| # taz.de -- Literatur und Identität: Schreiben braucht Solidarität | |
| > Nicht nur die Debatte um die Übersetzung von Amanda Gormans Lyrik verirrt | |
| > sich in der Falle des Essenzialismus. Kulturelle Identitäten sind | |
| > komplex. | |
| Bild: Der Fall Gorman zeigt: Eine grundlegende Debatte über Ungerechtigkeit im… | |
| Seit einigen Wochen ist das Thema Lyrikübersetzungen in den Fokus der | |
| öffentlichen Debatte gerückt – Prominenz für eine Branche, die in der Regel | |
| kaum wahrgenommen wird. Anlass ist die Übersetzung des Gedichts „The Hill | |
| We Climb“ der Schwarzen Lyrikerin Amanda Gorman, [1][vorgetragen bei der | |
| Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden]. Gormans Werk sollte unter | |
| anderem auch ins Niederländische übersetzt werden, von der Dichterin | |
| Marieke Lucas Rijnevald. | |
| Anfang März gab Rijnevald den schon erhaltenen Übersetzungsauftrag zurück, | |
| nachdem die Journalistin Janice Deul in der Tageszeitung De Volkskrant die | |
| Frage aufwarf, weshalb der Verlag keine Übersetzerin beauftragt habe, die | |
| [2][wie Gorman „eine Künstlerin des gesprochenen Worts, jung, weiblich und | |
| selbstbewusst Schwarz“] sei. Einige Tage später wurde dem katalanischen | |
| Schriftsteller Victor Obiols, der die Übersetzung bereits angefertigt | |
| hatte, der Auftrag nachträglich entzogen. Die Begründung: Er habe nicht das | |
| richtige Profil. | |
| Sofort kamen zahlreiche Fragen auf: Müssen Übersetzer:innen immer aus | |
| der Gruppe der Originalverfasser:innen sein? Und wenn ja, welche | |
| Kategorien sind relevant? Können nur Schwarze die Texte von Schwarzen | |
| übersetzen? Nur Frauen die Texte von Frauen? Und wie ist es mit einem Text | |
| von einer Schwarzen Frau: ist ein Schwarzer Mann oder eine weiße Frau | |
| besser geeignet? Und vor allem: Wer entscheidet das? | |
| Es lohnt sich, diese Debatte im Kontext einer breiteren Diskussion über | |
| literarische Aneignung zu betrachten. Verfechter:innen des Konzepts | |
| sehen kulturelle, ethnische, soziale oder sexuelle Zuschreibungen der | |
| Literaturschaffenden als Voraussetzung, um bestimmte Themen behandeln zu | |
| dürfen, und fordern, dass idealerweise nur die betroffenen Minderheiten | |
| selbst über ihre eigene Schicksale schreiben sollten oder sie übersetzen | |
| dürfen. Noch vor der Debatte um Gormans Gedicht sind Vorwürfe zur | |
| literarischen Aneignung gegen weiße Autor:innen geäußert worden, deren | |
| künstlerische Werke die Geschichten von nichtweißen Protagonist:innen | |
| behandeln. | |
| ## Literarisches Schreiben kann Solidarität sein | |
| So entfachte vergangenes Jahr in den USA der Bestseller-Roman “American | |
| Dirt“ [3][einen literarischen Streit], der vor einem Millionenpublikum | |
| verhandelt wurde. In dem Roman erzählt die Schriftstellerin Jeanine Cummins | |
| die Geschichte einer geflüchteten Familie aus Mexiko. Die Starmoderatorin | |
| Oprah Winfrey lobte das Buch in ihrem prominenten „Book Club“ und erklärte, | |
| dass nach der Lektüre wohl jede:r nachvollziehen könne, was es heiße, | |
| Migrant:in auf dem Weg in die Freiheit zu sein. | |
| Scharfe Kritik kam hingegen von Aktivist:innen aus der Commmunity von | |
| Latinos und Hispanics, die Cummins – selbst Enkelin einer puertoricanischen | |
| Großmutter – vorwarfen, Profit aus dem Leid der Geflüchteten an der | |
| mexikanischen Grenze zu ziehen. Nach heftiger Kritik sagte der Verlag die | |
| geplante Lesetour ab, und Winfrey nahm ihre anfängliche Begeisterung für | |
| den Roman per Instagram zurück. | |
| Wie kann es sein, dass eine für Minderheitenrechte eintretende | |
| Schriftstellerin als Feindin einer Community dargestellt wird, mit der sie | |
| eigentlich solidarisch sein wollte? Hier geht verloren, was literarisches | |
| Schreiben alles bedeuten und befördern kann: Solidarität und Empathie. | |
| Solidarität kann sich auch in literarischer Form ausdrücken. Gerade | |
| angesichts der Hochkonjunktur nationalistisch-chauvinistischer Ideen | |
| brauchen wir auch diese Art von Solidarität: die Erzählung von fiktiven | |
| Geschichten, die Lebensrealitäten von unterdrückten und verfolgten Menschen | |
| vorstellbar machen und Leser:innen für globale Ungleichheit | |
| sensibilisieren. | |
| Wer darauf besteht, dass nur Betroffene über bestimmte Lebenswelten und | |
| Realitäten schreiben dürfen, blendet das Potenzial der Empathie durch | |
| Literatur aus: die Fähigkeit, nicht nur von Literaturschaffenden, sondern | |
| von Menschen überhaupt, sich in andere Geschichten, Lebenswelten und | |
| Epochen einfühlen zu können. In der literarischen Fiktion sollte nicht im | |
| Vordergrund stehen, wer das Werk geschrieben hat, sondern, wie über | |
| verfolgte und diskriminierte Menschen geschrieben wird. Werden Stereotype | |
| und Vorurteile bedient? Wie sensibel werden die Erfahrungen der | |
| Marginalisierung beschrieben? Natürlich: Diese Fragen lassen sich oft nicht | |
| trennen. Doch spätestens seit dem 1967 von Roland Barthes verkündeten „Tod | |
| des Autors“ ist die Literaturkritik eigentlich bemüht, die Persönlichkeit | |
| des Autors hier nicht zum alleinigen Maßstab zu machen. | |
| ## Wenn ein Gemälde als anmaßend empfunden wird | |
| Empathie war auch ein Schlagwort [4][in der Debatte um das Gemälde “Open | |
| Casket“] der amerikanischen Künstlerin Dana Schutz. Schutz nutzte das Foto | |
| des Schwarzen Jugendlichen Emmett Till, der 1955 im Alter von 14 Jahren von | |
| zwei weißen Männern misshandelt und ermordet worden war, als Vorlage für | |
| eines ihrer Gemälde. Die Schwarze Künstlerin Hannah Black forderte die | |
| Zerstörung des Bildes, da das Bild die Gefühle von | |
| Afroamerikaner:innen verletze. Die geforderte Zerstörung wurde damit | |
| gerechtfertigt, dass die Künstlerin als weiße Amerikanerin kein Recht habe, | |
| sich an dem Leiden der Schwarzen Bevölkerung zu bereichern. | |
| Es war jedoch ein Anliegen der Mutter von Till, dass die Fotografien des | |
| entstellten Gesichts ihres Sohnes im offenen Sarg die breite Öffentlichkeit | |
| erreichen, um die Brutalität gegen die Schwarze Bevölkerung sichtbar zu | |
| machen. Der Künstlerin war bewusst, dass sie als weiße Person nicht | |
| nachempfinden könne, welche Auswirkungen rassistische Gewalt haben kann. | |
| Kunst sehe sie allerdings als eine Möglichkeit, Empathie auszudrücken und | |
| sich miteinander – trotz bestehender Ungleichheiten – zu verbinden. | |
| Selbstverständlich lässt sich auch Kunstschaffenden die Reproduktion von | |
| Rassismus oder Sexismus vorwerfen. Die Grundlage dafür sollte allerdings | |
| eine fundierte Analyse sein und nicht die Fortschreibung von | |
| Identitätsmerkmalen als Wesensmerkmale einer Person. Oft berufen sich | |
| Vertreter:innen dieser essenzialistischen Argumentation auf das Konzept | |
| der kollektiven Identität, die dabei auf gefährliche Weise vereinfacht | |
| wird. | |
| Es ist gerade die Errungenschaft postkolonialer Theoretiker:innen wie | |
| [5][Homi K. Bhabha] und [6][Stuart Hall], Identität nicht als Essenz, | |
| sondern als hybride und dynamische Konstruktion zu begreifen. Bhabha setzte | |
| der Vorstellung von statischen Kulturen das Konzept der Hybridität | |
| entgegen. Kultur lebe davon, so Bhabha, dass sie dynamisch sei und | |
| fragmentarisch, an verschiedenen Orten gleichzeitig und widerspruchsvoll | |
| existiere. Die Begegnung von unterschiedlichen Lebenswelten und Milieus | |
| führt dazu, dass etwas Neues „zwischen“ den Kulturen erwächst. Für Bhabha | |
| entstehen in diesem neuen Raum „hybride Identitäten“. | |
| ## Identität ist ein ständiger Prozess | |
| Stuart Hall wiederum warnte vor einem essenzialistischen Verständnis von | |
| Identität. Auch in seiner Theorie ist kulturelle Identität nicht statisch, | |
| gegeben oder absolut, sondern ein ständiger und immer unabgeschlossener | |
| Prozess. Die gemeinsame Vergangenheit schafft einen imaginären | |
| Zusammenhalt, quasi eine Schicksalsgemeinschaft, die wiederum nicht | |
| bedeutet, dass die unterschiedlichen Lebensrealitäten und Interessen in der | |
| Gegenwart keine Rolle mehr spielen. Kollektive Identität ist also nicht | |
| allein die gemeinsame ursprüngliche Erfahrung, sondern schließt auch alle | |
| folgenden Erfahrungen ein – und damit auch ihre empathische Übertragung in | |
| Milieus, die von ihnen bisher nicht berührt wurden. | |
| Damit ist natürlich nicht gesagt, dass alle solchen Übersetzungen | |
| automatisch von Empathie getragen sind – oder gelungen sein müssen. Im | |
| Gegenteil. Hier sollte die Literaturkritik selbstverständlich hohe Maßstäbe | |
| anlegen. Und sicher bleiben auch wohlmeinenden weißen Übersetzer:innen | |
| Schwarzer Literatur wichtige Nuancen verborgen. | |
| Die aktuelle Auseinandersetzung um die Übersetzung von Amanda Gorman sollte | |
| vor allem zum Anlass werden, eine grundlegende Debatte über | |
| [7][Ungerechtigkeit im Literaturmarkt] zu führen. Wie werden Ressourcen | |
| verteilt, wer sind die Gewinner:innen und Verlierer:innen in der | |
| Branche: Autor:innen, Übersetzer:innen, Verleger:innen, Vertriebsfirmen | |
| etc.? Denn natürlich sind die Gatekeeper der literarischen Welt, gerade im | |
| deutschsprachigen Raum, in der Hauptsache weiß. | |
| Würden in diesen Strukturen grundsätzlich mehr Schwarze Menschen und | |
| Menschen of Color gefördert, gäbe es die Debatte in dieser Form nicht. Die | |
| Frage nach der Identität ist die verschobene Frage nach der Struktur. | |
| Nichtweiße Übersetzer:innen sollten grundsätzlich mehr Aufträge | |
| erhalten, und nicht nur dann zu Rate gezogen werden, wenn es um ihre | |
| Diskriminierungserfahrungen geht. Sonst bleiben sie für immer auf „ihre“ | |
| Themen festgelegt – während weiße Autor:innen und Übersetzer:innen | |
| grundsätzlich alles dürfen. | |
| ## Das Problem ist die spätkapitalistische Kulturindustrie | |
| Das Konzept der literarischen bzw. kulturellen Aneignung wiederum reduziert | |
| Autor:innen auf eine (scheinbar) wesentliche Identitätskategorie – als | |
| Frau, als Schwarz, als Muslim – während andere Kategorien – das soziale | |
| Milieu, der Bildungsgrad oder die finanzielle Situation – ausgeblendet | |
| werden. Problematisch ist hierbei, wenn die Festlegung des entscheidenden | |
| Merkmals eine Fremdzuschreibung ist. | |
| Niemand außer die Autor:innen selbst können entscheiden, welche | |
| Identitätskategorien für das literarische Werk relevant sind. Nur die | |
| Autor:innen selbst können entscheiden, worüber sie schreiben – und wer | |
| geeignet ist, ihre Texte zu übersetzen. Alles andere ist Bevormundung. | |
| Statt sich immer wieder neu an einzelnen Autor:innen abzuarbeiten, egal | |
| welcher Hautfarbe oder Herkunft, muss sich also Kritik immer auch gegen die | |
| Struktur der spätkapitalistischen Kulturindustrie richten. Ein hoher | |
| Anspruch, vor allem, wenn personalisierende Kritik so viel naheliegender | |
| und aufregender ist. Aber geht es in der Kunst nicht gerade darum – um hohe | |
| Ansprüche? | |
| 28 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=Wz4YuEvJ3y4 | |
| [2] /Inaugural-Poem-von-Amanda-Gorman/!5744435 | |
| [3] /Kontroverse-um-kulturelle-Aneignung/!5679941 | |
| [4] /Whitney-Biennale-in-New-York/!5394709 | |
| [5] /Migrationsliteratur/!5168917 | |
| [6] /Debatte-um-Zeugnisse-des-Kolonialismus/!5695337 | |
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