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# taz.de -- Essay Europa und die Angst des Einzelnen: Wir sind der Brexit
> Im Brexit spiegelt sich unsere Angst vor dem Komplexen. Die EuropäerInnen
> müssen eine Sprache finden, um die Angst zu zerstören. JedeR für sich.
Bild: Brexit ist in jedem von uns: Eine Befürworterin in London
Doch, ihr auch. Euer Land, eure offene Gesellschaft, eure
Einwandererfamilie. Auch viele von uns – mehr, als wir glauben – könnten in
solch einem Klima der Angst, wie es vor dem Referendum in Großbritannien
verbreitet wurde, den Notausgang wählen, der eine Abkürzung in ein prall
gefülltes Paradies verspricht, wo die Sonne immer scheint und wo alle (die
so sind wie wir) glücklich bis ans Ende ihrer Tage von (hiesigem) Brot und
(heimischem) Wein leben.
Aber nein, im Ernst, wie konnten sie nur? Sie konnten, weil sie an
Größenwahn leiden, an jener bornierten Haltung, die man einnimmt, wenn man
sich der eigenen Geschichte nicht stellt. Weil sie eine Inselmentalität
haben, gepaart mit gefühlsduseliger Commonwealth-Nostalgie. Weil sie seit
Langem in einer ganz und gar ungleichen Klassengesellschaft leben. Es gibt
einzelne Gründe für die Eselei, die sich die Briten erlaubt haben, aber es
wäre ein Fehler, den Brexit als rein britisches Phänomen zu betrachten. Es
sind die Nachwirkungen des ersten schweren Sturms in einer populistischen
Unwetterfront, die sich über Europa schiebt. Ähnliche Stürme brauen sich
über dem ganzen Kontinent und darüber hinaus zusammen, kleine missmutige
Ökosysteme heizen sich mit einer rassistisch-nationalistischen Stimmung
auf, die das größere politische und soziale Milieu einzunehmen droht.
Der Brexit sind wir – er ist jener Teil von uns allen, der den aktuellen
Komplexitäten und Herausforderungen aus dem Weg gehen möchte. Angesichts
des großen, wuchernden Durcheinanders unserer Welt erscheint jeder Ausweg
verlockend, der ein unkompliziertes, leichteres Leben voller Geborgenheit
verspricht. Aber in Wahrheit gibt es keinen Fluchtweg. Schon seit einiger
Zeit werden Wirtschafts-, Finanz-, Kommunikations-, Transport- und
Rechtssysteme so eingerichtet, dass sie weltweiten Austausch fördern. Zudem
haben diese Machenschaften Millionen von Menschen in Bewegung gesetzt, ein
Exodus von Einzelnen, die sich von den Auswirkungen der Globalisierung
gewaltsam oder aus freien Stücken haben vertreiben lassen. Es mag Maßnahmen
geben, diese Wirklichkeit zu ordnen, manches weniger zufällig und chaotisch
zu gestalten, weniger unmenschlich – ein Zurück aber gibt es nicht.
In gewisser Hinsicht war die EU ihrer Zeit voraus, als sie eine Zone
einrichtete, die Freizügigkeit aller Art gewährte, zumindest ihren
Mitgliedern. Vielen von uns hat sie beigebracht, sich – wenn auch nur im
Maßstab dieses Kontinents – an jene Unruhe zu gewöhnen, die die Welt heute
kennzeichnet. Manche haben zum ersten Mal gelernt, über ihre nationale
Identität hinauszudenken. Für Millionen war es der Auslöser dafür, Land
und Heimat neu zu definieren, ein Anstoß, uns beides als einen Ort
vorzustellen, wo, so Breyten Breytenbach, „ein kontinuierliches
‚Einander-anders-Machen‘ gängige Praxis wäre, ohne Vorverurteilung der
Veränderungen, mit anderen Worten: eine Art permanente Revolution“.
## Unberechtigte Privilegien
Dieser rebellische Geist, der Impuls gegen Uniformität und Enge, scheint zu
schwinden. Der Wandel, den die Menschen zur Zeit herbeisehnen, ist eine
Rückkehr zu dem, wie es früher war. Doch wohin man auch geht, immer hat man
sich selbst im Gepäck. Der eine Teil des Staatskörpers, mit dem
Großbritannien jetzt zurück in Richtung „Unabhängigkeit“ humpelt – man…
sagen Isolation –, ist lädiert und verwirrt, der andere weigert sich, den
Rückschritt zu akzeptieren. In der Woche nach der Abstimmung stieg die Zahl
hassmotivierter Verbrechen um das Fünffache an. Aus Fantasieängsten werden
echte Ängste.
In seinem Essay „What I Believe“ (Woran ich glaube) schrieb der britische
Philosoph Bertrand Russell, jede Angst sei schlecht, wenn sie „irrationale
Leidenschaft“ sei und nicht „aus rationaler Erwartung eines möglichen
Unglücks“ entstehe. Angst der ersten Art entzieht der Luft den Sauerstoff
des Verstands und sorgt für eine dünne Atmosphäre, in der nur wenige
ungehindert atmen können. Sogar jene, die sich mit Angstdioxid aufplustern,
werden vermutlich nach Luft ringen, weil Angst mehr Angst gebiert und am
Ende nicht genug Raum zum Atmen bleibt, weder für die Verängstigten noch
für die Angstmacher.
Angst ist eine alte Bekannte von mir, in meiner Kindheit in Kenia war sie
eine ständige, unwillkommene Begleiterin, heraufbeschworen von der Gefahr –
real, erfunden, übertrieben –, überfallen oder angegriffen zu werden.
Bedenkt man die extreme Ungleichheit innerhalb der damaligen kenianischen
Gesellschaft, die großen Ungerechtigkeiten und Qualen, denen die schwarze
Bevölkerung ausgesetzt war, verwundert es wenig, dass manche von ihnen
gewaltsam von den – größtenteils weißen und indischen – höheren Kreisen
nahmen. Deren Sorgen waren weniger verständlich, beinhaltete ihre schiere
Existenz doch das Bewusstsein eines unberechtigten Privilegs, das sie
gleichwohl mit Zäunen und Toren, Alarmanlagen und Wachpersonal zu schützen
suchten, ihre Autos stets verriegelt mit hochgekurbelten Fenstern.
Schon allein Sicherheitsvorkehrungen dieser Art schürten mein Unbehagen,
aber dann waren da noch die Geschichten – von Entführungen, Überfällen und
Morden –, die ich aufschnappte (und sicherlich auch falsch verstand), als
sie zwischen den Erwachsenen hin und her gingen. Wer weiß, wie viele
Vorfälle sich wirklich ereignet haben oder wie oft. Es spielte keine Rolle.
Was zählte, war das Gefühl, dass wir uns schützen mussten. Diese Prämisse
bestimmte unser tägliches Leben.
Die Europäische Union ist der erste Ort, an dem ich ohne Angst gelebt habe.
Ich sage EU, meine aber eigentlich Deutschland. Für mich sind sie
untrennbar miteinander verflochten – aus reinem und zauberhaftem Zufall ist
das eine dem anderen eingeschrieben: dEUtschland. Zwar hatte ich bereits
acht Jahre in der EU gelebt, bevor ich 2002 nach Deutschland kam – doch
hatte ich das nie wahrgenommen, weil sich das Vereinigte Königreich schon
damals weitgehend nicht explizit als Teil Europas erachtete, und folglich
hatte auch ich es nicht gelernt. Und so begann meine Beziehung zur EU in
Deutschland. Vielleicht ist es daher wenig überraschend, dass ich sie als
visionäres Projekt wahrnahm, eine historische Ausnahme, ein angemessen
zeitgenössisches Gebilde in einer globalisierten Welt, das den Einzelnen
gegen die wachsende Macht der Konzerne verteidigt.
Dies war die idealisierte Sichtweise der neuen Konvertitin, die die
Schönheitsfehler, die ihren Glauben erschüttern können, erst noch ausmachen
muss. Und dennoch, dieser erste Eindruck prägt noch immer meine Vorstellung
von der EU, davon, was sie sein könnte und sollte – und gelegentlich auch
tatsächlich ist. Beim Datenschutz beispielsweise hat die Europäische Union
die stärksten, weitreichendsten Gesetze weltweit. Genau solchen strikten
Vorgaben wollten jene, die das Referendum in Großbritannien – alias
Überwachungshauptquartier – initiiert haben, entkommen, indem sie sich aus
der Gemeinschaft stehlen.
Das Gefühl von Sicherheit, das ich bald verspürte, war eher mental als
körperlich und gründete auf einem verspäteten Verständnis von
Menschenrechten, Freiheit, Demokratie und den Möglichkeiten, all dies zu
verwirklichen. Mein eigenes politisches Engagement in dEUtschland und
philosophische und historische Lektüren formten dieses neue Bewusstsein.
Staatsangehörigkeit erschien mir mehr und mehr als Hingabe an ein
gemeinsames Projekt und gemeinsame Werte. Mein verworrener Hintergrund –
indisch, kenianisch und britisch – fand Klarheit, ja sogar eine flüchtige
Einheit in dieser politischen Dimension. Ich fühlte mich bestätigt, und als
würde ich zählen, im beruhigenden Wissen, dass dies das Vorrecht eines
jedes Einzelnen um mich herum war. So war es weder im rassistischen System
meiner kenianischen Kindheit gewesen noch im britischen Klassensystem, das
ich als junge Erwachsene kennengelernt habe und das die Gesellschaft heute
wie eh und je dominiert.
## Mehr Sicherheit und Mut
Jetzt, wo Großbritannien von echter Unsicherheit heimgesucht wird,
beherrscht Angst weiterhin die Überschriften und nistet in und zwischen
allen gedruckten oder gesprochenen Zeilen. Jetzt ist das Gefühl legitim,
aber es gibt keine adäquate Sprache, um es auszudrücken. Wir haben unser
Vokabular erschöpft – das passiert, wenn die Nachrichten künstlich auf
Hochspannung gehalten werden. Wie alte Münzen sind Worte dann so abgenutzt
von der Überbeanspruchung, dass man ihren Wert kaum noch lesen kann.
„Krise“, „dringlich“, „Chaos“, „Desaster“. Verzweifelt wurden s…
herumgereicht, eine abgewertete Währung, mit der Wirklichkeit kaum zu
erwerben ist.
Russell glaubte, Angst lasse sich auf zwei Arten bekämpfen. Zum einem,
indem man die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Für die meisten Regierungen
bedeuten Sicherheitsvorkehrungen heutzutage mehr Überwachung und mehr
Waffen. Doch Russell versichert, „nur Gerechtigkeit kann Sicherheit geben;
und mit 'Gerechtigkeit’ meine ich die Anerkennung gleicher Ansprüche aller
Menschen“. Wenn die Europäische Union zu diesem Zeitpunkt irgendeine
Bedeutung haben soll, dann muss sie mutig für Sicherheit in diesem Sinne
stehen, das heißt, sie muss auf Distanz zum Neoliberalismus gehen, zu immer
stärkerer wirtschaftlicher Liberalisierung, die heute die ganze Welt im
Griff hat und überall große Ungleichheit manifestiert.
Ein erstes und klares Signal wäre es, Ceta und TTIP zu stoppen, deren
erwartbare Auswirkungen in Europa höchst kontrovers diskutiert werden und
die manchen Teilen Afrikas sicherlich abträglich wären. Wenn Großbritannien
nie wirklich akzeptiert hat, wie weit es zu Europa gehörte, dann hat Europa
bislang nicht vollständig akzeptiert, wie weit es zum Rest der Welt gehört.
Ja, Kooperationen sind wichtig, internationale Verbindungen müssen
eingegangen, Handel muss getätigt werden – aber nicht in der
ausbeuterischen, kolonialistischen Gussform. Abkommen zu verfolgen, die den
Handel in den reichsten Regionen der Welt zu Ungunsten der ärmsten Regionen
ankurbeln, und diese Abmachungen derart heimlich zu verhandeln – damit
widerspricht die EU ihrem eigenen Gründungsvertrag, der die Achtung der
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, die Rechtsstaatlichkeit
und die Wahrung der Menschenrechte gelobt.
In letzter Zeit hat Europa agiert, als gelte dies allein für Menschen
innerhalb ihrer Grenzen, und selbst dort kommt sie ihrer
Selbstverpflichtung kaum konsequent nach. Wenn wir weiterhin unsere Werte
kompromittieren, je nachdem, um wen es geht und was für uns dabei
herausspringt, sollten wir wissen, dass auch wir früher oder später mit
einer abgewerteten Version dieser Werte leben müssen – eine Version, mit
der wir uns sehr unsicher fühlen werden. Das ist das Problem mit Worten,
worauf sie sich auch beziehen mögen: Wenn wir sie missbrauchen, schaden wir
uns selbst.
Angst, so Bertrand Russell, lässt sich aber auch dadurch bekämpfen, dass
man Mut kultiviert. Mehr als jemals zuvor müssen die EU, ihre Politiker und
Einwohner, mentalen und moralischen Mut pflegen. Als ersten Schritt sollten
wir wagen, uns anders auszudrücken. Denn wenn Worte dabei geholfen haben,
aus uns sorgenvoll grübelnde Wracks zu machen, können sie uns auch dabei
helfen, uns wieder zu fangen und zu festigen. Leider haben die jüngsten
Äußerungen europäischer Spitzenpolitiker außer weiteren Zweifeln wenig
kultiviert. Donald Tusk sprach davon, dass sich „die Europäer von
utopischen Träumen ab- und machbaren Projekten zuwenden müssen,
beispielsweise der Sicherung der EU-Außengrenzen“. Da ist er, der raunende
Ton der Angst – dumpf und monoton, wie meist alles im kleinmütigen Gerede
der Technokraten. Wer will schon Träume für Machbarkeit aufgeben? Wir
brauchen beides – und alles dazwischen!
Die Europäer müssen eine andere Sprache finden, ein Idiom, das das
erstickende Klima der Angst zerstreut und durch ruhigere Bedingungen
ersetzt, in denen wir wieder hoffnungsvoller in die Zukunft blicken können.
Nicht die Rauschgoldhoffnung des Kapitalismus oder die gefährliche
Scheinhoffnung des Populismus, nicht einmal die kühne Hoffnung des
Obamaismus, sondern die robuste Hoffnung des Humanismus. Eine Hoffnung,
die strapazierfähig genug ist, zu verstehen, dass nicht immer alles gut
wird, aber auch zuversichtlich genug, zu wissen, dass manche Dinge sinnvoll
sind, um unsere Werte aufrechtzuerhalten. Das jetzt Unvereinigte Königreich
ermahnt uns, uns weiterhin für ein vereintes Europa zu engagieren, es
ermahnt uns, uns gegen das Schlimmste in uns selbst zu wappnen.
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
14 Jul 2016
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Priya Basil
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