Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nancy Fraser über Populismus: „Eine neue, linke Erzählung biete…
> Die Politikwissenschaftlerin und Feministin Nancy Fraser über
> Identitätspolitik, soziale Gerechtigkeit und neue linke
> Anti-Trump-Koalitionen.
Bild: „Der Widerstand gegen Trump ist stark“, so Fraser. Im Bild: Demo annl…
taz: Frau Fraser, was hat die Linke falsch gemacht? Hat sie sich zu sehr
auf Emanzipationspolitik konzentriert und zu wenig auf die soziale Frage,
„zu viel Rosa, zu wenig Rot“, wie es aus Teilen der Linkspartei hieß?
Nancy Fraser: Ja und nein. Das Problem ist nicht der Kampf für Feminismus,
LGBTQ-Rechte und gegen Rassismus, sondern die Trennung dieses Kampfs vom
Kampf für soziale Gerechtigkeit.
Sie nennen das „progressiven Neoliberalismus“ . . .
Genau. In den Vereinigten Staaten verbinden sich seit etwa drei Jahrzehnten
die neoliberalen Kräfte mit den progressiven Kräften und ihr Einstehen für
Emanzipation und Vielfalt. Diese liehen dem Neoliberalismus ihr
progressives Charisma. Für diesen Bund stehen vor allem die Clintons, die
die US-Wirtschaft Goldman Sachs überantworteten und die neoliberale
Globalisierung rücksichtslos beförderten.
Was wurde aus den klassischen sozialen Bewegungen, den Gewerkschaften und
Industriearbeiter*innen?
Die Gewerkschaften wurden mehr oder weniger zerstört, der sogenannte
Rostgürtel wurde sich selbst überlassen: Einst eine Bastion der
Sozialdemokratie, verhilft er heute Trump zu Mehrheiten. Clintons Politik
und die seiner Nachfolger verschlechterte das Leben der Mehrheit, vor allem
aber der Industriearbeiter*innen. Dieser Angriff erfolgte unter der
„geliehenen“ progressiven Fassade.
Das macht aber das Einstehen für Emanzipation und Vielfalt nicht falsch.
Nein, im Gegenteil. Fatal ist aber dessen Bund mit dem Neoliberalismus: In
dieser Zeit herrschte ein Dauerdiskurs über Vielfalt und Empowerment. An
die Stelle einer antihierarchischen, klassenbewussten und egalitären
Auffassung von Emanzipation trat eine linksliberal-individualistische. Eine
„Winner-takes-it-all“-Hierarchie wurde befördert, um einigen „besonders
talentierten“ Frauen oder Lesben und Schwulen ihren Aufstieg zu
ermöglichen. Gleichzeitig muss die Mehrheit ihr Leben im Keller verbringen.
Der „progressive Neoliberalismus“ tat also progressiv, beförderte aber
tatsächlich die Abwertung ganzer Heere von Menschen?
Und das spielte dem reaktionären Populismus Trumps in die Hände. Er
präsentierte eine scheinbare Alternative. Endlich stand jemand auf der
Seite der Abgehängten. Und mit dem Ausscheiden von Sanders blieb nur die
Wahl zwischen dem progressiven Neoliberalismus Clintons und dem
reaktionären Populismus Trumps. Eine unmögliche Wahl.
Gilt das alles auch für Deutschland? Mit Gerhard Schröder wurden ebenfalls
massiv soziale Rechte abgebaut und die Sozialdemokratie entstellt.
In den USA ist das Ganze besonders deutlich. Auch in Frankreich sehen wir
mit der Wahl zwischen Le Pen und Macron eine Wahl zwischen progressivem
Neoliberalismus und reaktionärem Populismus. In Deutschland gilt das wohl
auch, aber abgeschwächt.
Was können wir tun?
Wir müssen eine neue, linke Erzählung bieten. Eine ernsthaft egalitäre
soziale Bewegung sollte sich mit der verlassenen Arbeiterklasse verbünden.
Sie muss erklären, warum beides zusammengehört. Ich selbst engagiere mich
für einen Feminismus der 99 Prozent. Damit stehen wir im erklärten
Gegensatz zu „Glasdeckenfeminismus“: Wir kämpfen sowohl für die (weiblich…
und männlichen) Arbeitenden als auch für Migranten und die, die sich
unbezahlt an Care Work aufreiben. Das kann nur zusammen erkämpft werden,
wie es der progressive Populismus von Bernie Sanders macht.
Ob das Konzept der 99 Prozent so sinnvoll ist? Es sind nicht alle Reichen
böse und alle Armen gut. Zu den 99 Prozent gehören auch Rassisten. Und das
Problem liegt ja nicht nur im Fehlverhalten der Eliten.
Sie haben recht, die Sache mit den 99 Prozent ist nicht das letzte Wort.
Ich bevorzuge selbst die Klassenpolitik. Der Unterschied zwischen dem
progressiven Populismus von Sanders und dem reaktionären Populismus Trumps
ist allerdings, dass Sanders keine Sündenböcke konstruiert. Trump gibt
Mexikanern und Muslimen die Schuld. Er spricht echte Missstände an, folgt
aber einer völlig falschen Analyse. Sanders verbindet den Kampf für soziale
Gerechtigkeit mit dem Kampf für Minderheitenrechte. Das funktioniert
erstaunlich gut. Auch „die Reichen“ stellt er nicht per se als schlecht
dar, sondern er greift strukturelle Ursachen auf und zu Recht diejenigen
an, die die Wirtschaftspolitik zu ihrem Vorteil manipulieren.
Aber wie soll man Leute ins Boot holen, die reaktionären Positionen
anhängen? Das sind nicht Mitstreiter, sondern Gegner.
Vielleicht hilft eine genauere Analyse: Trumps Wähler*innen bestehen aus
etwa drei Blöcken. Die meisten wählen traditionell Republikaner. Die haben
ihn gewählt, aber dabei oft die Nase zugehalten. Dann gibt es die
„Alt-Right“-Leute, Rechtsextreme, die meiner Ansicht nach nur einen kleinen
Teil seiner Wählerschaft ausmachen. Zum dritten Teil gehören unter anderem
ehemalige Gewerkschaftsmitglieder. Bei denen finden wir nicht die eindeutig
rassistischen Ressentiments, auch wenn sie teils dazu neigen. Diese Leute
sind erreichbar.
Wir sollten also reden?
Wir sollten nicht prinzipiell davon ausgehen, dass die alle Rassisten sind.
Damit würde die Linke ihr sicheres Versagen vorantreiben. Die wir erreichen
wollen, erreichen wir nur auf der Grundlage von Respekt. Die Linke muss
zeigen, dass sie ein Narrativ zu bieten hat, das die angesprochenen
Kümmernisse erfasst und ausdrückt.
Sie scheinen zuversichtlich.
Ich bin weder optimistisch noch pessimistisch. Heute ist vieles möglich.
Die Hegemonie ist erschüttert, ein wenig wie in den 60er Jahren. Der
Widerstand gegen Trump ist stark. Das zeigt eine Anekdote: Trump sollte
traditionellerweise beim Eröffnungsspiel der Major Baseball League den
ersten Ball werfen. Ihm wurde aber davon abgeraten, da wahrscheinlich war,
dass er ausgebuht würde.
Es bilden sich gerade beeindruckende linke Koalitionen. Menschen aller
Altersklassen politisieren sich. Mit einem progressiven Populismus, wie ihn
Sanders betreibt, können sie erreicht werden. Zu dieser neuen Linken
gehören aber eben auch Kurskorrekturen, hin zu einer solidarischen Linken.
Diese kämpft um soziale Gerechtigkeit und für Emanzipation und Vielfalt.
2 May 2017
## AUTOREN
Houssam Hamade
## TAGS
Rechter Populismus
Lesestück Interview
Umverteilung
Populismus
Anerkennung
Soziale Gerechtigkeit
Philosophie
Schwerpunkt Rassismus
Black Lives Matter
Identitätspolitik
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Schwerpunkt Rassismus
Fake News
Schwerpunkt USA unter Trump
Schwerpunkt USA unter Trump
Rechter Populismus
Rechtspopulismus
Identitätspolitik
Rechtspopulismus
Arbeiterklasse
Populismus
Lesestück Meinung und Analyse
Schwerpunkt Brexit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neues Buch über Gegenwartskapitalismus: Wir sind erledigt
Die Philosophin Nancy Fraser analysiert den Kapitalismus als gefräßiges
Ungeheuer, das alles verschlingt und zerstört.
Sammelband des Kulturtheoretikers Hall: Rassismus als Prisma
„Selected Writings on Race and Difference“ vereint Texte des Soziologen
Stuart Hall. Der Band bietet Impulse für die Debatte über
Identitätspolitik.
Identitätspolitik auf der Buchmesse: Ich ist eine andere
Minderheitenpolitik findet nicht mehr nur in der Linken statt. Das kann man
als Fortschritt lesen, gäbe es nicht den Link zu einem Gegenwartsparadigma.
Austausch über Krise der Linken: Gefangen im Nebenwiderspruch
Sahra Wagenknecht und Wolfgang Engler diskutieren über die Krise der
Linken. Wagenknecht macht die Identitätspolitik als Hauptgrund aus.
Essay Queerness in der Politik: Lasst uns Banden bilden!
Die Sehnsucht nach dem Ende traditioneller Genderrollen ist groß. Damit
lässt sich Politik machen: Eine starke linke Bewegung braucht mehr
Queerness.
Rassist sticht drei Männer in den Hals: Tödliche Attacke
In einem Zug im US-Bundesstaat Oregon stach ein Rassist drei Männer nieder.
Zuvor hatte er zwei Mädchen mit antimuslimischen Äußerungen beleidigt.
Fake News: Stille Post im Internet
Die Behörden entziehen einem Eigentümer zeitweilig die Verfügungsgewalt
über leer stehende Wohnungen. Die Geschichte munitioniert Trump-Fans
US-Repräsentantenhaus stimmt ab: „Trumpcare“ kommt durch
Mit knapper Mehrheit haben US-Abgeordnete für ein Gesetz gestimmt, das die
Gesundheitsreform von Obama ersetzen soll. Viele sehen das kritisch.
Dekret erleichtert politisches Engagement: Trump pampert religiöse Gruppen
Mit einem Dekret des US-Präsidenten sollen Vorgaben aus dem
Bundessteuergesetz aufgeweicht werden. Religiöse gewinnen so mehr Einfluss.
Frankreichs Links- und Rechtspopulismus: Im Namen des Volkes
Ideologisch berühren sich die Extreme Mélenchon und Le Pen nicht. Aber die
von ihnen mobilisierten Gefühle überschneiden sich.
Debatte Rechtspopulismus und Linke: Neuanfang in Denken und Handeln
Wer linke Politik verteidigen will, muss auch die soziale Frage stellen
dürfen! Das meinen zwei FAZ-Essayisten nach Kritik in der taz.
Debatte Rechtspopulismus: Wo Linke nicht irren dürfen
Die Interpretation des Rechtspopulismus als Neuauflage der sozialen Frage
geht am eigentlichen Kern der Sache vorbei.
Debatte Rechtspopulismus in Europa: In die Identitätsfalle getappt
Die Rechten brachten den „kleinen Mann“ zurück in die Politik. Die Linke
hat darauf keine Antwort. Eine Replik auf Christian Volks taz-Essay.
Die Abschaffung des Kapitalismus: „Weg vom Zwang zur Arbeit“
Der Neoliberalismus funktioniert nicht, sagen Nick Srnicek und Alex
Williams. Sie fordern in „Die Zukunft erfinden“ eine populistische Linke.
Kolumne Mittelalter: Einmal eine neue Gegenwart, bitte!
Wer darf warum nicht wählen? Was machen wir mit all diesen tausend
Identitäten? Und ist heiß duschen etwa schon Populismus?
Den Aufstieg der Rechten aufhalten: Brauchen wir Linkspopulismus?
Es ist keine gute Idee, die Rechtspopulisten mit ihren eigenen Mitteln
schlagen zu wollen. Die Linke muss sich den Abgehängten zuwenden.
Essay Brexit und Rechtspopulismus: Das Volk gegen die da oben
Dass die Briten den Schritt zum Austritt gegangen sind, hat viele Gründe.
Für rechte Populisten ist das Anti-EU-Ressentiment ist ein gefundenes
Fressen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.