| # taz.de -- Essay Brexit und Rechtspopulismus: Das Volk gegen die da oben | |
| > Dass die Briten den Schritt zum Austritt gegangen sind, hat viele Gründe. | |
| > Für rechte Populisten ist das Anti-EU-Ressentiment ist ein gefundenes | |
| > Fressen. | |
| Bild: Einer ist schon jetzt eine Witzfigur | |
| „Daran habe ich immer geglaubt, dass man sich wichtigen Entscheidungen | |
| stellen muss und sich vor ihnen nicht wegducken darf“, sagte David Cameron | |
| Freitagmorgen, nachdem [1][das Schockergebnis des Brexit-Referendums] | |
| bekannt geworden war. Daran sah man schon, wie weit der britische Premier | |
| von der Realität entfernt ist. Cameron hat aus Parteitaktik ein Referendum | |
| ausgeschrieben, er und die Tories haben seit Jahrzehnten auf der billigen | |
| Klaviatur des Antieuropäertums gespielt – dann braucht man sich über das | |
| Ergebnis nicht zu wundern. Die Positionen der populistischen Rechten | |
| übernehmen und dann ein Pro-Votum empfehlen – das ist so absurd, dass man | |
| am liebsten laut auflachen möchte. | |
| Leadership, das sich „wichtigen Entscheidungen stellt“, ist so ziemlich das | |
| Gegenteil von dem, was dieser grandios gescheiterte Möchtegernstaatsmann | |
| repräsentiert. Wäre es nicht so tragisch, müsste man sagen: Dieser Mann ist | |
| als Premier eine Lachnummer, die nicht leicht zu überbieten ist. Er wird in | |
| die britische Geschichte als Witzfigur eingehen. | |
| Dass die Briten den Schritt zum Europa-Exit tatsächlich gegangen sind, hat | |
| natürlich viele Gründe. | |
| Da ist zunächst einmal das jahrzehntelange Antieuropäertum des rechten | |
| Tory-Flügels. Euroskepsis ist in Großbritannien nichts, was erst mit dem | |
| Aufkommen von Populismus und Wutbürgertum zu grassieren begann. Es gibt | |
| hier einen Traditionsstrang von „Britishness“, der Exklusivität hochhält. | |
| Der konnte freilich immer nur die britische Europapolitik bremsen – aber er | |
| war nie stark genug, die britische EU-Mitgliedschaft generell infrage zu | |
| stellen. | |
| Dass es jetzt so weit kam, hängt mit zwei weiteren Faktoren zusammen, die – | |
| und das ist das Beunruhigende – nichts mit skurrilen Britenspleens zu tun | |
| haben. | |
| ## Wutbürgertum | |
| Erstens das, was man so generell das Wutbürgertum nennt (und das mit | |
| Bürgerlichkeit nur dem Namen nach zu tun hat): das Ressentiment gegen die | |
| politische Klasse und deren Elitenprojekte, der Zorn auf die Welt und | |
| Veränderungen, die ins Aggressive umschlagende Verängstigung, Xenophobie | |
| und Abwehr von Zuwanderung. All das verdichtet sich in einer Wut und dem | |
| Bestreben, es „denen da oben“ endlich einmal zu zeigen. | |
| Und überall in Europa richtet sich diese Wut auf „Europa“, auf „Brüssel… | |
| auf „die Eurokraten“ und deren „undemokratisches Regime“. Marine Le Pen, | |
| Geert Wilders, Heinz-Christian Strache und seine FPÖ, Ungarns Viktor Orbán | |
| und viele andere schaffen es spielend, diese Wut zu kapitalisieren. | |
| All das ist eine amorphe, antipolitische Stimmung, die getragen wird von | |
| der Vorstellung in breiten Bevölkerungskreisen, dass die politischen Eliten | |
| in ihrer Arroganz „die einfachen Leute“ verachten, verkaufen, betrügen. | |
| Diese Gemengelage grassiert überall in Europa, aber auch über Europa | |
| hinaus: Man denke beispielsweise nur an Donald Trump und andere Produkte | |
| dieses giftigen politischen Emotionscocktails. | |
| ## Rhetorische Spiele | |
| Die „einfachen Leute“ fühlen sich von der Etabliertenpolitik nicht mehr | |
| repräsentiert, und dieses Gefühl wird von den Populisten noch geschürt. Die | |
| Rhetorik der Etablierten wiederum unterstützt dieses Gefühl auch noch: Wann | |
| immer sie hilflos und gut gemeint beteuern, man müsse nun „rausgehen zu den | |
| Leuten“, dann senden sie die Botschaft, dass sie etwas anderes sind als | |
| „die Leute“, dass man von denen getrennt ist und dass es notwendig ist, auf | |
| paternalistisch-herablassende Art zu denen hinzugehen und ihnen die Welt zu | |
| erklären. | |
| Neben der spezifisch britischen Emotionalität und der populistischen „Wir | |
| da unten gegen die da oben“-Mentalität gibt es aber noch einen dritten | |
| Grund, und der ist in gewissem Sinne der schlimmste, weil er fahrlässig | |
| selbst verschuldet ist und die Europäische Union zerstören kann, und der | |
| dafür verantwortlich ist, dass aus eurokritischen Minderheiten eine | |
| Mehrheit werden kann: die fatale Politik der Europäischen Union selbst. | |
| Die Europäische Union wurde mehr und mehr zu einem neoliberalen Projekt, in | |
| dem „Marktfreiheit“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ die zentralen | |
| Glaubensartikel sind. In den vergangenen sechs Jahren kam dann noch eine | |
| flächendeckende Austeritätspolitik dazu, die vor allem in der Eurozone zu | |
| permanenter Stagnation und in den Krisennationen der Peripherie zu sozialen | |
| Katastrophen führte. | |
| Das ist fatal, weil es das Bild der Europäischen Union in den Augen der | |
| Bürger einfärbte. Diese EU wird einfach nicht mehr mit Wohlstand, | |
| Fortschritt und wachsenden Chancen verbunden (wie das in den achtziger und | |
| bis weit in die neunziger Jahre der Fall war), sondern mit | |
| Wohlstandsverlusten, mehr ökonomischem Stress und Wettbewerb, bei dem die | |
| Bürger und Bürgerinnen unter die Räder kommen. | |
| ## Bedrohung statt Versprechen | |
| Europa ist kein Versprechen mehr – es ist eine Bedrohung. | |
| Dafür sind die politischen und administrativen Eliten der Länder grosso | |
| modo selbst verantwortlich und besonders auch noch jene politische | |
| Strömung, die dem Kontinent seit Jahren ein „Ihr müssten den Gürtel enger | |
| schnallen“ verordnete. | |
| Etwas salopp gesagt: Es sind Leute wie Wolfgang Schäuble und Co, die die | |
| Europäische Union an den Rand des Kollapses gebracht haben. | |
| Tolle Leistung, danke schön dafür! | |
| Diese Politik hat den Spaltpilz in dieses Europa gepflanzt, weil Krisen | |
| plötzlich nicht mehr im Geiste der Kooperation gelöst, sondern die | |
| Mitgliedstaaten gegeneinander aufgewiegelt wurden: Solider Norden gegen die | |
| Schlawiner im Süden, so wurde die Debatte etwa in der Finanz- und Eurokrise | |
| geframed. | |
| Nicht nur ein Gegeneinander schlich sich ein, sondern ein Geist des | |
| autoritären Regierens. Nationale Regierungen, die nicht spuren wollten, | |
| wurden auf Linie gebracht wie etwa die griechische. Die Troika wurde zum | |
| Sinnbild dieses fatalen Kurses: bürokratische Eliten, die mit grenzenloser | |
| Überheblichkeit glauben, sie könnten Befehle erteilen. | |
| Die bösen Geister, die diese Politik rief, wird sie nun selbst nicht mehr | |
| los. | |
| War das Setting des Gegeneinanders in der Euro- und Finanzkrise noch eines, | |
| das im Wesentlichen an der Nord-Süd-Achse (und vor allem in der Eurozone) | |
| wirkte, so gingen die Fronten bei der nächsten Krise schon durcheinander: | |
| Ost gegen West, Peripherie gegen Zentrum, beinahe jeder gegen jeden. | |
| ## Bild einer dysfunktionalen Union | |
| Die Blockbildungen, wer sich mit wem verbündet und welche politischen | |
| Fragen wo auf fruchtbaren Boden fallen, die mögen teilweise variieren – | |
| aber das Gesamtbild einer dysfunktionalen Union, die für die Bürger und | |
| Bürgerinnen kaum mehr nennenswerte Vorteile bietet und deren zentrifugale | |
| Tendenzen ins Chaotische übergehen, setzte sich erfolgreich in den Köpfen | |
| fest. Von London bis Athen, von Wien bis Budapest. | |
| Diese Europäische Union ist auch von ihren Freunden und Freundinnen kaum | |
| mehr zu verteidigen – und ist deshalb als Feindbild ein gefundenes Fressen | |
| für die Rechtspopulisten. Überall können sie die scheinbaren Interessen der | |
| „einfachen Leute“ gegen Europa in Stellung bringen. | |
| Das zeigte sich insbesondere in England dramatisch. Die Labour-Party | |
| kämpfte nur halbherzig für ein „Remain“, ihrem linken Vorsitzenden Jeremy | |
| Corbyn fiel kaum ein Argument ein, das gegen den Brexit sprach. Viele Linke | |
| warben mit dem Argument für das „Remain“, ein Brexit würde unter den | |
| gegebenen Umständen nur den Rechten helfen. Ein „linker Exit“ wäre | |
| wünschenswert, aber der stünde nicht zur Wahl. Deshalb gab diese Linke die | |
| Parole aus: „Remain and revolt.“ Es versteht sich von selbst, dass derart | |
| um die Ecke gedachte Argumentationen in einer polarisierten Atmosphäre | |
| nicht gerade dazu beitragen, nennenswert gegen den rechten Populismus zu | |
| punkten. | |
| Die Populisten in Europa werden jetzt einen Zahn zulegen und versuchen, | |
| einen Dominoeffekt zu produzieren. Noch haben sich viele der Rechtsparteien | |
| gescheut, den definitiven EU-Austritt zu fordern. Parteien wie etwa die FPÖ | |
| fordern eine solche Sezession bisher nicht offen. Aber es ist anzunehmen, | |
| dass sich das in den nächsten Monaten ändern wird. Zu verlockend ist die | |
| Aussicht, mit einer Anti-EU-Referendumsforderung die Regierungen unter | |
| Druck zu setzen und zu fordern, „das Volk“ solle entscheiden. [2][Schon | |
| Freitag haben sich der Front National, Wilders Freiheitspartei und die FPÖ | |
| markant in diese Richtung bewegt]. | |
| Die Europäische Union ist jetzt an einen Wendepunkt. Wenn Merkel, Schäuble | |
| und Co glauben, man könnte so weitermachen, dann fliegt uns dieses Europa | |
| um die Ohren. | |
| 25 Jun 2016 | |
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| Robert Misik | |
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