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# taz.de -- Debatte Nationalismus der CDU/CSU: Das Phantasma der Leitkultur
> Die Debatte um nationale Identität in der Union zeugt von einem simplen
> Kulturverständnis. Gemeinsame Werte lassen sich nicht von oben diktieren.
Bild: Manche in der CSU fordern auch eine Deutsch-Pflicht in Wohnzimmern
Unter Führungskräften, beispielsweise in der Wirtschaft, ist es angesagt,
Organisationsmitgliedern Leitkulturen zu verordnen. Es werden wohlklingende
Leitbilder verabschiedet, in der Hoffnung, das Handeln in der Organisation
möge sich an ihnen ausrichten. In Workshops werden die Mitarbeiter
aufgefordert, über das von der Organisationsspitze verabschiedete Leitbild
zu reflektieren und das Handeln darauf einzustellen.
[1][Das neueste Papier der bayerischen CSU und der sächsischen CDU] zu
einer „Leit- und Rahmenkultur“ zeigt, dass in Teilen der Politik die
Hoffnung herrscht, man könne nicht nur Organisationsmitgliedern ein
Leitbild auferlegen, sondern auch Bürger in ihren Handlungen über ein
solches Leitbild beeinflussen.
Das Papier ist sicherlich vorrangig der Versuch, mit Formeln wie
„liebgewonnener Heimat“ oder „gelebtem Patriotismus“, mit der Lobpreisu…
der „schwarz-rot-goldenen Fahne“ und der „Hymne mit ihrem Aufruf zu
Einigkeit und Recht und Freiheit“ Wähler von der AfD zurückzugewinnen.
Es zeugt aber doch von einem allzu simplen Verständnis davon, wie sich
Kulturen ausbilden und verändern. Vielleicht hätte es nicht geschadet, wenn
die Verantwortlichen von CDU und CSU zuvor einen Seitenblick auf die vielen
gescheiterten Leitbildkampagnen und Kulturprogramme in Unternehmen und
Verwaltungen geworfen hätten.
## Demokratie heißt Multikulti
Das Besondere an Kulturen ist, dass sie nicht durch Verkündigung gebildet
werden, sondern wie von selbst entstehen. Wie Mitarbeiter in Organisationen
zusammenarbeiten, wie mit Kunden und wie mit Konflikten umgegangen wird,
das pendelt sich im alltäglichen Leben in der Organisation aus und nicht
dadurch, dass Organisationsspitzen Leitkulturen verkünden. Und genauso
bilden sich auch die von den CSU- und CDU-Politikern geforderte Nutzung von
„Deutsch als Sprache“, das „abendländische Wertefundament“, die „Kul…
Tradition“, die „vertrauten Umgangsformen“, der „Stolz“ auf die Gesch…
im alltäglichen Zusammenleben aus – und eben nicht durch die Verabschiedung
von Leitkulturpapieren.
Forschungen über Organisationskulturen zeigen, dass so etwas wie eine
einheitliche Leitkultur als „Kraftquelle“ nur in der Fantasie von
Organisationsspitzen existiert. Genauso wie sich in Organisationen sehr
unterschiedliche Abteilungs- und Berufsgruppenkulturen ausbilden, gibt es
auch in demokratischen Staaten sehr unterschiedliche Kulturen, die häufig
nur wenig miteinander zu tun haben. Die Kultur einer katholisch geprägten
Kirchengemeinde ist eine andere als die einer autonomen Hausbesetzerszene,
die Kultur einer in Deutschland lebenden libanesischen Großfamilie ist eine
andere als die Kultur einer rechtsextremen Jugendgang.
Man mag „Multikulti“ gut oder schlecht finden – faktisch kommt es in
Demokratien fast zwangsläufig zur Ausbildung sehr unterschiedlicher
Kulturen.
## Falsche Rezepte
Wenn eine Organisation ihre Leitkultur allzu ernst nimmt und erwartet, dass
ihre Mitglieder sich eins zu eins daran halten, tut man gut daran, das
Weite zu suchen. Dergleichen findet sich etwa in der Scientology-Kirche, in
marxistischen Gruppen oder evangelikalen Gemeinden. In solchen Gruppen ist
der wohlformulierte Wertekatolog tatsächlich handlungsleitendes Programm.
Die Dianetik von Ron Hubbard, die Marx-Engels-Werke oder die Bibel sind
hier nicht grober Orientierungsrahmen, sondern Rezept zur Anleitung
einzelner Handlungen, die Tag für Tag genau so durchzuführen sind.
Ob Organisationen oder Staaten sich zu totalitären Systemen entwickeln,
hängt weniger von den Inhalten ihrer Leitkulturen ab – ob diese „gut“
(demokratisch, menschlich, tolerant) oder „schlecht“ (undemokratisch,
unmenschlich, intolerant) sind –, sondern ob es den Spitzen einer
Organisation gelingt, das tägliche Handeln von Menschen einer von ihnen
kontrollierten Leitkultur zu unterwerfen.
Aber man braucht sich keine Sorgen zu machen: Das Papier der CDU und CSU
wird nicht ansatzweise solche totalitären Effekte haben. In Unternehmen,
Verwaltungen und Schulen kann man beobachten, dass die meisten
Kulturprogramme weitgehend effektlos verpuffen. Bestenfalls lösen sie in
der Phase der Erarbeitung eines Leitkulturpapiers interessante Diskussionen
aus, schlimmstenfalls führen sie zu Zynismus bei den Mitarbeitern, die die
Diskrepanz zwischen den hübsch klingenden Leitbildern und der von ihnen
wahrgenommenen Realität nicht ertragen können.
## „Kulturkitt“ aus Leitsätzen
Die Produktion von Leitkulturpapieren ist in vielen Fällen erst einmal ein
Hinweis auf grundlegende Probleme derjenigen, die sie verkünden. In
Unternehmen kann man beobachten, dass Kulturprogramme immer dann angestoßen
werden, wenn die von Beratungsfirmen angestoßenen Strukturreformen zu
organisationsinternen Verwerfungen führen.
Die Hoffnung ist dann, die meist ungewollten und nicht antizipierten
Nebenfolgen der Reformen durch einen „Kulturkitt“ aus Führungsleitsätzen
oder Kooperationsleitlinien abzumildern. Ähnlich ist auch die in CDU und
CSU regelmäßig alle zehn Jahre initiierte Diskussion über Leitkultur
Ausdruck eines Versagens dabei, Veränderungen in der Gesellschaft durch gut
gemachte Gesetze oder kluges Verwaltungshandeln aufzufangen.
Statt Leitkulturen zu verkünden, sollten Organisationsspitzen ihre Energie
auf den Bereich dessen verwenden, was sie faktisch beeinflussen können.
Unternehmensführungen sollten sich darauf konzentrieren, die formalen
Kommunikationswege, Programme und Personaltableaus so auszurichten, dass es
nicht zu allzu großen Verwerfungen kommt.
Ebenso wäre viel gewonnen, wenn – Stichwort PKW-Maut – gerade christsoziale
Politiker ihre Aufgabe vorrangig darin sehen würden, Gesetze zu
verabschieden, die nicht von Verfassungsgerichten wegen handwerklicher
Fehler wieder kassiert werden. Wenn ihnen das gelingt, dann können sie sich
getrost darauf verlassen, dass Menschen im alltäglichen Zusammenleben und
Zusammenarbeiten schon einigermaßen tragfähige Kulturen ausbilden.
15 Oct 2016
## LINKS
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## AUTOREN
Stefan Kühl
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