# taz.de -- Debatte Europäische Identität: Bloß keine Leitkultur | |
> Wer eine europäische Identität fordert, irrt. Es gibt nämlich auch nicht | |
> mal „die eine deutsche Identität“. Nur Vielfältigkeit hat Zukunft. | |
Bild: Ein tiefer Riss geht durch Europa | |
Täglich wird Europa definiert. Podien landauf, landab werden bestellt mit | |
der Frage: Wie kann man Europa erzählen? Oder: Was ist die Identität | |
Europas? Es wird nicht einmal der Plural verwendet (Identitäten), nein, es | |
soll eine solide, handfeste, verlässliche Identität her, und da sie so | |
eifrig herbeibeschworen wird, muss man annehmen, dass sie nicht existiert. | |
Das ist eigentlich, wenn man sich entspannt auf dem Rasen ausstreckt und in | |
die Sonne blinzelt, gar nicht so schlimm. Die Notwendigkeit von | |
Gruppenidentitäten ist keineswegs bewiesen. Im Gegenteil. Wie viel Unheil | |
sie angerichtet haben, ist bestens dokumentiert. | |
Die Aufgabe ist wahrlich kolossal, denn schon die nationale Identität | |
entzieht sich intelligenter Definition. Ein deutscher Politologe, der den | |
Eliten stets nach dem Mund redet, hat neulich zusammen mit seiner Ehefrau | |
einen weiteren Versuch unternommen und dabei die Erkenntnis zutage | |
gefördert, Deutschsein sei die Bereitschaft, fleißig zu sein, um sich und | |
seine Familie ernähren zu können. | |
Wow! Die Dogon in Mali, die 16 Stunden am Tag schuften, um auf kargem Boden | |
zu überleben, sind also Deutsche. Und der Null-Bock-Schlawiner (falls es | |
diesen in Zeiten neoliberaler Zurichtung überhaupt noch gibt) muss | |
ausgebürgert werden. Und was ist mit den Befürwortern eines | |
Grundeinkommens? Lauter Undeutsche. | |
## Orte der Begegnung | |
Derart lächerlich fallen alle Versuche aus, das artifiziellste aller | |
Konstrukte, den Nationalstaat, mit Inhalt zu füllen. Nun soll dieses | |
Perpetuum mobile des Scheiterns auf ein kontinentales Territorium erweitert | |
werden, das einen hohen Wohlstand an Widersprüchen genießt. Der | |
aufflammende kulturelle Nationalismus soll – Quadratur des Kreises, wenn es | |
je eine gab – einem Europa zum Gleichschritt verhelfen. | |
Alle Unternehmungen und Bestrebungen in diese Richtung gehen von einem | |
Kulturbegriff der Erstarrung aus: Kultur als eine Säulenhalle aus | |
tradierten Gebräuchen und Vorschriften, gestützt von einer rigiden | |
Verfestigung. Das mag dem Machterhalt dienlich sein, nicht aber einem | |
lebendigen und reichhaltigen kulturellen Leben, das seit je von der | |
Verflüssigung, von dem Fließen und Zusammenfließen geprägt war. | |
Anstelle einer immer wieder geforderten und gelegentlich mancherorts | |
eingerichteten Leitkultur würde es völlig ausreichen, einen offenen | |
kulturellen Gemeinschaftsraum zu ermöglichen: Orte der Begegnungen, wo | |
unterschiedliche Ideen, Meinungen und Lebensentwürfe sichtbar werden und | |
ausprobiert werden können, miteinander konkurrieren, wo die Vielfalt der | |
Vorstellungen jenseits der Konformität auflebt. | |
Denn abgesehen von der realen Möglichkeit einer solchen pluralen | |
Kulturgestaltung ist Europa von Gegensätzen zerrissen. Allein schon | |
historisch. Welten trennen die ehemaligen Kolonialmächte von den ehemals | |
kolonialisierten Ländern auf dem Balkan. Die Haltung von Frankreich etwa | |
ist weiterhin in der nationalpolitischen DNA geprägt von der mission | |
civilisatrice, dem anstrengenden, jahrhundertelangen Versuch, den Rest der | |
Welt auf das eigene Niveau zu hieven. | |
## Ein tiefer Riss durch Europa | |
Stolzes Produkt dieses Eifers waren die evolués, die – wie das Wort schon | |
sagt – sich zu einem höheren Kulturstand hinaufentwickelt haben. | |
Europäisierung bedeutete in diesem Zusammenhang, die schmutzigen und | |
zerrissenen Fetzen außereuropäischer Kultur wegzuwerfen und sich in feinen | |
Zwirn zu kleiden. | |
Die imperialen Vergangenheiten wirken ebenso fort wie der Kalte Krieg. Da | |
die kommunistische Vergangenheit in den meisten Staaten des ehemaligen | |
Ostblocks kaum bewältigt ist, da eine Kontinuität der Eliten zu Korruption | |
und Chauvinismus geführt hat (diese Piraten schwenken die blutige Fahne des | |
Nationalen), geht ein tiefer Riss durch Europa. Eine Umfrage des Pew | |
Research Center vom letzten Monat belegt das eindrucksvoll. | |
In den meisten EU-Staaten des Ostens, wo kaum Muslime leben (Bulgarien ist | |
eine Ausnahme), herrschen heftige Ressentiments vor. 72 Prozent der Ungarn | |
und 66 Prozent der Polen haben eine grundsätzlich negative Meinung über | |
Muslime. In den Staaten mit vergleichsweise hohem muslimischen | |
Bevölkerungsanteil (Frankreich: 7,5 Prozent, Deutschland: 5,8 Prozent, und | |
Kleinbritannien: 4,8 Prozent) liegt die Prozentzahl der Islamophoben bei | |
„nur“ 29 beziehungsweise 28 Prozent. | |
Das sind eklatante Differenzen, die bei den Reaktionen auf das | |
Flüchtlingsdrama offen zutage treten. Wie soll man Europa an die hehren | |
Ideale des „Schönen, Wahren, Gerechten“ andocken, wenn sich ganze Staaten | |
jeglicher Solidarität und Mitmenschlichkeit verweigern? | |
## Katastrophale Symbolik | |
Zudem zeigen diese Zahlen auf, was in vielen Studien schon bewiesen worden | |
ist, dass nämlich Kenntnis voneinander keineswegs Verachtung schürt, | |
sondern Differenzierung erst ermöglicht. Wie oft haben wir es erlebt, dass | |
Antisemitismus ohne Juden aufkocht, dass ein Minarettverbot in jenen | |
(Schweizer) Kantons am meisten Unterstützung findet, wo es gar keine | |
Moscheen gibt, und dass die Ausländerfeindlichkeit dort grassiert, wo man | |
Ausländer mit xenophober Lupe suchen muss. | |
Jenseits von Polemik und Dogmatik sind europäische Lösungen gar nicht so | |
schwer zu finden, zumindest bedürften sie nicht täglicher rat- und mutloser | |
Kopfkratzerei. Es darf keinen Zwang geben, sich zwischen Integration und | |
Assimilation, zwischen Segregation und Ghettoisierung entscheiden zu | |
müssen. | |
Die neuerliche Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft ist in ihrer | |
Symbolik katastrophal. Denn beide Alternativen sind in ihrer | |
Ausschließlichkeit gefährlich, weil sie ausgrenzen und begrenzen. Es ist | |
gar nicht so schwer, die Logik des Entweder-oder zu überwinden. Eine | |
Kenntnis der vielfältigen inneren und äußeren Widersprüche, des Individuums | |
wie auch der Gesellschaft, gehören zur Lebenserfahrung, zum gesunden | |
Menschenverstand. | |
Ein offener gemeinsamer Kulturraum ist ein realisierbares politisches | |
Konzept, denn es richtet sich mit der geballten Kraft einer gelebten und | |
gefeierten Kreativität gegen all jene, die Kultur per se verachten, die | |
Identitären und Neutribalisten, seien es islamistische oder | |
deutschnationale Fanatiker. | |
31 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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