# taz.de -- Debatte um Normalität: Das Normale ist flüssig geworden | |
> Das Wort „normal“ meint heute keinen Apparat der strengen Disziplinierung | |
> mehr – sondern eine Suche nach gesellschaftlichem Minimalkonsens. | |
Bild: In die rigide Normalität der 60er wünschen sich Rechte zurück. Die Meh… | |
Paul Bresser war in der Bundesrepublik ein einflussreicher | |
Gerichtspsychiater und Experte für die Grenze zwischen dem Normalen und | |
dem Krankhaften. „Die biologische Norm, die mit den Geschlechtsvorgängen | |
das Ziel der Zeugung verbindet, bleibt Richtmaß für das, was als natürlich | |
oder normal zu betrachten ist“, schrieb er 1965. Schwule und Lesben galten | |
als anormal. Bresser, der als Fachmann in Prozessen gegen [1][Beate | |
Klarsfeld] und RAF-Mitglieder auftrat, schrieb 1979, dass eigentlich alles, | |
was Laien als unnormal empfinden, zu den „persönlichkeitseigenen | |
Abnormitäten zu rechnen ist“. | |
Was normal war, galt daher als unverrückbar. Es wurde bestimmt vom | |
Empfinden des Durchschnittsbürgers, das nah am gesunden Volksempfinden | |
siedelte, oder von der Biologie. Die stählerne Normalitätsdefinition diente | |
der Disziplinierung. Wer aus der Reihe tanzte, bekam Ärger. | |
Dieses Korsett passte zu den alten Industriegesellschaften. In den Fabriken | |
wurden die Körper normiert. Ehe und Kinder (zwei, wie die Nachbarn auch) | |
galten als soziale Norm, Pauschalurlaub und Reihenhaus waren | |
Glücksvorstellungen von der Stange. | |
Für die 68er und Linksalternativen stand diese Normalität unter Verdacht. | |
Die graue Harmlosigkeit bundesdeutscher Vorstädte schien vielen die Fassade | |
zu sein, hinter der die faschistische Bestie verborgen war. Es gab ja | |
geistige Linien, die Figuren wie Bresser mit den Nazis verbanden. Und die | |
hatten schließlich alles, was sie für nicht normal hielten, aussortiert und | |
vernichtet. | |
## Flüssig, flüchtig, fluide | |
Doch der Aggregatzustand des Normalen hat sich gründlich verändert. Das | |
Normale ist nicht mehr fest wie in den 60er Jahren, es ist flüssig | |
geworden, nicht mehr schwer, sondern flüchtig. Die 68er und ihre | |
NachfolgerInnen haben das Spiel kulturell gewonnen. Die früher scharf | |
bewachte Grenze zwischen Verbotenem und Erlaubtem, dem, was man tut und was | |
man unterlässt, ist ausgefranst. | |
Die Ehe als Norm? 42 Prozent der Deutschen leben in Singlehaushalten. Die | |
[2][„Ehe für alle“] wirkt als Verwandlung in beide Richtungen. Die schwulen | |
und lesbischen Subkulturen verlieren etwas von ihrem dissidenten Geheimnis, | |
die Ehe hört auf, Vorposten kampfbereiter Normalität zu sein. | |
Die westlichen Gesellschaften, so der Diskursforscher Jürgen Link, befindet | |
sich spätestens seit 1968 im Stadium eines „flexiblen Normalismus“, in dem | |
immer mehr in das Spektrum des Normalen eingemeindet wurde. Was früher als | |
abseitig ausgegrenzt wurde, ist mittlerweile gewöhnlich. | |
Auch die Zeiten, als Normalität verlässlich beruhigende Zugehörigkeit zur | |
Mitte signalisierte, sind vorbei. „Normal“ klingt schon lange nicht mehr | |
verheißungsvoll. Der Duden führt als Synonyme „alltäglich, | |
durchschnittlich, ordinär, traditionell, üblich“ auf, daneben „vertraut u… | |
bewährt“. Aber auch diese beiden freundlicheren Attribute hellen den | |
Bedeutungshorizont nicht auf. Keine Werbeagentur würde versuchen, eine | |
Seife oder eine Tiefkühlpizza als normal anzupreisen, um sie unter die | |
Leute zu bringen. Das Wort ist nicht zu retten. Es hat, stellte Hans Magnus | |
Enzensberger schon in den 80er Jahren fest, „sozialen Mundgeruch“. | |
Die Vorbehalte der Linksalternativen gegenüber dem Gewöhnlichen fußten nie | |
nur auf dem Verdacht, dass der Faschismus noch darin versteckt wäre. Es | |
ging immer auch um ästhetische Abstandshalter und Gesten der Überlegenheit. | |
Hier der einsame Außenseiter, die krasse Subkultur, der Freigeist, der sich | |
selbst erfindet, und bloß nicht like everybody else sein will. Dort die | |
blöde, trottende Masse. Hier das kreativ selbst zusammengebaute | |
Naturholzregal, dort die braune Schrankwand aus Eichenfurnier. | |
## Aufmerksamkeitsökonomie | |
Der Bohemien, den das Besondere und die Abweichung von der Norm definiert, | |
ist im Kulturkapitalismus zum massentauglichen Ideal geworden. Das bringt | |
ein paar Komplikationen mit sich. Wenn alle Nonkonformisten sein wollen, | |
wird es auch anstrengend. Die Logik der Ausgrenzung aus dem | |
Normalitätsdiskurs ist weitgehend verschwunden (und nur noch am rechten | |
Rand populär). Nun regiert die Logik der Distinktion. In den Kernzonen des | |
Wissenskapitalismus, in Unternehmen und Universitäten, Start-ups und Medien | |
geht es um die kulturellen [3][„feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu)] bei | |
Geschmack und Lifestyle, Outfit und den sexuellen und ethnischen | |
Identitäten. Das Gebot der Kreativmärkte lautet: „Verwirkliche dich selbst. | |
Du darfst fast alles sein, aber nicht wie alle anderen.“ Die | |
Aufmerksamkeitsökonomie promoviert das Besondere, nicht das Normale. | |
In den hippen Selbstverwirklichungsmilieus will man alles sein, aber nicht | |
normal. Normalität ist hier eher eine abschätzige Chiffre für Durchschnitt, | |
ARD-Volksmusiksendungen und Schlimmeres. Die Nase über die Provinz zu | |
rümpfen und sich Eisenhüttenstadt oder Pirmasens nur als Orte des Grauens | |
vorstellen zu können, knüpft direkt an die ästhetische | |
Normalitätsverachtung der 68er an. Die war immer schon zwiespältig. | |
In den Zeiten des Wissenskapitalismus aber wird sie zu einer Geste der | |
Macht und kulturellen Verachtung gegenüber dem sozialen Unten. Denn wie man | |
lebt, was in, was out ist, was man sagen darf, was besser nicht – das gibt | |
die herrschende Klasse im Kulturkapitalismus vor, die in geschmackvollen | |
Altbauten im Hamburger Schanzenviertel oder dem Frankfurter Nordend wohnt. | |
Billiges Rasierwasser und Parfum und Klamotten von Kik findet man dort | |
nicht. | |
Wir haben es mit einer Vervielfältigung von Normalitätsvorstellungen zu | |
tun. Deshalb scheint der Boden manchmal wackelig. Denn Normalität ist ja | |
auch ein Ensemble von Routinen, das es ermöglicht, in einer Welt komplexer | |
Anforderungen halbwegs den Überblick zu behalten. Ohne Normalität wären | |
wir, ob die Clickworkerin in Kaiserslautern oder der Zahnarzt in | |
Baden-Baden, verloren. Sie ist wie ein Puffer, der uns vor den | |
hochfrequenten Anforderungen schützt, dauernd alles anders machen zu | |
müssen. | |
Normalität ist ein Stützrad bei der Alltagsbewältigung und nützlich, um | |
einen gesellschaftlichen Common Sense zu finden. Auf Regeln und | |
Verbindlichkeiten kann sich nur einigen, wer einigermaßen ähnliche | |
Vorstellungen hat, was auf die Tagesordnung gehört. Was ist eigentlich | |
normal, wenn, in weiten Teilen der Gesellschaft, niemand mehr normal sein | |
will? Daher ist [4][Gesine Schwans Frage], ob wir in eine „Gesellschaft von | |
unterschiedlich großen und mächtigen,Communitys' zerfallen, die jede für | |
sich eine ‚kollektive Identität‘ beanspruchen und damit immer schon auf dem | |
Weg der Exklusion anderer sind“, berechtigt. | |
## Dialog statt gewaltsame Rückkehr | |
Die demokratische, wenn auch nicht sonderlich originelle Antwort lautet: | |
Den Verlust an Selbstverständlichkeit kann nur Dialog ausgleichen. Nur die | |
möglichst herrschaftsfreie Kommunikation, in der das bessere Argument | |
zählt, ermöglicht es, einen Konsens zu finden – und zwar gerade dann, wenn | |
Communitys eigenwillige, auseinander strebende Normen entwickeln. | |
Die reaktionäre Antwort lautet hingegen anders: [5][„Deutschland. Aber | |
normal]“. Mit diesem Wahlkampfmotto will die AfD gewaltsam zurück zur | |
alten, rigide Normalität – die Chiffren dafür sind D-Mark, Atomkraft und | |
Normalfamilie. Die Rechtspopulisten schüren die aggressive Sehnsucht nach | |
einer ordentlichen Welt, ohne Genderpolitik und Islam, dafür mit wieder | |
scharf bewachten Grenzen – zwischen Verbotenem und Erlaubten. | |
Aber zu dieser Atemnot erzeugenden standardisierten Normalität des 20. | |
Jahrhunderts führt kein Weg zurück. Normalität ist nichts Statisches mehr, | |
sie ist mobil, fluide, dehnbar. Wir brauchen sie, aber ohne Ausrufezeichen. | |
Wahrscheinlich ist sie nur als Zwiespältigkeit zu haben. | |
Eigentlich sind wir ja alle ziemlich normal. Und wollen genau das nicht | |
sein. | |
Der Text ist eine Antwort auf den Artikel [6][„Das Normale ist politisch“] | |
von Klaus Walter vom 31. März. | |
13 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Portraet-Beate-Klarsfeld/!5099637 | |
[2] /Ehe-fuer-alle/!t5201072 | |
[3] /Pierre-Bourdieus-90-Geburtstag/!5697549 | |
[4] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/gesine-schwan-spd-identitaet-intervi… | |
[5] /AfD-Parteitag-in-Dresden/!5764727 | |
[6] /Identitaetspolitik-in-linken-Szenen/!5758392 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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