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# taz.de -- Claus Leggewie zur Krise der EU: „Wir Europäer sollten aufwachen…
> Claus Leggewie über soziale Probleme des Kontinents, Ähnlichkeiten
> rechter und islamistischer Ideologie und Maßnahmen gegen das Gefühl des
> Abgehängtseins.
Bild: „Ich will verhindern, dass Merkmale wie Hautfarbe absolut werden“, sa…
taz: Herr Leggewie, Europa scheint darniederzuliegen: Die Briten sind
ausgetreten, die restlichen Staaten sind in der Flüchtlingsfrage entzweit.
Wie wäre es, wenn wir dieses Gespräch mit einem Manifest zur Schönheit des
europäischen Gedankens beginnen?
Claus Leggewie: Das wäre genau das, was wir im Moment brauchen. So wichtig
es ist, sich mit den Manifesten der Anti-Europäer zu beschäftigen, so
wichtig ist es auch, von ihnen wieder abzusehen und eine alternative
Erzählung von Europa zu präsentieren, die – wie man so schön sagt – die
Menschen draußen im Land begeistert und ihnen eine Perspektive gibt.
Wozu?
Damit wir wegkommen vom Duktus, der im Moment allgegenwärtig ist, Europa
sei in Gefahr und gehe unter. Oder wie die Rechten sagen: Europa sei
dekadent. Wir brauchen eine Erzählung, die mitreißt und in der Lebenswelt
der Europäer anschlussfähig ist.
Wie sähe so eine gelungene europäische Erzählung aus?
Eine Erzählung davon, wie wir in den nächsten beiden Jahrzehnten ein
nachhaltiges Europa schaffen, aber auch eines, das sozial gerechter ist,
das öffentliche Räume erhält und schafft, das lebenspraktisch klarmacht,
welche Vorzüge europäische Urbanität besitzt, wie eine Kultur des
Pluralismus aussieht. Vieles von dem existiert ja längst. Aber wir müssen
präziser beschreiben, was wir an Europa gut finden, es ausmalen, so dass
das Bild zukunftsfest und für künftige Generationen anziehend ist. Da ist
besonders die mittlere Generation gefragt, die im Beruf, im Alltag, im
sozialen Engagement Europa sozusagen täglich lebt und baut, dies aber zu
wenig nach außen deutlich macht.
Das scheint im Moment sehr schwer. Wer die Aufnahme von Flüchtlingen gut
findet, muss sich rechtfertigen. Wer humanitär agieren und Menschen in Not
helfen will, gerät in die Defensive. Es ist die Rechte, die den Diskurs
bestimmt.
Das muss aber nicht sein. Das Flüchtlingsthema beherrscht den medialen
Diskus und die Fantasien vieler Europäer, aber es gibt ebenso wichtige und
wichtigere Themen, die deren Integration und den Wunsch, unseren
kulturellen Pluralismus auszubuchstabieren, enthalten. Eine attraktive
europäische Agenda gibt auch Antworten auf die offenen Integrationsfragen,
die Alteingesessene nicht minder betreffen.
Aber wie bekommt man xenophobe Gefühle in den Griff? Die existieren ja in
Ungarn, Tschechien, Polen und auch in Deutschland und Frankreich.
Wenn ich das Patentrezept wüsste, wäre ich Chef der EU-Kommission. Es
steckt ja ein Körnchen Wahrheit darin: Die Menschen realisieren, dass
Globalisierung keine Einbahnstraße war. Aber Ängste widerlegen zu wollen,
in dem man die Flüchtlingsproblematik als Thema Nummer eins bestätigt,
bringt uns nicht weiter.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen deutlich machen, dass die Flüchtlinge für die europäische Rechte
bloß ein Vorwand sind, um ein Gefühl des Abgehängtseins, des Verlusts einer
weißen Dominanz, zu artikulieren.
Man sollte also über soziale Fragen und weniger über Hautfarben und die
daraus resultierenden Identitäten sprechen?
Genau. Weil auch Alteingesessene keine Wohnung und keine vernünftige Arbeit
finden.
Wenn sie in Deutschland leben und eine dunkle Hautfarbe haben, wird es
schwierig darüber nicht zu sprechen. Rassismus ist nun mal da. Schlagen Sie
vor, ihn zu ignorieren?
I wo. Es gibt spezielle Probleme von Flüchtlingen auf dem Wohnungsmarkt,
Menschen mit nicht weißer Hautfarbe werden diskriminiert. Gleichzeitig
müssen wir diese Probleme im Kontext der sozialen Ungleichheit betrachten.
In diesem Fall: der Knappheit auf dem Wohnungsmarkt. Ich will nur
verhindern, dass Merkmale wie Hautfarbe oder ein religiöses Bekenntnis –
zum Beispiel der muslimische Glaube – absolut werden und sich dadurch
soziologisch überhaupt nicht mehr auf etwas anderes beziehen lassen.
In ihrem Buch „Anti-Europäer“ ziehen Sie das Manifest von Anders Breivik,
dem rechtsextremistischen, islamfeindlichen norwegischen Terroristen und
Massenmörder, heran und zeigen die Parallelen zur neuen Rechten. Ist das
als Polemik gemeint? Wollen Sie sagen: Selbst dieses irre Hirn denkt so wie
ihr?
Vergleichen heißt nicht gleichsetzen. Wenn Sie das Manifest Breiviks genau
lesen, geht es erst im zweiten Teil um die Logistik des Terroranschlags.
Der erste Teil ist der Originaltext des Islamophoben. Was er da schreibt,
hören Sie heute in ganz Europa in identitären Kreisen. Damit unterstelle
ich nicht, dass alle Identitären Terroristen sind. Aber die Fantasie der
„Umvolkung“, daraus folgend der gewaltsamen Säuberung und Exklusion, die
stellen Sie nicht nur bei Breivik, sondern im gesamten
rechtsintellektuellen Spektrum fest. Und natürlich bei den Straßenprotesten
von Pegida, den Aufmärschen vor Flüchtlingsheimen.
Schauen Sie manchmal auf Europa und denken sich: Sind die Rechten bekloppt,
hier von Reinheit zu fantasieren? Kein Kontinent ist so heterogen.
Das Umschwenken von Klassenfragen und von sozialpolitischen Fragen hin zu
Identitätsfragen, wie sie in den 60er Jahren auch die sozialen Bewegungen
betrieben haben, also der Wechsel von Klassenanalyse und Klassenkampf zu
„race-class-gender“, fällt uns jetzt auf die Füße. Der amerikanische
Philosoph Richard Rorty warnte schon in den Neunziger Jahren vor dem
Identitätszirkus im akademisch-amerikanischen Raum und der damit
verbundenen politischen Korrektheit.
Was meinen Sie konkret?
Nehmen wir das Beispiel der Einwanderer: Erst waren sie „ausländische
Arbeitnehmer“, es ging also um soziale Aspekte, dann waren sie „Türken /
Kurden“, sie wurden also über ihre Nationalität oder Ethnizität definiert.
Heute sind sie „Muslime“, werden also religiös definiert. Auf diese Weise
werden eine in sich schon vielseitige Ich-Identität und ein gelegentlich
auftretendes Gemeinschaftsgefühl zum starren Wir-Gefühl stilisiert: „Wir“
gegen „die“, zum Beispiel: „Patrioten gegen die Islamisierung des
Abendlandes“. So, als wäre man nichts sonst als Christ und als wären
Muslime mit allen Herkunftsbrüdern und Glaubensschwestern unverbrüchlich im
Bunde.
Neben Breivik ziehen Sie Putin-Berater Alexander Dugin heran, der sich als
„Eurasier“ versteht. Und Dschihadisten wie der Syrer Abu Musab al-Suri. Wo
liegen da die Gemeinsamkeiten?
Die ersten beiden beziehen sich auf eine Strömung der „Konservativen
Revolution“, die es in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab.
Als Liberalismus und das demokratische Gemeinwesen ebenso stark in der
Kritik standen und eine intellektuelle Brücke zum Faschismus und zum
Nationalsozialismus gebaut wurde. Bei allen dreien spielt der Raum in der
Politik eine große Rolle. Das Gemeinwesen wird nicht über die Verfassung,
über Rechtstaatlichkeit oder demokratische Partizipation konstruiert,
sondern über Raumordnung. Dahinter steckt der Gedanke, dass die
geografische Lage das politische System bestimmt. Deshalb: christliches
Abendland, islamisches Kalifat, eurasische Autokratie. Ebenso gemeinsam ist
allen drei Strömungen die Resakralisierung von Politik.
Was ist damit gemeint?
Alle drei lehnen die Trennung von Religion und Politik ab. Die Eurasier
zielen auf eine Stärkung der Orthodoxie, die Dschihadisten wollen einen von
der Scharia geleiteten Gottesstaat und die Abendländler eine christliche
Leitkultur. Die dritte Gemeinsamkeit ist schließlich der Kampf gegen einen
kulturellen Pluralismus, von dem ich vorher sprach.
Sie schreiben an einer Stelle: Würde man die drei Protagonisten in eine
Gefängniszelle sperren, sie würden sich gegenseitig an die Gurgel gehen.
Das wäre gar nicht so schlecht.
Das Problem ist nur, dass sie in nächtlichen Gesprächen – falls sie sich
nicht umgebracht haben – ihre fatalen Gemeinsamkeiten entdecken würden. Das
ist schon einem der christlichen Rechten in den Vereinigten Staaten
gelungen. Sie haben religiös-zionistische Kreise für sich gewinnen können,
aber auch sozialkonservative Muslime. Was sie vereint, ist die Ablehnung
des westlichen Liberalismus. Und hier sehen wir das vierte Bataillon von
Anti-Europäern. Wobei Trump nicht den religiösen Diskurs bedient, sondern
ebenfalls einen autoritären Nationalismus, und damit europäischen
Autokraten wie Le Pen, Orbán oder Putin sehr nahe kommt. Wir Europäer
sollten langsam aufwachen und uns nicht spalten lassen und die Feinde
Europas in ihre Schranken weisen.
4 Oct 2016
## AUTOREN
Ingo Arzt
Jan Feddersen
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