# taz.de -- Kontroverse um die Documenta15: Anklagepunkt „BDS-Nähe“ | |
> Die „FAZ“ und Springer unterstellen der Journalistin Dische-Becker eine | |
> Nähe zu Antisemiten. Worin ihre Schuld genau bestehen soll, erklären sie | |
> nicht. | |
Bild: Die journalistin Emily Dische-Becker, 2014 | |
Ich habe so etwas wie in den vergangenen Monaten und Wochen und nun | |
speziell Tagen als Journalist, Kollege, Bürger noch nicht erlebt an | |
Hetzjagd, Verdachtsjournalismus und Pauschalisierungsfeuilleton. Nun gut, | |
ich bin ja auch ein bis zwei Jahrzehnte nach den öffentlichen Tribunalen | |
von Joe McCarthy geboren und nicht in der DDR aufgewachsen. | |
Im Rückblick ist es schwer zu sagen, wann genau diese hysterische | |
[1][Großwetterlage] begonnen hat, die den deutschen Diskurs überwölbt, | |
heftiger als die aktuelle Hitzewelle, wenn es um die Themen Antisemitismus | |
und Postkolonialismus geht. | |
Es war auf jeden Fall vor dem Streit um Achille Mbembe 2020, vor der | |
Diskussion um die diesjährige documenta, vor den Attacken gegen die | |
Journalistin und Filmemacherin Emily Dische-Becker dieser Tage: Diese Art | |
von politisierter Hysterie baut sich langsam auf. Erst existiert sie im | |
Schatten, dann denken rationale Menschen, dass sie von selbst verschwinden | |
wird, und dann auf einmal ist sie überall. | |
Ein vorläufiger Höhepunkt, der bald übertrumpft werden wird, wie die | |
aktuelle Hitzewelle, ist die Kampagne gegen Emily Dische-Becker, die von | |
[2][der FAZ und Springer] zu einer Hisbollah-Sympathisantin gemacht wurde | |
mit unterstellter, aber nicht näher ausgeführter „BDS-Nähe“ – also die | |
Boykottbewegung gegen die gegenwärtige israelische Besatzungspolitik | |
gegenüber den Palästinensern. | |
## Sachliche Fehler und keine direkten Gespräche | |
Überhaupt wurden von der FAZ auf gröbste Art journalistische | |
Mindeststandards missachtet: Mit Dische-Becker selbst wurde nicht | |
gesprochen, die Texte sind voll von sachlichen Fehlern, es wird nicht | |
erwähnt, dass sie Jüdin ist, die, so die Unterstellung, den Antisemitismus | |
vorantreibt. | |
Unter normalen journalistischen Bedingungen hätte man Dische-Becker | |
angerufen, man hätte sich getroffen, man hätte versucht, diese Person zu | |
verstehen, die von 2006 bis 2012 in Beirut gelebt hat und das Land | |
verlassen hat, wie sie sagt, zum Teil, weil sie die Verfolgung durch die | |
Hisbollah fürchtete; speziell ihr Mann sei durch seine Kritik an der | |
islamistisch-schiitischen Partei, die als terroristische Bewegung gilt, in | |
Gefahr. | |
Es wäre eine interessante, komplexe Geschichte geworden – aber in diesem | |
Land will man wohl nur mit Rechten reden, über Linke urteilt man lieber. | |
## Viel Kritik für kaum institutionelle Rolle | |
Dische-Becker wird, unter anderem, für ein Video kritisiert, in dem sie | |
documenta-Guides auf Diskussionen zum Thema Antisemitismus vorbereitet; sie | |
wird kritisiert für die Organisation der Konferenz „Hijacking Memory“, die | |
im Grunde genau das zum Thema hatte, was jetzt geschieht: rechte Propaganda | |
instrumentalisiert den Antisemitismusvorwurf; sie wird kritisiert für ihre | |
Rolle bei der Initiative „GG 5.3 Weltoffenheit“, die sich gegen den von | |
höchsten Gerichten als nicht verfassungskonform eingeschätzten | |
BDS-Beschluss des Bundestags richtet. | |
Sie wird für sehr viel kritisiert, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie | |
keinerlei institutionelle Rolle hat – hier wird jemand ausgesucht, ganz in | |
medialer Troll-Manier, ohne Schutz, verletzlich, um sie stellvertretend | |
fertigzumachen. | |
Gemeint sind andere: Claudia Roth etwa, Staatsministerin für Kultur und | |
Medien, die zum Rücktritt gezwungen werden soll; gemeint ist aber auch, in | |
diesem toxischen Kulturkampf, eine Form von Reflexion über Vergangenheit | |
und Gegenwart kolonialer Praxis, die besonders relevant ist in Zeiten, in | |
denen Reparationen für Ausbeutung des Globalen Südens und für die Folgen | |
des vom Globalen Norden zu verantwortenden Klimawandels diskutiert werden. | |
## BDS ist zu einem Gesinnungstest geworden | |
Es vermischt sich also, wie in der Kommunistenjagd des US-Senators McCarthy | |
in den 1950er Jahren, das Persönliche und das Politische mit dem | |
Geopolitischen. Zerstört werden Leben, zerstört werden Karrieren, zerstört | |
wird aber auch der Diskurs in einer offenen, freien Form – genau von denen, | |
die immer überall Zensur schreien, wenn sich Minderheiten oder einfach | |
Menschen mit anderer Meinung melden, angereichert mit Springer-typischem | |
Doppelstandard: Dische-Becker wird mit einer Serie schlecht recherchierter | |
Texte bedacht, dem ukrainischen Botschafter, Anhänger des Faschisten und | |
Antisemiten Bandera, wird huldvoll zum Abschied gedankt. | |
Ich erinnere mich, dass ich vor ziemlich vielen Jahren eine Recherche für | |
den Spiegel zum Thema BDS gemacht habe, ich sprach damals mit | |
Akademiker*innen, die für oder gegen BDS oder einfach nur politisch waren, | |
und die Grundstimmung war bereits eine der Verunsicherung und Angst. | |
Ich könne ihn nicht zitieren, sagte mir ein junger israelischer jüdischer | |
Philosoph, der in den USA lebte, weil er seine Position und Karriere nicht | |
gefährden wolle. Seither ist BDS zu einer Art Gesinnungstest geworden, es | |
herrscht ein medial fabriziertes Klima der Angst, die drei Buchstaben in | |
Verbindung mit einem Namen sind toxisch, ohne Nachfragen. | |
## Der Eindruck, dass die mediale Welt immer enger wird | |
Das alles ist bedrückend, es fördert den Opportunismus und nimmt mehr und | |
mehr Züge einer Verschwörungstheorie an. Wenn nicht mehr recherchiert wird | |
und nur noch mediale Abziehbilder produziert werden, wenn eine Konferenz | |
mit mehrheitlich progressiven Juden aus Israel und aller Welt zum Nukleus | |
des Antisemitismus hochgeschrieben wird, wenn das alles in Ausschüssen im | |
Bundestag vom Hörensagen zu politischer Realität wird, dann hat hier längst | |
eine gefährliche Eigendynamik eingesetzt, Kurzschlüsse einer sich selbst | |
[3][hysterisierenden Hysterieproduktion.] | |
Ich kenne Emily Dische-Becker, seit wir zusammen für das Online-Medium | |
60pages geschrieben haben, das ich mitgegründet habe. Die Idee war damals, | |
dass es komplexe Texte für eine komplexe Wirklichkeit braucht. Die reale | |
Welt wird immer größer, die mediale Welt wird immer kleiner, enger, das war | |
damals unser Eindruck. | |
Das ist knapp zehn Jahre her. Die Enge ist umfassend geworden. | |
20 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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