Wiesen mit ausreichend Moos und | |
| Flechten für ihre Tiere. Bis zu zehn Mal pro Jahr wechseln die Nomaden | |
| ihren Standort – es ist ein Leben in Bewegung. | |
| Das Ehepaar Otgonjargal und Sansar sind zwei von etwa 200 verbliebenen | |
| Tsaatan-Nomaden im Nordwesten der Mongolei, die dort mit circa 1.500 | |
| Rentieren leben. Beide sind hier aufgewachsen, sie haben die Taiga nur | |
| verlassen, um im nahegelegenen 2.000-Einwohner-Ort Tsagaannuur zur Schule | |
| zu gehen. Seit Jahrtausenden leben die Nomaden in der Taiga, ihre indigene | |
| Kultur war immer wieder vom Aussterben bedroht. Dank Unterstützung von | |
| außen konnte ihre Lebensweise gerettet werden. | |
| Wie leben die Nomaden im 21. Jahrhundert? Und wird ihre Lebensform in | |
| Zeiten der Modernisierung weiter bestehen können? | |
| „Ich kann mir kein anderes Leben vorstellen“, erzählt Otgonjargal wenige | |
| Tage zuvor in Tsagaannuur. In einer kleinen Holzhütte schneidet sie gerade | |
| einen beigefarbenen Block in kleine Scheiben. Es ist getrockneter | |
| Rentierkäse. Sonst machen die Nomaden aus der Rentiermilch auch Butter und | |
| Joghurt. Die 38-Jährige ist für ein paar Tage im Ort, weil diese Woche für | |
| ihre achtjährige Tochter die Schule angefangen hat. Sie wird aber nicht | |
| lange bleiben, da sie für die Migration zurück ins Camp will. | |
| Ihre Großmutter übernimmt dann die Betreuung ihrer Tochter. In Tsagaannuur | |
| weiß Otgonjargal immer nicht so recht, was sie mit sich anfangen soll. | |
| „Hier mache ich nur klassische Haushaltsaufgaben, das ist nicht so meins“, | |
| sagt sie. In der Taiga kann sie sich um die Rentiere kümmern, sie melken, | |
| anbinden, Milchprodukte herstellen. Das erfüllt sie sehr viel mehr, die | |
| Tage vergehen dort schneller. | |
| ## Herden waren Staatseigentum | |
| Die Tsaatan gehören zu der ethnischen Gruppe der Tuwa, die in Sibirien und | |
| im Nordwesten der Mongolei leben. Die Mongolei wurde bis 1990 kommunistisch | |
| regiert. Die Herden der Nomaden waren damals Staatseigentum; die Hirten | |
| bekamen lediglich finanzielle Unterstützung für ihre Hütung. Viele der | |
| erwerbsfähigen Männer wurden gezwungen, in der Fischzucht oder in Fabriken | |
| zu arbeiten, was einen sesshaften Lebensstil beförderte. | |
| Mit dem Ende des Kommunismus in den 1990er Jahren konnten die Nomaden ihren | |
| Lebensstil zwar wieder freier verfolgen, doch das Wegbrechen finanzieller | |
| Hilfen und eine hohe Arbeitslosigkeit führten dazu, dass viele ihre | |
| Rentiere schlachten und verkaufen mussten. Erst durch den Tourismus ab den | |
| 90er Jahren, internationaler sowie nationaler finanzieller Unterstützung | |
| konnte sich der Rentierbestand in den letzten Jahrzehnten erholen. | |
| „Früher hatten wir von allem zu wenig“, sagt auch Otgonjargal. Es fehlte an | |
| Mehl, Reis und Fleisch, sie erinnert sich an kalte Füße im Winter. Sie weiß | |
| aber nicht mehr, ob die Winter früher kälter waren oder sie damals noch | |
| keine richtigen Schuhe hatten, erzählt sie schmunzelnd. Jetzt haben sie von | |
| allem genug. Seit April haben die Nomaden im Osten der Taiga sogar eine | |
| Internetverbindung per Starlink, Elon Musks Satellitennetzwerk. Das dafür | |
| nötige Gerät war ein Geschenk einer Lokalpolitikerin, um die Stimmen der | |
| Nomaden für sich zu gewinnen. | |
| Mittlerweile besitzen Otgonjargal und ihr Ehemann sogar ein kleines Haus in | |
| Tsagaannuur. Das konnten sie sich nur leisten, weil die Tsaatan, die in der | |
| Taiga leben, seit 2013 von der Regierung finanziell unterstützt werden. | |
| Erwachsene bekommen umgerechnet 130 Euro im Monat, Kinder 70 Euro. Das ist | |
| nicht besonders viel, das durchschnittliche Einkommen in der Mongolei liegt | |
| bei circa 530 Euro im Monat. Trotzdem konnte das Paar über den finanziellen | |
| Zuschuss der Regierung über die Jahre Geld sparen und sich das Haus kaufen. | |
| Doch der Zuschuss hat seinen Preis, wegen ihm haben die Nomaden auch einen | |
| Teil ihrer indigenen Kultur verloren. | |
| ## Hunderte Rentiere setzen sich in Bewegung | |
| Zurück im Camp der Tsaatan: Nach ein paar Stunden herrscht | |
| Aufbruchstimmung. Zwischen den Tannen ist Sansar auf einem Pferd zu sehen. | |
| In seiner rechten Hand hält er ein Seil, an dem fünf voll bepackte Rentiere | |
| laufen. Er trabt mit ihnen Richtung Wald. Ein paar weitere Nomaden sind | |
| parallel damit beschäftigt, die im Wald angebundenen Rentiere von den | |
| Seilen zu lösen. Hunderte Rentiere setzen sich in Bewegung, ihre Hufe | |
| machen ein sanftes, gedämpftes Geräusch auf dem Waldboden. Dicht gefolgt | |
| werden sie von mehreren Reitern, die immer wieder „Tschuu, tschuu“ rufen, | |
| um die Tiere weiter durch den sumpfigen Wald zu treiben. | |
| Nach einem halbstündigen Ritt erstreckt sich die Weite der Taiga in ihrer | |
| gesamten Schönheit. Rechts und links ragen steile Hügelketten mit gelben, | |
| orangenen und grünen Tannen in den blauen Himmel. An ihren Spitzen ist | |
| erster Schnee zu sehen. Dazwischen ein Tal, eine weitläufige Wiese bedeckt | |
| mit braunen Sträuchern. Außer den Nomaden, ihren Rentieren und ein paar | |
| anderen Reitern ist nur die Weite der Taiga zu sehen. Auf der linken Seite | |
| des Tals traben Hunderte Rentiere, gefolgt von den Reitern, einen steilen | |
| Hügel entlang. Auf der rechten Seite trotten die bepackten Rentiere in | |
| etwas gemütlicherem Tempo hinterher. | |
| Die Rentierherde zu hüten ist hauptsächlich Aufgabe der Tsaatan-Männer. | |
| Sonst besorgen und hacken sie auch das Feuerholz, das zum Kochen und Wärmen | |
| der Tipis gebraucht wird. Früher waren sie zudem viel mit Jagen | |
| beschäftigt. Aber seit 2013 wurde der Tengis-Shishged National Park, in dem | |
| die Nomaden leben, zum Naturschutzgebiet erklärt. Die Nomaden dürfen dort | |
| nicht mehr jagen und fischen. Dafür bekommen sie jetzt Geld von der | |
| Regierung. Für die Tsaatan war das ein großer Einschnitt in ihre indigene | |
| Kultur. | |
| „Mit dem Verbot wurde uns ein Stück Freiheit genommen“, sagt Sansar. Zwar | |
| versteht er, dass gefährdete Arten geschützt werden müssen. Aber für ihn | |
| ist das Gesetz zu streng ausgelegt. Erst dieses Jahr mussten sie vor dem | |
| Gericht erscheinen, weil sie erwischt wurden, wie sie illegal einen Elch | |
| jagten. Die Anklage wurde zwar fallen gelassen, aber da die Nomaden vor Ort | |
| erscheinen mussten, bedeuten Prozesse wie diese unnötige Kosten, so Sansar. | |
| Für Frustration sorgte auch, dass sie bei dem Verbot wenig in den | |
| Entscheidungsprozess einbezogen wurden. „Wir wussten erst, dass ein | |
| Jagdverbot existiert, als ein Ranger vor uns stand“, sagt der 39-Jährige. | |
| Er würde sich wünschen, dass es ihm wenigstens erlaubt wäre, ein | |
| Wildschwein für den Winter zu jagen. | |
| ## Umweltschutz verdrängt indigene Kulturen | |
| Dass indigene Kulturen im Sinne des Umweltschutzes verdrängt werden, ist | |
| ein Phänomen, das sich in der Vergangenheit auch in anderen Teilen der Welt | |
| beobachten ließ. Zum Beispiel im Yosemite Nationalpark in Kalifornien: Dort | |
| wurden im 19. Jahrhundert, unter dem Vorwand des Naturschutzes, Indigene | |
| von weißen Siedlern aus dem Gebiet vertrieben und in ein Reservat | |
| zwangsumgesiedelt. In der Mongolei können die Tsaatan zwar weiter in dem | |
| Gebiet leben, doch sie haben das Gefühl, dass durch das Jagdverbot etwas in | |
| der Natur ins Wanken geraten ist. So beobachten sie in den vergangenen | |
| Jahren immer mehr Wölfe, die ihren Rentierbestand gefährden, weil sie die | |
| Tiere nachts angreifen. | |
| Die Parkwächter des Nationalparks berichten, dass seit dem Verbot mehr | |
| Elche, Luchse und Braunbären beobachtet werden. Und laut einer Studie ist | |
| die Anzahl von gefährdeten Arten wie dem Sibirischen Steinbock gestiegen. | |
| Aber wie sich nicht gefährdete Arten wie etwa der Wolf entwickelt haben, | |
| wird nicht erfasst. | |
| Mit dem Jagdverbot wurde zudem eine neue Abhängigkeit geschaffen. Denn um | |
| zu überleben, brauchen die Nomaden jetzt auch verarbeitete Lebensmittel wie | |
| Mehl, getrocknetes Rindfleisch oder Reis. Viele Tsaatan kritisieren, dass | |
| ihre Ernährung durch das Jagdverbot einseitiger wurde, da ihnen wichtige | |
| Nährstoffe aus dem Wildfleisch fehlten. | |
| Nach einem dreistündigen Ritt erreichen die Nomaden ihr neues Camp. Dieses | |
| ist direkt an einem Fluss gelegen, an dessen linkem Ufer sich eine hügelige | |
| Wiese mit unzähligen Sträuchern erstreckt. Otgonjargal und Sansar haben | |
| sich bereits in einem neuen Tipi eingerichtet. Die Tipis sind | |
| Holzkonstruktionen aus mehreren Baumstämmen. Wenn die Nomaden weiterziehen, | |
| lassen sie die Baumstämme stehen, so müssen sie lediglich Planen auf die | |
| Tipis spannen, wenn sie ein neues Camp erreichen. | |
| Vor dem Tipi ist Sansar gerade dabei, Holz zu hacken. Otgonjargal treibt | |
| die Rentiere die hügelige Wiese hinauf. Die herbstliche Abendsonne färbt | |
| das gesamte Camp in ein goldschimmerndes Licht, dahinter erstrecken sich | |
| die beruhigenden, weiten Hügelketten der Taiga. Je länger man das Paar in | |
| ihrem Alltag beobachtet, desto mehr versteht man, warum sie nur dieses | |
| Leben leben wollen. | |
| „Ich möchte in der Taiga alt werden“, sagt Otgonjargal, wenn man sie fragt, | |
| wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Sansar gibt die gleiche Antwort. Die | |
| beiden haben sich in der Taiga kennengelernt, sind gemeinsam dort | |
| aufgewachsen. Als Sansar 17 Jahre alt war, hat er Otgonjargal einen Brief | |
| geschrieben. Ein Freund von ihm hat ihn ihr damals überreicht. Darin hat er | |
| sie gefragt, ob sie mit ihm zusammen sein wolle. Ein Jahr lang hat sie | |
| nicht geantwortet. Sie wollte sich Zeit lassen. Dann hat er sie noch mal | |
| gefragt. Diesmal sagte sie Ja. Jetzt sind sie fast 20 Jahre zusammen. | |
| ## Junge Menschen ziehen in die Hauptstadt | |
| Wünschen sich die beiden, dass auch ihre Tochter in der Taiga bleibt? „Ich | |
| möchte ihr nichts vorschreiben“, sagt Otgonjargal. Sie selbst hatte nie die | |
| Möglichkeit, zu studieren, deshalb will sie ihrer Tochter eine gute | |
| Ausbildung ermöglichen. Sie hat zudem das Gefühl, dass sich die mongolische | |
| Gesellschaft gerade verändert. Dass immer mehr junge Menschen in die | |
| Hauptstadt ziehen, um dort zu studieren und zu arbeiten. Eine halbe Stunde | |
| später kommt ihre Tochter zum Gespräch hinzu. Auf die Frage, was sie mal | |
| werden will, sagt sie prompt: „Mathelehrerin.“ Und warum? „Weil ich gut | |
| drin bin.“ | |
| Dass sich Eltern eine gute Ausbildung eher für ihre Töchter als für ihre | |
| Söhne wünschen, ist typisch für die Mongolei. Die Söhne hingegen bleiben | |
| oftmals auf dem Land, um die körperliche Arbeit zu verrichten. So leben | |
| laut dem mongolischen Statistikamt mehr Männer auf dem Land als in der | |
| Stadt und Frauen haben insgesamt höhere Bildungsabschlüsse. Das führt | |
| mitunter dazu, dass viele Männer auf dem Land keine Ehefrauen finden. Und | |
| ist das bei den Tsaatan nicht auch ein Problem? Nein, sagen Otgonjargal und | |
| Sansar, es gibt immer noch genug junge Paare in ihrem Stamm, die sich für | |
| ein Leben in der Taiga entscheiden. | |
| ## Drei Männer schlafen ihren Rausch aus | |
| Am nächsten Tag bereitet Otgonjargal das mongolische Gericht Khoshor in | |
| einem der Tipis zu. Das frittierte Brot wird mit Fleisch und Zwiebeln | |
| gefüllt. Auf dem Holzofen in der Mitte des Tipis ist eine kleine runde | |
| Pfanne, in der heißes Öl brutzelt. Daneben formt eine junge Frau mit | |
| flinken Bewegungen die kleinen Teigtaschen, bevor sie nach und nach in die | |
| Pfanne geworfen werden. Neben dem Brutzeln ist auch immer wieder ein lautes | |
| Schnarchen zu hören. Auf dem Boden des Tipis liegen drei Männer, sie | |
| schlafen gerade ihren Rausch aus. Die Migration ist ein besonderes Ereignis | |
| für die Familien. Traditionell bringt jede Familie eine Flasche | |
| selbstgemachten Schnaps mit zu dem neuen Camp. Und diese muss geleert | |
| werden, bevor die Nomaden weiterziehen. | |
| Eine Nomadin, die im mittlerweile leeren Camp im Wald Stellung hält, ist | |
| die 64-jährige Purvee Jambadorj. Sie sitzt gerade in ihrem Tipi, statt dem | |
| Grunzen der Rentiere ist nur das Knarzen des Feuerholzes aus ihrem Ofen zu | |
| hören. „Ich vermisse meine Rentiere, ich sehe ihnen so gerne beim Grasen | |
| zu“, sagt sie. Ihre Kinder haben Sorge, dass sie gesundheitlich nicht fit | |
| genug ist, um auf die Migration mitzukommen. Sie haben sie deshalb mit der | |
| Betreuung ihrer Enkel beauftragt. Purvee hat ihr gesamtes Leben in der | |
| Taiga verbracht. „Unser Alltag ist in den letzten Jahren sehr viel | |
| einfacher geworden“, sagt sie. Aber diese Entwicklung hat auch ihre | |
| Schattenseiten. | |
| „In den letzten Jahren hat der Alkoholkonsum unter den jungen Leuten sehr | |
| stark zugenommen“, sagt die 64-jährige. Da die Nomaden mehr Lebensmittel im | |
| Ort kaufen müssen, ist die Versuchung größer, auch bei Alkohol ins Regal zu | |
| greifen. Durch das Geld der Regierung und die Einnahmen aus dem Tourismus | |
| können sie sich diesen auch mehr leisten. Und Alkohol ist billig und | |
| überall verfügbar. In keinem anderen Land gibt es so viele Läden, die | |
| Alkohol verkaufen wie in der Mongolei. Und dann sind da noch die | |
| Tourist:innen, die gerne mal als Geschenk eine Flasche Wodka mitbringen. | |
| Alkoholismus ist im ganzen Land ein Problem. Laut WHO leiden etwa 8 Prozent | |
| der Bevölkerung unter Alkoholsucht. In der Mongolei sterben zudem die | |
| meisten Menschen an Leberkrebs weltweit, was auch auf den hohen | |
| Alkoholkonsum zurückzuführen ist. Die Gesundheitsprobleme werden von der | |
| Regierung weitestgehend ignoriert. Denn diese verdient durch Steuern und | |
| Lizenzen viel Geld mit dem Verkauf. | |
| Die Alkoholindustrie hat eine große Lobby im Land. Alkohol hat zudem einen | |
| hohen kulturellen Stellenwert, fast jede heimische Marke schmückt ihre | |
| Flaschen mit einem nationalen Helden aus Zeiten des Mongolischen Reichs. | |
| Schon damals war Alkohol Teil der Alltagskultur. Die Nomaden mussten durch | |
| das Jagdverbot einen Teil ihrer traditionellen Lebensweise aufgeben, sie | |
| sind damit mehr Teil der modernen mongolischen Gesellschaft geworden. Damit | |
| haben womöglich auch die Kehrseiten wie Alkoholmissbrauch Einzug erhalten. | |
| „Es ist gefährlich, wenn sich die jungen Leute daran gewöhnen“, sagt | |
| Purvee. Sie versucht, die Kinder über das Thema aufzuklären und mit den | |
| anderen Familien über die Gefahren ins Gespräch zu kommen. Die Stimme der | |
| 64-Jährigen findet in der Tsaatan-Community mehr Gehör. Zwar bilden die | |
| Familien die Kerngemeinschaft bei den Nomaden, es gibt keinen Anführer oder | |
| Anführerin. Doch wenn gemeinsame Entscheidungen getroffen werden, dann | |
| wiegt die Meinung der Älteren oftmals mehr. Ihre Erfahrung wird vor allem | |
| bei der Frage, wann sie weiterziehen, wertgeschätzt. | |
| Was die Aufgabenverteilung angeht, herrscht bei den Tsaatan-Nomaden eine | |
| relativ klare Geschlechtertrennung. „Es ist wie eine ungeschriebene Regel, | |
| die von allen akzeptiert wird“, sagt Otgonjargal. Gleichzeitig gibt es aber | |
| auch immer mehr Frauen, die die Migration begleiten, was traditionell eher | |
| eine Männeraufgabe ist. | |
| Seit einigen Jahren stellen die Männer aus den Geweihen der Rentiere auch | |
| kleine Figuren her, die sie im Sommer an Tourist:innen verkaufen. Der | |
| Tourismus ist eine weitere Einnahmequelle für die Nomaden, ausländische | |
| Gäste kommen in die Camps und zahlen eine kleine Übernachtungsgebühr, um in | |
| den Tipis schlafen zu können. Sie kommen vor allem, um den Alltag der | |
| Nomaden mitzuerleben. | |
| Eine, die die Tourist:innen zu den Nomaden bringt, ist die 33-jährige | |
| Azjargal Amarsanaa, die alle bei ihrem Spitznamen Azaa kennen. Sie sitzt | |
| gerade in einer kleinen Hütte in Tsagaannuur. Die junge Frau trägt eine | |
| Bomberjacke und eine Outdoorhose. Die Hütte gehört ihrer Kollegin, die ab | |
| und zu für die Gruppen von Tourist:innen kocht. Sie hat nur einen Raum | |
| mit einem Bett, einer großen Couch und bunt bemalten Regalen. Auf dem | |
| Holzofen in der Mitte ist eine große metallene Schüssel mit kochendem | |
| Wasser. Die beiden sind gerade dabei, Dumplings für ausländische Gäste | |
| zuzubereiten, die heute von einer Tour zurückkommen. | |
| „Ich mache mir Sorgen um eine Niederländerin“, erzählt Azaa. Die Touristin | |
| sollte schon längst zurück sein, sie habe mehrmals versucht, ihren | |
| Pferdeführer zu erreichen – doch ohne Erfolg. „Ich hoffe, sie ist nicht vom | |
| Pferd gefallen“, sagt sie. Gegen 17 Uhr kommt die Niederländerin dann doch | |
| in der Hütte an. Sie wirkt etwas angestrengt, es gab eine Misskommunikation | |
| zwischen dem Pferdeführer und ihr, sie wollte noch länger reiten als er. | |
| Ihr Aufenthalt bei den Nomaden sei schön gewesen, nur hatte sie es sich | |
| etwas anders vorgestellt, erzählt sie. „Ich wollte noch mehr mit ihnen über | |
| ihren Alltag ins Gespräch kommen. Aber es wirkte, als wären sie alle etwas | |
| angestrengt von der Saison“, sagt sie. | |
| Tourist:innen kommen vor allem in den Sommermonaten. Und dann sind es | |
| ziemlich viele. Allein Azaa organisiert zwölf Touren pro Saison. Stört die | |
| Nomaden der ständige Besuch? Otgonjargal verneint. Ihr machen die | |
| ausländischen Gäste nichts aus, da sie ja nur zwei Monate im Jahr kommen. | |
| Mit dem zusätzlichen Geld kann sie sich Dinge wie ein neues Bett leisten. | |
| Und Purvee freut sich auf die Tourist:innen. „Ich finde es schön, neue | |
| Gesichter zu sehen und mehr über andere Lebenswelten zu erfahren“, sagt | |
| sie. | |
| ## Die Tsaatan erreicht man nur mit dem Pferd | |
| Auch Azaa ist der Meinung, dass die Touren noch immer eine nachhaltige Form | |
| des Tourismus seien. Die Tsaatan erreicht man nur mit dem Pferd. Je | |
| nachdem, wo sie sich aufhalten, kann es ein oder mehrere Tage dauern, um | |
| sie zu finden. Allein das verhindert, dass sich eine Form von | |
| Massentourismus entwickelt. Die Mutter von zwei Kindern hat zuvor Englisch | |
| in Murun unterrichtet. Als Lehrerin waren ihr Beruf und die Kinderbetreuung | |
| um einiges einfacher miteinander zu arrangieren. Doch sie liebt es, mit den | |
| Pferden in der Natur zu sein. Wenn sie in der Taiga unterwegs ist, passen | |
| ihre Mutter oder ihr Vater auf ihre Kinder auf. „Ohne sie könnte ich diesen | |
| Job nicht machen“, sagt die junge Frau. | |
| Dass die Großeltern auf die Enkel aufpassen, während die Kinder einem Job | |
| in einem anderen Ort nachgehen, ist ganz normal in der Mongolei. Was auch | |
| damit zusammenhängt, dass immer mehr junge Menschen in der Hoffnung auf | |
| besser bezahlte Arbeit in die Städte abwandern. „Ich habe das Gefühl, dass | |
| meine Generation sehr viel materialistischer geworden ist“, sagt Azaa. | |
| Es gehe viel darum, mehr Geld zu verdienen. Auch sie möchte ihren Kindern | |
| eine gute Ausbildung bieten. Es war auch eine finanzielle Motivation, ein | |
| Business als Tourguide aufzubauen, um ihren Kindern mal ein Studium im | |
| Ausland zu ermöglichen. Die Tsaatan würden ihr jedoch helfen, nicht zu viel | |
| in die Zukunft zu schauen, sondern das Leben im Moment und in der Natur zu | |
| genießen. | |
| Gleichzeitig ist das moderne Leben auch in der Taiga längst angekommen. | |
| Dinge wie der Internetzugang und die finanzielle Unterstützung machen den | |
| Alltag der Nomaden einfacher, haben aber auch neue Abhängigkeiten | |
| geschaffen. Für welches Leben sich die Kinder der Tsaatan entscheiden, ob | |
| sie das moderne Leben weiter in ihren Alltag integrieren können oder ganz | |
| in die Städte abwandern, wird wohl darüber entscheiden, ob die Lebensweise | |
| der Tsaatan erhalten bleibt. | |
| Im Camp am Fluss sind nach zwei Tagen die umliegenden Sträucher von den | |
| Rentieren abgegrast. Für Otgonjargal und Sansar bedeutet das: weiterziehen. | |
| Der Tipi ist so schnell abgebaut, wie er aufgebaut wurde, die Rentiere | |
| werden wieder mit ihren Habseligkeiten bepackt. Sansar reitet voran, | |
| Otgonjargal folgt auf einem weißen Pferd, hinter ihr trotten vier voll | |
| bepackte Rentiere. Dann verschwindet sie in den gelb leuchtenden | |
| Hügelketten der Taiga. | |
| Diese Recherche wurde mithilfe der Karl-Gerold-Stiftung finanziert. | |
| 26 Nov 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabina Zollner | |
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