# taz.de -- Grünen-Aufruf gegen Cancel Culture: Warnung vor „neuer Unfreihei… | |
> Etwa 30 Grüne wenden sich gegen linke Identitätspolitik und vermeintliche | |
> Cancel Culture. Einer von ihnen ist der Tübinger Bürgermeister Boris | |
> Palmer. | |
Bild: Die Tübinger Grünen wollen ihn 2022 nicht mehr als OB-Kandidat aufstell… | |
BERLIN taz | Bei den Grünen bahnt sich eine Auseinandersetzung um Sprach- | |
und Identitätspolitik an. Etwa 30 Grüne, darunter der Tübinger | |
Bürgermeister Boris Palmer, haben einen Aufruf verfasst, der die | |
„Kunstfreiheit und eine offene Debattenkultur, auch an unseren | |
Universitäten und Hochschulen und in unseren Kultureinrichtungen“ bedroht | |
sieht. | |
Das Papier mit dem Titel „Ohne Angst verschieden sein!“ betont, dass sich | |
die Grünen „immer gegen Rassismus, Diskriminierung und Beleidigung von | |
Minderheiten eingesetzt“ haben. Gefordert wird ein „positiver Umgang mit | |
Differenz, der die Aufarbeitung des Kolonialismus, des Antisemitismus und | |
der Islamophobie miteinschließt.“ | |
Zudem heißt es: „Wir sind für gleiche Rechte für Migrantinnen und | |
Migranten, Schwule, Lesben und Queers“. Das Papier liegt der taz vor. | |
Unterzeichnet haben es auch die langjährige Europaabgeordnete Rebekka Harms | |
und die frühere Bremer Senatorin und Europaabgeordnete Helga Trüpel. | |
Zudem, so die AutorInnen, habe man sich „immer gegen rechte | |
Identitätspolitik eingesetzt“ und sei „den Pegida-Aufmärschen entschieden | |
entgegengetreten.“ Dann kommt ein Aber, das es in sich hat. „Aber genauso | |
wenden wir uns auch gegen linke Identitätspolitik!“ Also Pegida gleich | |
Gendersternchen? | |
## Vorbild Wolfgang Thierse? | |
Weiter heißt es: Auch „eine linke Politik der Selbstüberhöhung kann in neue | |
Unfreiheit umschlagen“. Als Beispiel wird die [1][Debatte darüber | |
angeführt, wer die Lyrik der schwarzen Lyrikerin Gorman übersetzen dürfe]. | |
Wenn Weiße keine Gedichte von Schwarzen mehr übersetzen dürften, „hat das | |
mit einer lebendigen, freiheitlichen Kultur nichts mehr zu tun.“ | |
In der SPD gab es [2][eine ähnliche Diskussion, die Wolfgang Thierse mit | |
einem Beitrag in der FAZ ausgelöst hatte]. Auch Thierse wandte sich gegen | |
übertriebene Geltungsansprüche von Minderheiten und assoziierte diese mit | |
rechten Bewegungen. | |
„Wir wollen keine Cancel Culture, sondern einen offenen Dialog darüber, was | |
gelebte kulturelle Vielfalt bedeutet“ heißt es am Ende des grünen | |
Plädoyers. Und: „Wir wollen keine selbsternannte Avantgarde, die allen | |
vorschreibt, was übersetzt, gemalt oder geschrieben werden darf. Nicht, wer | |
etwas sagt, sondern was gesagt wird, muss der Maßstab in unseren | |
Auseinandersetzungen sein.“ | |
Einer der Initiatoren des Aufrufs ist Rainer Lagemann aus Steinfurt, grünes | |
Parteimitglied seit 40 Jahren. Ein Auslöser für den Aufruf sei die | |
Entschuldigung der grünen Spitzenkandidatin in Berlin Bettina Jarasch | |
gewesen, so Lagemann. Jarasch hatte auf einem Parteitag gesagt, als Kind | |
wäre sie gern „Indianerhäuptling“ geworden. Nach Kritik an dieser für | |
Indigene diskriminierenden Wortwahl entschuldigte sich Jarasch für ihre | |
„unreflektierten Kindheitserinnerungen“. Das gehe, so Lagemann zur taz, „… | |
weit“. Er hätte sich da „mehr Selbstbewusstsein gewünscht.“ | |
Auffällig ist, dass bislang keine einflussreichen aktiven Grünen den Aufruf | |
unterzeichnet haben. Der bekannteste Unterstützer, Boris Palmer, gilt bei | |
den Grünen als Außenseiter. Er hat sich auch mit den mittigen Grüne in | |
Baden-Württemberg überworfen. Die Tübinger Grünen wollen ihn 2022 nicht | |
mehr als OB-Kandidat aufstellen. | |
Allerdings wurde die Debatte in der SPD von einem in Gang gesetzt, der in | |
der aktiven Politik gar keine Rolle mehr spielt. | |
31 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-um-Gedicht-von-Amanda-Gorman/!5758644 | |
[2] /SPD-Debatte-zu-Identitaetspolitik/!5753032 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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