# taz.de -- Identitätspolitik und Kritik: Propagandistische Totalverblödung | |
> Der Autor und Dramaturg Bernd Stegemann legt sich mit der Cancel Culture | |
> an und stolpert in seinem neuen Buch über die eigenen Thesen. | |
Bild: Der Theaterdramaturg Bernd Stegemann: linker Kritiker der identitätspoli… | |
Eine Erregungswelle sorgt für Ärger im Feuilleton: [1][die Cancel Culture | |
der Identitätspolitik]. Glaubt man ihren Kritikern, handelt es sich um eine | |
ominöse Macht, die unliebsame Meinungen und Akteure rücksichtslos aus | |
Diskurs, Öffentlichkeit und Karrieren entfernt. Und in der Tat können | |
identitätspolitisch inspirierte Aufgeregtheiten in Rekordgeschwindigkeit | |
sehr prinzipiell eskalieren. | |
Wie das geht, erlebte vor Kurzem der [2][SPD-Veteran Wolfgang Thierse]. | |
Nachdem er die Selbstverständlichkeit geäußert hatte, gerade pluralistische | |
Gesellschaften, in denen minoritäre Gruppen völlig zu Recht Respekt und | |
Anerkennung verlangen, seien auf Common Sense und für alle gültige Regeln | |
angewiesen, ging ein veritabler Shitstorm auf ihn nieder. | |
Typisch ist, dass in solchen Auseinandersetzungen nicht Argumente | |
ausgetauscht oder Handlungen kritisiert, sondern mit Unterstellungen | |
operiert und Gegner umstandslos als Personen unter moralischen | |
Generalverdacht gestellt werden. | |
Im Fall Thierse übernahm das die SPD-Vorsitzende Esken mit einem | |
identitätspolitischen Anbiederungsversuch und der Bemerkung, sie „schäme“ | |
sich für die Äußerungen ihres Parteifreundes: Thierse vertritt nicht nur | |
Ansichten, die Frau Esken nicht teilt, er wird mit Scham und Verachtung | |
versehen. | |
## Die Moralkommunikation | |
Der Theaterdramaturg Bernd Stegemann, einer der linken Kritiker der | |
identitätspolitischen Cancel Culture, hat für diese Mechanismen die Vokabel | |
der „propagandistischen Totalverblödung“. Zu dieser Form der | |
Moralkommunikation kann gehören, dass die eigene Zugehörigkeit zu einer | |
identitätspolitisch diskriminierten Gruppe und die damit verbundene | |
Verwundbarkeit als Beweis der moralischen Überlegenheit dient, die jedes | |
Argument ersetzt: Ich gut, du böse. [3][Die französische Feministin | |
Caroline Fourest bringt] den Mechanismus in einem wütenden Essay auf die | |
Formel „Generation beleidigt“. | |
Das Opferspiel beherrscht allerdings auch die Gegenseite, für die in | |
schwachen Momenten offenbar schon die Frage, ob rassistischer und | |
sexistischer Sprachgebrauch unbedingt nötig ist, das Ende der | |
Meinungsfreiheit markiert. Dabei werden Kräche aus den ungleich härteren | |
US-amerikanischen Kulturkämpfen oder auch deutsche Kulturbetriebsunfälle | |
mit einer gewissen Begeisterung rapportiert: Lauter Beweise für die | |
Übermacht einer Mafia der Politischen Korrektheit. | |
Giovanni di Lorenzo etwa berichtet in der Zeit, die Redakteure der New York | |
Times litten laut der Konkurrenz von der New York Post so unter der Cancel | |
Culture, dass sie Angst hätten, zu schreiben, was sie denken. Er vergisst | |
zu erwähnen, dass die New York Post zu Rupert Murdochs rechtem | |
Boulevard-Imperium gehört und politisch etwa so ausgewogen berichtet wie | |
sein Sender Fox News. Auch Simon Strauß, der Theaterkritiker der FAZ, | |
beklagt, dem Kulturbetrieb fehle es an „Vielfalt der Überzeugungen“. | |
Als Beleg der steilen These verweist Strauß auf den Regisseur Alvis | |
Hermanis, der vor einigen Jahren erlebt haben soll, „dass sich in | |
Deutschland die Bühnenhäuser von ihm abwandten, nachdem er sich kritisch | |
zur westeuropäischen Migrationspolitik geäußert hatte“. In Wirklichkeit war | |
es genau umgekehrt. Weil Hermanis nicht damit einverstanden war, dass sich | |
das Hamburger Thalia Theater mit Geflüchteten solidarisierte, sagte er eine | |
geplante Inszenierung an diesem Haus ab. Wer hat hier wen gecancelt? | |
## Feindbilder konstruieren | |
Die Fehlleistung des FAZ-Redakteurs ist typisch für die Manöver der | |
Feindbildkonstruktion. Das Muster ist verbreitet, vom Bestsellerautor Uwe | |
Tellkamp, der von einem verengten Meinungskorridor fantasiert, bis zu | |
Dieter Nuhr, der zur besten Sendezeit beklagt, dass er kein | |
„Zigeunerschnitzel“ mehr bestellen könne – ohne Frage ein schrecklicher | |
Fall von Meinungsdiktatur und Speisekartenkorridorverengung. | |
Höchste Zeit, dass jemand etwas Klarheit in die verworrene Debatte bringt. | |
Der konfliktfreudige Theatermann Bernd Stegemann, Dramaturg am Berliner | |
Ensemble und Professor an der Hochschule Ernst Busch, versucht das mit | |
seinem neuen Buch – auch wenn das Ergebnis vielleicht eher ein Symptom der | |
gereizten Stimmungen ist und nicht, wie der Autor beansprucht, ein Beitrag | |
zu ihrer Aufklärung. Wie immer bei Stegemanns ausgedehnten | |
Theorie-Streifzügen kann man eine Menge lernen. | |
Zum Beispiel, weshalb die weit verbreiteten Manöver, Identität je nach | |
Bedarf mal als soziale Konstruktion, mal essentialistisch zu definieren, zu | |
heilloser Konfusion mit Erpressungspotenzial führen. In der kühlen Analyse | |
verquerer Argumentationsweisen einer aufgeheizten Identitätspolitik ist | |
Stegemann glasklar. Auch ältere Scharmützel, etwa zwischen den normativen | |
Setzungen Habermas’ und Luhmanns Funktionalismus, macht er gekonnt für die | |
Diagnose heutiger Konfliktlagen fruchtbar. | |
Unter dem unbescheiden auf Popper und Habermas verweisenden Buchtitel „Die | |
Öffentlichkeit und ihre Feinde“ versucht Stegeman nicht weniger als eine | |
Beschreibung des jüngsten Strukturwandels der Öffentlichkeit, samt der | |
Gefährdung ihrer Funktionsfähigkeit. | |
## Selbstbezügliche Identitätspolitiken | |
Für diese von ihm diagnostizierte „Dysfunktionaliät“ macht er in | |
erstaunlicher Einseitigkeit vor allem die Selbstbezüglichkeit von | |
Identitätspolitiken verantwortlich. Damit setzt er seine aus früheren | |
Veröffentlichungen vertrauten Misstrauensbekundungen fort, die er schon als | |
Wegbegleiter von [4][Sahra Wagenknechts gescheiterter | |
„Aufstehen“-Initiative] mit Talent zur Polemik und den für „Aufstehen“ | |
typischen Vergröberungen deutlich gemacht hat. | |
In der Rede von Race und Gender vermutet Stegemann vor allem die Funktion, | |
Klassengegensätze zuzudecken und die eigene Gruppenzugehörigkeit zu feiern. | |
Das ignoriert unter anderem, dass sich sexistische und rassistische | |
Diskriminierung in ökonomischer Benachteiligung fortsetzt. Bei kulturlinken | |
Identitätspolitiken handelt es sich in seinen Augen offenbar um nicht viel | |
mehr als um egoistische Distinktionsspiele ökonomisch Privilegierter. | |
Auch wenn Stegemann immer wieder erfrischend angriffslustige | |
Debattenbeiträge gelingen, wenn er an [5][Nancy Frasers Kritik am | |
„progressiven Neoliberalismus“] anknüpft oder die Lebenslügen eines | |
selbstgerechten, für die eigenen ökonomischen Privilegien blinden | |
Justemilieus auseinandernimmt, kommt einem das Argumentationsmuster oft | |
unangenehm bekannt vor. | |
## Nur ein Ablenkungsmanöver? | |
Es erinnert fatal an K-Gruppen-Dogmatiker der 1970er Jahre, die in den | |
neuen sozialen Bewegungen nur Ablenkungsmanöver vom Klassenkampf erkennen | |
konnten und der Frauenbewegung vorwarfen, sie verrenne sich in einen | |
„Nebenwiderspruch“. | |
„Die Öffentlichkeit“ tritt hier als kompakter Block im Singular auf, als | |
gebe es nur die eine – und nicht unzählige, die sich überlagern oder | |
autistisch gegeneinander abdichten. Auch das führt zu groben | |
Vereinfachungen („Mit dem Auftreten des Coronavirus gab es für die | |
Öffentlichkeit keinen Klimawandel mehr“). Stegemans Begriff von | |
Öffentlichkeit ist emphatisch: der Ort, an dem sich eine Gesellschaft über | |
ihre Konflikte verständigt und politische Entscheidungen kritisiert oder | |
mit Legitimation versieht. | |
Dieser Ort der gesellschaftlichen Selbstverständigung, so Stegemanns | |
Diagnose, gerät unter Stress, wenn sich eine Gesellschaft „vordringlich mit | |
der Frage beschäftigt, welchen Umgang mit verschiedenen identitären | |
Gruppierungen“ sie für angemessen hält. | |
Man muss sich wahrscheinlich hauptberuflich in den etwas abgehobenen, | |
ausgiebig mit sich selbst beschäftigten Segmenten des Kulturbetriebs | |
bewegen, um das für das „vordringliche“ Thema der politischen Debatte zu | |
halten. In den „identitätspolitischen Empörungswellen des 21. Jahrhunderts�… | |
sieht der Cancel-Culture-Kritiker nicht weniger als die Gefahr einer | |
„Selbstzerstörung der Öffentlichkeit“. Soll das bedeuten, dass etwa Black | |
Lives Matter ein Totengräber der offenen Debatte ist? | |
## Blind für die Ursachen | |
In seiner Kritik ist Stegemann blind für die Ursachen der | |
„identitätspolitischen Empörungswellen des 21.Jahrhunderts“, also die | |
Missstände, auf die sie reagieren. Dieser Blindheit korrespondiert der | |
Versuch, Rechtspopulisten und Rassisten als gedemütigte Opfer des | |
Neoliberalismus zu zeichnen. | |
Deren Wut findet Stegemann verständlich, auch wenn sie sie | |
bedauerlicherweise als „Übersprungshandlung“ am falschen Objekt | |
abreagierten. Im nächsten Schritt werden in Stegemanns befremdlicher | |
Perspektive Antirassisten zu Verteidigern des Neoliberalismus. | |
Die in vielen Variationen durchgespielte These, „die Folgen von | |
Identitätspolitik und Populismus bestehen vor allem darin, die Gesellschaft | |
in unversöhnliche Communities zu spalten“, wirkt höchstens auf den ersten | |
Blick einleuchtend. | |
Die im Lauf des Textes häufig verwendete Parallelisierung von Populismus | |
und Identitätspolitik (genauer: die Unterstellung ihrer funktionalen | |
Äquivalenz) wischt die Kleinigkeit beiseite, dass es linker | |
Identitätspolitik um die Beseitigung von Diskriminierung benachteiligter | |
Gruppen geht – und dem rechten Populismus geht es exakt um das Gegenteil. | |
## Gesellschaftliche Spaltung | |
Er zielt auf die Festschreibung der Diskriminierung und die gereizte | |
Verteidigung tradierter Privilegien. Die Behauptung, die | |
identitätspolitischen Bewegungen der Frauen, der Queeren oder von Black | |
Lives Matter bewirkten „vor allem“ die gesellschaftliche Spaltung, ist | |
abenteuerlich. | |
In Wirklichkeit machen sie die realen Spaltungen sichtbar, markieren sie | |
als Problem und tragen zu ihrer Überwindung bei: Ohne Rosa von Praunheim | |
kein offen schwuler CDU-Gesundheitsminister. Nicht Black Lives Matter | |
spaltet die US-Gesellschaft, sondern der Rassismus. Die „Folge von | |
Identitätspolitik“ besteht im Fall der Frauenbewegung nicht in | |
„unversöhnlichen Communities“, sondern in weniger | |
Geschlechterungerechtigkeit. Wer das nur als gesellschaftliche Spaltung | |
wahrnimmt, wünscht sich die auf Unterdrückung basierende falsche Harmonie | |
zurück. | |
Über solche Zuspitzungen und erstaunlichen Ungenauigkeiten stolpert man in | |
diesem Buch häufig. So nennt Stegemann als Beispiel der von ihm | |
diagnostizierten Thematisierungs-Blockaden die [6][fehlende Debatte über | |
eine „Überdehnung der Asylgesetze, die für Arbeitsmigration missbraucht | |
werden“]. Abgesehen davon, dass man sich bei solchen Sätzen kurz fühlt wie | |
bei einer AfD-Kundgebung und dass die Behauptung Unsinn ist (schon weil | |
Geflüchtete lange auf eine Arbeitserlaubnis warten müssen), ist sie auch | |
als Beleg angeblicher Sprechverbote unbrauchbar. Es fehlt der öffentlichen | |
Debatte nicht an Stimmen, die verkünden, viele Geflüchtete hätten keine | |
echten Fluchtgründe und wollten nur am deutschen Wohlstand teilhaben. Sind | |
sie Stegemann etwa noch nicht laut genug? | |
9 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Studie-zu-Cancel-Culture/!5723644 | |
[2] /SPD-Debatte-zu-Identitaetspolitik/!5753032 | |
[3] /Islamismus-Charlie-Hebdo-und-die-Linke/!5723540 | |
[4] /Wagenknechts-Rueckzug-von-Aufstehen/!5582420 | |
[5] /Nancy-Fraser-ueber-Populismus/!5402332 | |
[6] /Identitaere-Linke-und-rechte-Hegemonie/!5516407 | |
## AUTOREN | |
Peter Laudenbach | |
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