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# taz.de -- Tory-Kandidatin Theresa May: The next Merkel
> Theresa May war gegen Großbritanniens EU-Austritt, macht ihn aber nun zu
> ihrer Sache. Vermutlich wird sie Premierminister David Cameron beerben.
Bild: Theresa May im April verlässt die Downing Street 10 – wohl nicht zum l…
Großbritanniens nächster Premierminister wird eine Premierministerin. Die
Parlamentsfraktion der regierenden Konservativen hat bei ihrer zweiten
Abstimmung über die Nachfolge des Premiers David Cameron zwei Kandidatinnen
übrig gelassen: Andrea Leadsom, Staatssekretärin für Energie, und Theresa
May, Innenministerin. Sie müssen sich der Basis jetzt in einer Urwahl
stellen.
Die meisten Beobachter sind sich darüber einig, dass das Rennen damit so
gut wie gelaufen ist. May ist die klare Favoritin. Sie bekam am Donnerstag
im ersten Wahlgang die Stimmen von genau 150 der 330 konservativen
Unterhausabgeordneten, im zweiten 199. Leadsom steigerte sich lediglich von
66 auf 84. In Umfragen an der Parteibasis liegt May gar mit einer
Zweidrittelmehrheit vorn.
Es gibt bei den Konservativen eine alte Regel, wenn eine neue Führung
gewählt wird. Sie besagt, dass der Favorit der Abgeordneten immer bei den
Parteimitgliedern durchfällt. Diesmal scheint sie außer Kraft gesetzt –
wohl auch, weil es in diesem Fall nicht um die Benennung eines
Oppositionsführers geht, in dem die Aktivisten einen Repräsentanten finden,
sondern um die Kür zum Premierminister, der das ganze Land regiert.
Dennoch bietet der kommende Wahlkampf – Andrea Leadsom vs. Theresa May – in
den nächsten Wochen einen Klassiker des englischen Konservatismus: Outsider
gegen Insider, Aktivisten gegen Apparat.
## May steht für Stabilität
Leadsom war eine Wortführerin der beim EU-Referendum siegreichen
Brexit-Kampagne „Vote Leave“, May eine stille Unterstützerin des Verbleibs
in der EU. Die kaum bekannte Leadsom entpuppte sich in öffentlichen
Auftritten als die positive Überraschung des Brexit-Wahlkampfs.
Die allen vertraute May agierte als ruhige Hand der Regierung im
Hintergrund. Leadsom gilt als eloquent, May als besonders intelligent.
Leadsom gibt sich als Liebling der aufsässigen Basis, die den Brexit auch
als Denkzettel für das eigene lasche Establishment versteht; May die
Kandidatin ebenjenes Establishments, das nach Wochen der Aufregung wieder
Ruhe einkehren lassen will.
Wann immer es besonders turbulent wird in Großbritannien, gibt es in der
Politik Momente des Innehaltens; Momente, in denen sich die Akteure im
Stillen neu zu besinnen scheinen, um eine brenzlige Situation nicht noch
eskalieren zu lassen.
Ob der vom Establishment erzwungene Rücktritt des jungen Königs Edward
VIII. 1936, die an Massenhysterie grenzende Volkstrauer nach dem Tod von
Prinzessin Diana 1997 oder auch die lang anhaltende tiefe Wirtschaftskrise
der 1970er Jahre – manchmal erlebt Großbritannien außergewöhnliche
Situationen, in denen die politischen Selbstverständlichkeiten erschüttert
scheinen.
## Zurückschrecken vor dem Umsturz
Auch der Sieg der Brexit-Befürworter am 23. Juni gehört in diese Kategorie.
Aber nie kommt es zum Äußersten. Alle politischen Akteure müssen sich dann
zwischen Umsturz und Restauration entscheiden, und regelmäßig schrecken
alle vor dem Umsturz zurück. Theresa May fügt sich hier ein.
Die Kräfte der Restauration sind in Großbritannien mächtig und diskret und
nicht automatisch konservativ. Manchmal fegen sie Altes hinweg, das nicht
mehr funktioniert. Sie agieren im der Verschwiegenheit verpflichteten Privy
Council der Queen, dem alle wichtigen Politiker angehören; in den vielen
Redezirkeln und Clubs der Hauptstadt; eher im informellen Austausch
zwischen Gleichgesinnten als in der formellen Konfrontation zwischen
Gegnern.
Diese Ebene der institutionalisierten persönlichen Interaktion des
britischen Staats, der keine schriftliche Verfassung hat, nennt der
Historiker Peter Hennessy die „verborgene Verkabelung“. Wenn Krisen drohen,
offenbart sie ihre einzigartige Stärke und Flexibilität.
## Stabilität als Ziel
Theresa May ist jetzt die Kandidatin einer Restauration, die bereit ist, um
der Stabilität des Landes willen den Austritt der EU zu ihrer Sache zu
machen, obwohl sie nicht dafür war. Das macht sie für beide Lager wählbar.
Als Premierministerin scheint sie alternativlos zu sein.
Als sich die Partei über den Brexit zerfleischte, baute May Koalitionen.
Ihre Rivalin Andrea Leadsom kann keine nennenswerte Regierungserfahrung
aufweisen und hat kein politisches Gewicht; ihren Aufstieg verdankt sie
einzig dem Umstand, dass sich alle anderen konservativen Brexit-Wortführer
gegenseitig gemeuchelt haben.
May wird seit Jahren als mögliche Nachfolgerin David Camerons gehandelt.
Sie ist überhaupt erst die zweite Frau Großbritanniens neben Margaret
Thatcher, die je eines der vier Spitzenämter innehatte – Premierminister,
Finanzminister, Außenminister oder Innenminister.
May ist seit 2010 im Amt, kein Innenminister Großbritanniens amtierte je
länger als sie. Auch jenseits des Amtes ist sie eine Insiderin der
Sicherheitsapparate und der drum herum vernetzten Vordenker der britischen
Staatsräson, ohne deren Einverständnis in der britischen Politik gerade in
schwierigen Zeiten nichts geht. Sie hat konsistent einen harten Kurs gegen
radikale Islamisten und illegale Migranten gefahren, aber zugleich
Interessengruppen wie die Polizeigewerkschaft in die Schranken gewiesen,
ohne dadurch Schaden zu nehmen.
Härte verspricht sie auch in den Brexit-Verhandlungen mit der EU. Während
Labour, Liberale und sogar das Brexit-Lager bis hin zu Nigel Farage als
Geste des guten Willens das Bleiberecht der bereits in Großbritannien
ansässigen EU-Bürger erhalten wollen, lehnt May dies als einseitige
Vorleistung und Schwächung der eigenen Verhandlungsposition ab.
## Konservatives Hinterland
Maidenhead, Mays englischer Wahlkreis, ist eine unscheinbare Stadt, durch
die man fährt, ohne es zu merken, an der aber jeder vorbei muss, der vom
Flughafen London-Heathrow in lieblichere ländliche Gefilde weiter westlich
will. Dort oben, in Richtung der Cotswold-Hügel, wo ein etwas zu exklusiver
Zirkel residiert – Macht und Geld, Pferde und Millionäre –, hat David
Cameron sein Zuhause.
Theresa Mays Welt ist eine Stufe tiefer angesiedelt, unscheinbarer,
disziplinierter, der harten Arbeit gewidmet, mit Respekt vor Kirche und
Armee, mit konservativen Werten, nicht borniert, aber auch nicht
populistisch.
Bei wem, wie bei May im Alter von 56 Jahren, der unheilbare Typ-1-Diabetes
diagnostiziert wird; wer, wie sie, daraufhin seinen Alltag komplett
umstellen und sich unter permanenter Selbstkontrolle mehrmals am Tag
Insulin spritzen muss, muss sich ohnehin auf das Wesentliche im Leben
konzentrieren, ohne Show und Effekthascherei. May macht daraus eine Tugend,
von der jetzt auch Großbritannien profitieren soll.
Theresa May ist, ihres stillen Naturells wegen, das im Verborgenen wirkt,
oft mit Angela Merkel verglichen worden, so oft, dass gar nicht mehr
beachtet wird, wo dieser Vergleich besonders zutrifft: May setzte sich zu
Beginn ihres Aufstiegs mit ihren Konservativen ähnlich schonungslos
auseinander wie einst Merkel mit der CDU im Rahmen der Spendenaffäre.
## Eher Blair als Cameron
2002, als neue Generalsekretärin, sagte May auf dem Parteitag der
Konservativen, sie seien nicht wählbar, weil die Öffentlichkeit sie immer
noch als „die bösartige Partei“ (Nasty Party) wahrnehme. Ein brutaler
Ausspruch, den ihre Kollegen ihr jahrelang übel nahmen, weil er eine
unbequeme Wahrheit ausdrückte.
Sie hat den Spruch offensichtlich nicht vergessen. Das Land, sagte May am
Donnerstagabend, brauche jetzt „eine starke, bewährte Führung, um den
besten Deal für Großbritannien in den Verhandlungen zum Austritt aus der
Europäischen Union zu erreichen, um unsere Partei und unser Land zu
vereinen und um aus Großbritannien ein Land zu machen, das nicht für wenige
Privilegierte funktioniert, sondern für jeden von uns“.
Das war nicht nur ein verstecktes Selbstlob, sondern auch eine bewusste
Abgrenzung von Camerons Elitehintergrund – und eine überraschende
Anknüpfung an Tony Blair und dessen Wahlkampfparole von 1997,
Großbritannien solle ein Land „für die vielen, nicht die wenigen“ sein.
Damals, bei Labours Erdrutschsieg 1997, kam Theresa May frisch ins
Parlament, und in ihrer Antrittsrede wies sie belustigt darauf hin, dass
ihre Kollegen sie ständig mit einer Labour-Abgeordneten verwechseln würden,
mit der sie den Vornamen teilt. „Ich sollte mir ein Namensschild zulegen,
auf dem steht: Nein, ich bin die andere“, sagte sie unter Gelächter.
Neunzehn Jahre später ist Theresa May tatsächlich „die andere“ – und ge…
das könnte sie bis nach ganz oben tragen.
8 Jul 2016
## AUTOREN
Dominic Johnson
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