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# taz.de -- Fremdsprachen bald verboten?: Man spricht Deutsch
> Ist der Erwerb einer Fremdsprache kulturelle Aneignung? Ja, meint Kevin
> Kühnert und entfacht den nächsten Streit um Identitätspolitik. Eine
> Satire.
Bild: Als die Welt noch in Ordnung war: Gerhard Polt in „Man spricht deutsh�…
Ja lubię gotować bigos.“ „Ich liebe es, Bigos zu kochen.“ Jeder Pole w�…
sich freuen, wenn er hören würde, dass ein Deutscher den polnischen Eintopf
aus Sauerkraut und Fleisch gerne zubereitet. Doch Kevin Kühnert,
SPD-Kandidat aus Tempelhof-Schöneberg für den Deutschen Bundestag, hat mit
dem Satz, der in dem deutsch-polnischen Schulbuch „Porozumienie“
(Verständigung) steht, seine Probleme. „Bigos ist ein polnisches
Nationalgericht, das sollten wir unseren Nachbarn nicht wegnehmen“, sagt
der ehemalige Juso-Chef dem Portal queer.de. „Wir können es gerne essen,
wenn wir in Warszawa in ein Restaurant gehen, aber vielleicht sollten wir
darauf verzichten, es selbst kochen zu wollen.“ Auf Nachfrage antwortete
Kühnert: „Unsere Nachbarn könnten sich beleidigt fühlen, wenn wir ihr
Nationalgericht nicht richtig kochen. Vielleicht empfinden sie das als eine
Art Germanisierung der polnischen Küche.“
Eine Posse, möchte man glauben, hätte der 31-Jährige in dem Interview nicht
noch die Frage gestellt, ob es überhaupt nötig sei, Fremdsprachen zu
lernen. „Wenn ich eine Sprache lerne, eigne ich mir die Kultur eines Landes
an“, betonte Kühnert. „Nolens volens begebe ich mich in einen fremden
Diskursraum, und die Leute, die ihre Sprache sprechen, sind nicht mehr
unter sich und fühlen sich womöglich bedrängt.“ Vorsorglich warnte Kühnert
davor, dass die Polen den Erwerb ihrer Sprache 82 Jahre nach Kriegsbeginn
als „eine Art linguistische Panzerattacke“ ansehen könnten.
Hat die Kritik der Cultural Appropriation, also der Aneignung einer fremden
Kultur, auch die Berliner Schulpolitik erreicht? Ganz so weit will Kühnert
nicht gehen. „Natürlich ist es wichtig Fremdsprachen zu sprechen, sonst
könnte man sich auf internationaler Ebene nicht mehr verständigen“, sagt
er. „Aber man muss versuchen, dies so diskriminierungsfrei wie möglich zu
machen.“
Kühnert schlägt deshalb vor, dass Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD)
eine Kommission einsetzt, die neue Standards für den diskriminierungsfreien
Spracherwerb formuliert. „Vielleicht sollten wir in Schulbüchern besser
darauf verzichten, Rezepte vorzustellen oder die jeweilige Literatur des
Landes.“ Auf keinen Fall, so Kühnert, „dürfen sich Pol*innen verletzt
fühlen, wenn wir mit ihnen in ihrer Sprache reden.“
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Vonseiten der polnischen
Botschaft hieß es, man begrüße es, wenn die „nihilistische Linke“ endlich
beginne, nationale Werte zu würdigen. Allerdings lasse man sich von
deutschen Politikern nicht verbieten, Deutsch oder Englisch zu lernen. „Als
Wirtschaftsnation wollen wir zu den Top 5 in Europa aufschließen“, betonte
Botschafter Andrzej Przyłębski. „Dazu gehört auch die Lingua Franca
Englisch.“ Przyłębski selbst spricht neben Englisch auch fließend Deutsch,
er hat es beim Studium in Heidelberg und seiner Beschäftigung mit Heidegger
kennengelernt. Eine Anfrage der taz bei Kühnert, ob das auch ein Fall von
Cultural Appropriation sei, ließ dieser unbeantwortet.
Während Kühnert in den sozialen Medien gefeiert wurde, sah sich die
Berliner SPD bislang nicht zu einer Stellungnahme in der Lage. Man müsse
erst die Sitzung des Landesvorstandes abwarten, sagte eine Sprecherin des
Landesverbandes. Allerdings kommentiere man in der Regel nicht die Aussagen
eines einzelnen Mitglieds. Zustimmung kam unterdessen von der AfD. „Jede
Kultur und jede Sprache ist ein Unikum“, sagte die frisch gewählte
Landesvorsitzende Kristin Brinker. „Durch Sprachvermischung droht diese
Einzigartigkeit nivelliert zu werden und verloren zu gehen.“
Justizsenator Dirk Behrendt begrüßte Kühnerts Vorstoß. Der Grünenpolitiker
brachte dabei ein mögliches Konzept von Mehrheits- und Minderheitensprachen
ins Spiel. „Wer einer Sprecher*innengruppe angehört, die kleiner ist
als eine andere Sprecher*innengruppe, darf deren Sprache in der Regel
lernen.“ Als Beispiel führt Behrendt an, dass er als Deutscher das Recht
habe, Englisch zu lernen, weil es als Weltsprache von nationalen und
kulturellen Kontexten weitgehend abgekoppelt sei. „Wenn ich aber Polnisch
lernen würde“, pflichtete er Kühnert bei, „eigne ich mir eine
Minderheitensprache an, und da muss ich sehr sensibel sein.“
Behrendt schlägt für solche Fälle ein sogenanntes
„Mutter*sprachler*innenzertifikat“ vor. „Wenn sich eine Person in einer
Diskussion in ihrer Sprache mit Sprecher*innen, die keine
Mutter*sprachler*innen sind, nicht wohlfühlt, können sie auf dem Vorzeigen
des Mutter*sprachler*innenzertifikats bestehen. Das soll ihnen
garantieren, dass sie sich in einem geschützten Raum befinden.“
Allerdings hat die Bildungssenatorin eine Kommission für
diskriminierungsfreien Spracherwerb abgelehnt. „In einer multikulturellen
Stadt wie Berlin ist die Fremdsprachenkompetenz unerlässlich“, findet
Scheeres. Sie verweist zudem auf die 35 Prozent der Berlinerinnen und
Berliner mit Migrationshintergrund. „Was ist mit den Bilingualen?“, fragt
sie. „Soll ich die etwa zwingen, sich für eine Sprache zu entscheiden,
damit sie wenigstens eines dieser Muttersprachlerzertifikate erhalten?“
Zur Seite sprang Scheeres auch Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
(SPD). „Ich bin Kevin Kühnert dankbar für seine Forderung“, sagte Thierse
der taz, „denn sie zeigt, dass der Wahnsinn der Identitätspolitik nicht bei
Forderungen haltmacht, dass weiße Übersetzerinnen keine schwarzen
Autorinnen übersetzen dürfen.“
Der Club der polnischen Versager kommentierte den Streit gewohnt humorvoll.
„Wenn ein junger weißer Mann wie Herr Kühnert kein Sauerkraut mag, soll er
es sagen“, twitterte Club-Legende Adam Gusowski. „Ich habe jedenfalls
nichts gegen die Germanisierung der polnischen Küche. Hätte ich als Kind
nicht so viel Bigos essen müssen, hätte es in unserer Wohnung weniger
gestunken.“ Und noch einen Ratschlag hat Gusowski für Kühnert. „Bei der
Panzerattacke der Deutschen vor 82 Jahren haben die Polen schnell gelernt,
was ‚Hände hoch‘ bedeutet. Besiegt haben sie die Deutschen mit dieser
sprachlichen Aneignung nicht.“
1 Apr 2021
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Identitätspolitik
Kulturelle Aneignung
Kevin Kühnert
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
FDP
Kolumne Nachsitzen
cancel culture
Schwerpunkt Rassismus
Antiimperialismus
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