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# taz.de -- Identitätspolitik in linken Szenen: Das Normale ist politisch
> Identitätspolitik ist vielen zuwider, weil sie sich nicht betroffen
> fühlen und als „normal“ sehen. Über das Verhältnis linker Milieus zu
> Normalität.
Bild: Bunte Kleidung war in K-Gruppen tabu, sie wollten Normalo-Look: Demo gege…
Ein breitbeiniger Satz: „Ich bin mittlerweile zum Symbol geworden für viele
normale Menschen, die ihre Lebensrealität nicht mehr gespiegelt sehen in
der SPD, die unsicher sind, was sie noch sagen dürfen und wie sie es sagen
dürfen.“
Autor dieser Worte ist [1][Wolfgang Thierse, 77, ehemaliger Präsident des
Deutschen Bundestages] und Sprecher des Arbeitskreises Christen in der SPD.
„Wissen Sie eigentlich, dass normale Leute mir danken für meinen Mut?“,
fragt er im Zeit-Magazin und beglückwünscht sich selbst für seinen Feldzug
gegen eine der größten Geißeln der Menschheit: das *.
„Große Teile der Arbeiterschaft haben wir schon verloren“, warnt Thierse.
„Wollen wir jetzt auch noch alle die ausschließen und verlieren, die das
Gendersternchen nicht mitsprechen wollen und können?“ Thierse, einst
Kämpfer gegen die DDR-Diktatur, hat erkannt, wer heute unsere Freiheit
bedroht: Sprachpolizisten und Tugendterroristen mit ihrem Gender-Newspeak.
„Jeder soll so reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist“, befand
dagegen, nein, nicht Thierse, sondern Kretschmann, Winfried, 72, im Sommer
im Spiegel.
Polemiken gegen Minderheitenromantik und identitätspolitischen
Regulierungswahn markieren den Höhepunkt einer neuen Rhetorik des Normalen.
Die „Normalität“ erlebt eine Renaissance, nicht nur bei Old-school-Sozis.
Das Normale ist immer statisch gedacht und wird beschworen, um
Veränderungen zu verhindern – und um das Unnormale, das Andere zu
markieren, auch „Othering“ genannt.
„Die AfD macht die Unsichtbaren sichtbar“, erklärte im Dezember der
Soziologe Klaus Dörre dem Tagesspiegel. Die Partei gebe den Arbeitern das
Gefühl, eine Stimme zu haben, „der Maßstab für Normalität zu sein“.
## Vom Sponti zum Normalo
Diese neue Normalitäts-Erzählung vernimmt man schon eine ganze Weile. Als
eine Pionierin kann Cora Stephan gelten. Bereits im Jahr 2017 beugt sich
die in der Frankfurter Spontiszene großgewordene Autorin runter und lauscht
den Stimmen der Normalen. In der Neuen Zürcher Zeitung [2][weiß Stephan
damals die normative Kraft] des Faktischen auf ihrer Seite. „So sieht sie
halt aus, die Wirklichkeit, egal, ob das den kulturellen Eliten passt oder
nicht“, schrieb Stephan.
„Der Normalo will seine Ruhe und möchte im Übrigen nicht dauernd beleidigt
werden. Er macht seine Arbeit, zahlt Steuern, pflegt Hobbys und ein wenig
Gemeinschaftssinn. Er muss sich nicht jeden Tag neu erfinden und will sich
auch nicht ständig über alles den Kopf zerbrechen. Die tägliche Revolution?
Nein danke. Das Private ist politisch? Bitte nicht.“
Die NZZ, auf der Suche nach neuen Zielgruppen, nutzt den angeblich
unpolitischen Normalo für ihre Zwecke – und hofft so auf Leser vom Typus
Hans-Georg Maaßen. [3][Der ehemalige Präsident des Bundesamts] für
Verfassungsschutz lobte das ehedem liberale Blatt mal als Korrektiv zur
linksgrün gleichgeschalteten BRD: „Für mich ist die NZZ so etwas wie
Westfernsehen.“
Den Normalo als Verteidiger des Status quo gegen unliebsame Neuerungen
aufzurufen, das ist aber keine Spezialität von Christen in der SPD, rechten
Schweizer Zeitungen oder Schwarzgrünen in Baden-Württemberg. Auch von
traditionsverbundenen Linken wird er reaktiviert.
Der Normalo, das ist eigentlich überflüssig zu erwähnen, tritt stets als
Mann auf, eine Normala ist nicht normal. Das kennen wir seit Otto
Normalverbraucher und Erika Mustermann.
Oder schon mal gehört von Mehmet Normalverbraucher? Fatma Musterfrau? Auch
die taz greift zum N-Wort: „Mit einer Biografie als schwuler, urbaner
Migrant lässt sich auf den Aufmerksamkeitsmärkten mehr Kapital generieren
als mit einem Dasein als Normalo in Eisenhüttenstadt.“ [4][Schrieb in
dieser Zeitung Stefan Reinecke], mit dem mich, so viel
Sprechpositionstransparenz muss sein, eine längere Geschichte verbindet.
## Normal ist spießig
Er schreibt seit den 80ern für die taz, war in den 90ern mein Redakteur
beim Freitag und ist vier Jahre jünger als ich. Gut möglich, dass ein
schwuler, urbaner Migrant auf den Aufmerksamkeitsmärkten mehr Kapital
generieren kann – aber auch möglich, dass ein schwuler, urbaner Migrant um
seine Unversehrtheit fürchten muss, wenn er in Eisenhüttenstadt unter
Normalos gerät. Ganz zu schweigen von queeren Menschen, Nonbinary- oder
Transgender Personen – und wie die alle heißen in der nervigen
Nicht-Normalo-Abkürzungskette: LGBTQxyz…
Historisch betrachtet ist die Renaissance des Normalen ein verblüffendes
Phänomen. In der 68er-Linken galt der Normalo als uncool: autoritärer
Charakter, angepasst, bieder, spießig. Das änderte sich mit dem Boom der
zahlreichen maoistischen Parteien, die aus den Spaltungsprozessen der
Revolte hervorgingen.
Die Männer aus den K-Gruppen (Frauen gab es da kaum) traten betont normal
auf, um ihr revolutionäres Subjekt (Objekt wäre präziser) nicht zu
verschrecken – die Arbeiterklasse. Lange Haare, bunte Klamotten, Rockmusik,
Drogen, damit wollte die deutsche Working Class nichts zu tun haben. Mit
ostentativ zur Schau gestellter Normalität glaubten die Politniks von KPD,
KPD-ML & KBW das Proletariat für die Revolution gewinnen zu können.
Beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands absolvierte auch Winfried
Kretschmann ein paar Jahre lang Schulungen in Normalismus, von denen er bis
heute profitiert. Nicht zuletzt einer grundnormalen Ausstrahlung verdankt
der Ex-Maoist seine Popularität. Den Wahlkampf gewannen die Grünen mit
einem Plakat, das nur Kretschmann zeigt, dazu drei Worte: „Sie kennen
mich.“ Die Cleverle-Variante der Erkenntnis, nach der der Bauer nichts
frisst, was er nicht kennt.
Im Abwehrkampf [5][gegen die pauschal so genannte „Identitätspolitik“] mit
ihrer Pauschal-„Cancel Culture“ berufen sich Kretschmann, Thierse und Co
auf die Normalos, ganz so wie einst paternalistische Linke auf „die kleinen
Leute“ oder „den Arbeiter“. Der Normalo fungiert in diesem Manöver – d…
natürlich selbst ein zutiefst identitätspolitisches ist, aber eben eines
von oben – als Stellvertreter einer tradierten Übersichtlichkeit, einer
Ordnung ohne Gender- oder Migrations-Trouble.
## „Modisch“ ist wieder da
Komplementär zum Neuen Normal feiert derzeit ein anderes Adjektiv ein
Comeback, das länger aus der Mode war: „modisch“. Beim guten alten
Kulturmagazin Perlentaucher vergeht kein Tag ohne das Lamento über „die
modische antirassistische Linke …“, „die modische Linke mit ihrem Kult der
allerkleinsten Differenz“, „die modische Identitätslinke“ oder die
„modischen akademischen Linken und ihre identitären Ideen“. Der
Begriffscontainer „modisch“ suggeriert: verführbar, manipulierbar,
oberflächlich, ich-schwach. Wie das Adjektiv „normal“ hat auch „modisch�…
eine wechselhafte Karriere hinter sich.
In den 60ern und 70ern gehörte es zur Grundausstattung einer schlichten,
moralisierenden Kapitalismus- und Konsum-Kritik, wie sie unter K-Gruppen
verbreitet war. Pop und Fashion galten als Teufelszeug, das bloß dem
großen, systemstabilisierenden Verblendungszusammenhang diene. Jahrzehnte
später recyclen ältere (Ex-)Linke „(neu)modisch“ als Abwertung gegen das
lästige „Gedöns“ (Gerhard Schröder) der sogenannten Identitätslinken.
Das Beschwören einer fiktiven Normalität und die pauschalisierende
Denunziation neuerer, komplizierter Diskurse mit dem Popanz-Wort
„Identitätspolitik“ hat in diesen alt- und exlinken Milieus offenbar eine …
Achtung! – identitätsstiftende Funktion. Sie verhindert eine kritische
Auseinandersetzung mit den vielen Facetten, Irrungen und Wirrungen der –
nennen wir es mal pauschal: Antidiskriminerungspolitiken. Gerne auch „Woke
Politics“.
Aus vielen Wortmeldungen dieser [6][doch noch erstaunlich ungecancelten
Speaker] (Thea Dorn, Svenja Flaßpöhler, Gesine Schwan und Co dürfen sich
mitgemeint fühlen) spricht der notdürftig als Gedanke getarnte Wunsch,
diese Mode möge rasch vorüberziehen. Und wir könnten zurückkehren zur –
Normalität.
1 Apr 2021
## LINKS
[1] /Debatte-um-Minderheiten/!5752570
[2] https://www.nzz.ch/feuilleton/gesellschaft-und-konventionen-ein-lob-auf-den…
[3] /Ehemaliger-Chef-des-Verfassungsschutzes/!5746249
[4] /Die-taz-die-Polizei-und-der-Muell/!5696446
[5] /Identitaetspolitik-und-Kritik/!5752621
[6] /Identitaetspolitik-und-Cancel-Culture/!5756669
## AUTOREN
Klaus Walter
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