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# taz.de -- Brexit und David Cameron: Die süße Rache des Premiers
> Nach seiner Niederlage kündigt der Großbritanniens Regierungschef den
> Rücktritt an. Seine Gegner haben die Lage auch nicht besser im Griff.
Bild: Macht sein Zimmer frei: David Cameron
London taz | Selten liegen Triumph und Tragödie so nahe beieinander. David
Cameron, der britische Premierminister, kam fast ins Schluchzen, als er am
Freitag früh auf der Straße vor seinem Amtssitz 10 Downing Street in London
gemeinsam mit seiner Frau vor die Fernsehkameras trat. Am Ende einer kurzen
Ansprache kündigte er seinen Rücktritt an. „Das Volk hat eine Entscheidung
getroffen, und sie muss respektiert werden“, sagte Cameron. Er sei „nicht
der richtige Kapitän, um das Land zu seinem nächsten Ziel zu steuern. Das
Land braucht eine frische Führung.“ Die soll spätestens bis zum Parteitag
der Konservativen im Oktober stehen.
Erst vor gut einem Jahr, am 7. Mai 2015, war Cameron an genau derselben
Stelle als strahlender Wahlsieger aufgetreten. Damals hatte er für die
Konservativen die erste absolute Mehrheit im Parlament seit Jahrzehnten
geholt. Nun hat er die Volksabstimmung über Großbritanniens Verbleib in der
EU verloren. Fast 17,5 Millionen Menschen stimmten für den „Brexit“ –
viel mehr als jemals ein Sieger bei einer britischen Parlamentswahl auf
sich vereinen konnte. Camerons politische Karriere ist damit praktisch
vorbei.
Noch vor wenigen Tagen war das Cameron-Lager nach Angaben eines Insiders so
zuversichtlich gewesen wie seit mehreren Wochen nicht mehr: Der scheinbar
unaufhaltsame Aufstieg der „Leave“-Kampagne für einen EU-Austritt schien
mit [1][dem Mord an der Labour-Abgeordneten und EU-Befürworterin Jo Cox]
durch einen Rechtsextremisten gebremst worden zu sein. Umfragen zeigten
einen Trend zurück zu „Remain“, zum Verbleib in der EU. Noch bevor am
Donnerstagabend ein einziges Ergebnis vorlag, spekulierte der
Rechtspopulist Nigel Farage bereits öffentlich über die Gründe seiner
vermuteten Niederlage.
Es ging eine Faustrechnung um: Damit Brexit gewinnt, braucht es in der
nordostenglischen Industriestadt Sunderland, eine Anti-EU-Hochburg und
eines der ersten ausgezählten Ergebnisse, mindestens 8 Prozent Vorsprung.
Liegt „Leave“ in Sunderland aber bei unter 54 Prozent, bleibt
Großbritannien voraussichtlich in der EU und Cameron im Amt. Dann kam das
Ergebnis aus Sunderland: 61 zu 39 Prozent gegen die EU. Es war eine
Ohrfeige für alle Prognosen. Von da an blieb der Trend stabil.
Im Morgengrauen hielt Farage eine erste improvisierte Rede: „Dies wird ein
Sieg der einfachen Menschen, der anständigen Menschen“, triumphierte der
Chef der United Kingdom Independence Party (Ukip). „Wir haben gegen die
Multis gekämpft, gegen Big Business, gegen die große Politik, gegen Lügen
und Korruption.“
Camerons Spiel hingegen ist nicht aufgegangen. Der Premierminister und
konservative Parteichef hatte darauf gesetzt, die Euroskeptiker in seiner
Partei endgültig zum Schweigen zu bringen, indem er sie per Volksabstimmung
zum Duell herausfordert – und besiegt. Schon bei der Parlamentswahl 2015
hatte er seine rebellische Parteibasis damit bei der Stange gehalten: Wählt
mich, dann könnt ihr auch über die EU abzustimmen. Sie wählten ihn. Und
jetzt haben sie über die EU abgestimmt.
Aber nicht nur die konservative Basis im ländlichen England hat massiv
gegen die EU gestimmt, wie zu erwarten war. Für den Brexit entschied sich
auch die Labour-Basis in den kriselnden Industrieregionen Nord- und
Zentralenglands. Sie fühlt sich gebeutelt von einer unkontrollierbaren
Zuwanderung von „Billigarbeitern“ aus Osteuropa. Sogar Wales stimmte für
den Brexit, ebenso die Metropolen Birmingham und Sheffield.
## Viele neue Fragen
Der im Herbst 2015 gewählte neue Labour-Parteichef Jeremy Corbyn, ein
EU-skeptischer Altlinker, setzte der Europamüdigkeit seiner Basis wenig
entgegen. Damit hatte Cameron nicht gerechnet. Er dachte wohl auch, das
Rezept, mit dem er sowohl 2015 die Wahlen als auch 2014 Schottlands
Unabhängigkeitsreferendum gewonnen hatte – wählt mich, sonst bricht die
Wirtschaft zusammen – würde ein drittes Mal funktionieren. Es klappte
nicht.
So hat das Referendum zwar eine Frage beantwortet – die nach
Großbritanniens Mitgliedschaft in der Europäischen Union– aber ganz viele
neue aufgeworfen. Was wird aus der britischen politischen Landschaft, wenn
den großen Parteien die Wähler weglaufen? Was wird aus Schottland, das
massiv gegen den Brexit stimmte und nun ein neues Unabhängigkeitsreferendum
ins Spiel bringt? Wer regiert Großbritannien jetzt überhaupt?
Die EU-Gegner haben diese neue Unübersichtlichkeit nicht im Griff. Sie
ließen in der Referendumsnacht stundenlang ausschließlich Nigel Farage in
den Medien auftreten, obwohl er eigentlich ein Außenseiter auch im
Brexit-Lager ist. Von der offiziellen EU-Austrittskampagne „Vote Leave“,
geführt vom konservativen Justizminister Michael Gove und der
deutschstämmigen Labour-Abgeordneten Gisela Stuart, war zunächst nicht zu
sehen. „Vote Leave“ verzichtete sogar auf eine Wahlparty. Gisela Stuart
trat immerhin am frühen Morgen als erste Leave-Person vor die Kameras und
rief in Abgrenzung zu den Rechtspopulisten zur Ruhe auf: „Beruhigen wir
uns, bleiben wir cool.“ Es sei ein Votum gegen die undemokratische
Europäische Union, nicht gegen Europa.
## Ohne Strategie
Aber: Eine Brexit-Strategie hat niemand. Bei Labour zirkulieren Gerüchte
über einen bevorstehenden Putsch gegen Corbyn. Bei den Konservativen
herrscht Durcheinander: Die EU-Gegner hatten eigentlich darauf gesetzt,
dass Cameron bleibt. Alle Anti-EU-Regierungsmitglieder und rund 80
konservative Abgeordneten hatten Cameron dazu aufgefordert, unabhängig vom
Ergebnis im Amt zu bleiben: Er habe „das Mandat und die Pflicht“,
weiterzuregieren.
Nun wirft Cameron trotzdem das Handtuch – eine süße Rache des Premiers an
seiner Partei. Die Konservativen werden ihn schneller vermissen, als dem
Brexit-Lager lieb sein kann. Denn es ist keineswegs ausgemacht, dass
Großbritannien im Herbst eine „Brexit-Regierung“ bekommt.
Der aussichtsreichste Kandidat für den Posten des Premiers wäre Boris
Johnson, der ehemalige konservative Londoner Bürgermeister, ein
Aushängeschild der Anti-EU-Kampagne. Aber Johnson hat keine solide Basis in
der Parlamentsfraktion. Er ist beliebt, aber eher als Entertainer, der
Ablenkung von Problemen bietet, sie aber nicht löst. Als Alternative gilt
Innenministerin Theresa May, eine stille, aber knallharte Politikerin. Sie
hat sich im Wahlkampf so auffallend zurückgehalten hat, dass man ihr jetzt
Führungsambitionen unterstellt.
Doch es ist kaum zu erwarten, dass die Briten nun monatelang stillhalten,
bis die Konservativen sich sortieren. Wie will Cameron noch monatelang das
Land regieren, als ein an der Wahlurne besiegter Premier auf Abruf?
24 Jun 2016
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## AUTOREN
Dominic Johnson
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