# taz.de -- Essay Europa nach dem Brexit: Die Wende zum Guten | |
> Nach dem Brexit-Schock: Jetzt ist die Zeit für einen Neuanfang in der | |
> Europäischen Union, sagt die Politologin Gesine Schwan. Aber wie? | |
Bild: Und jetzt noch etwas mehr Bürgernähe! Die Außenminister der EU-Gründe… | |
Was mit dem Brexit-Votum passieren wird, ist heute unklarer, als wir vor | |
ein paar Tagen noch dachten. Denn das Referendum ist rechtlich nicht | |
bindend, nur politisch. Es kann gut sein, dass sich die Stimmung in | |
Großbritannien drastisch ändert, wenn klar wird, was ein Brexit an | |
Schwierigkeiten für Großbritannien mit sich bringt. Und in drei Monaten | |
sieht die Welt noch mal anders aus. | |
Für die Zukunft der EU kann das aber auf keinen Fall bedeuten: Weiter so! | |
Dass viele in Europa vom Brexit überrascht waren, mag daran liegen, dass | |
sie sich nicht vorstellen können, wie die EU wirklich auseinanderbrechen | |
sollte. Das ist einerseits gut, weil es von einem Grundvertrauen in die | |
Union zeugt, das wir brauchen, wenn wir zusammenbleiben wollen. Gleichwohl | |
kann das unsere Sensibilität für die Gefahren und unsere Bereitschaft für | |
einen Neuanfang dramatisch schwächen. | |
Dazu passt, dass man in den letzten Monaten viele offizielle EU-Vertreter | |
hören konnte, die die Europaskepsis im Wesentlichen auf falsche öffentliche | |
Wahrnehmungen zurückführten – und auf mangelhafte Übermittlung der Vorteile | |
der Union. Andere machten die engstirnige Kommunikation durch die | |
nationalstaatlichen Exekutiven verantwortlich, die seit der Finanzkrise | |
weitgehend das Sagen haben und alle Unbill in ihren Ländern auf die EU | |
schieben. | |
Diese EU-Vertreter haben ja nicht unrecht. Und doch zeugen sie damit von | |
Betriebsblindheit. Denn im Brüsseler Alltag, aber auch bei den nationalen | |
Regierungen, konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die in den gewohnten | |
Bahnen verhandelte, zunehmend durch die deutsche Regierung eher erpresste | |
Politik. | |
## Das lähmt die Fantasie | |
So entwickelt sich eine Professionalisierung, die gegen Bürgereinwände | |
immunisiert. Sie lähmt Empathie für die sozial Schwachen ebenso wie | |
Einbildungskraft und Fantasie für eine attraktivere, bürgernahe Europäische | |
Union. | |
Man ist nicht mehr gewohnt, ganz andere Perspektiven wahrzunehmen und | |
Anliegen, die man nicht teilt, als berechtigt oder zumindest verständlich | |
anzuerkennen. Das ist fatal, weil auf diese Weise ein negativer Zirkel | |
gegenseitiger Missverständnisse und Vorwürfe in Gang gekommen ist, der die | |
Hoffnung auf einen positiven Ausweg unterminiert. Damit geht auch der | |
Glaube an eine Verständigungsfähigkeit in Europa verloren. | |
Wie soll es weitergehen? Wo könnte ein Ausweg liegen? Die einen meinen nun, | |
man müsse wieder mehr Macht an die Nationalstaaten zurückgeben, | |
jedenfalls die Integration nicht weiter vorantreiben. Dabei fürchten sie, | |
dass Integration zugunsten von Brüssel geht und zulasten der | |
Nationalstaaten. Integrieren heißt hier, die Zentrale gegen die | |
Einzelstaaten stärken. | |
Oder man müsse ein Kerneuropa schaffen, wie Wolfgang Schäuble und Karl | |
Lamers dies zu Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts | |
vorgeschlagen haben. Sie wollten damit eine deutsche Dominanz verhindern. | |
Eben die ist inzwischen aber eingetreten, und innerhalb eines Kerneuropas | |
wäre das Gewicht Deutschlands noch größer als unter 27 Nachbarn. | |
## Nicht mehr so abgehoben | |
Die Alternative hieße, weiter integrieren – aber so, dass die Bürger dies | |
zu ihren Gunsten spüren können, dass sich die politischen Entscheidungen | |
nicht noch weiter von ihnen entfernen. Dazu müssen wir die subjektiv | |
wahrgenommene Abgehobenheit von Brüssel und das verfassungsmäßige | |
Nullsummenspiel zwischen den Nationalstaaten und der EU-Ebene überwinden. | |
Das kann gelingen, wenn wir in das Verhältnis zwischen Brüssel und den | |
Nationalstaaten stärker die Kommunen einbeziehen. Und wir sollten die | |
Gewichte zwischen diesen drei Ebenen neu austarieren. So könnten wir mit | |
Hilfe der (organisierten) Zivilgesellschaft eine Bürgerbeteiligung | |
organisieren, die den Bürgerinnen und Bürgern mehr demokratisch | |
konstituierte Mitentscheidungen ermöglicht und durch Partizipation zu einer | |
neuen Identifikation mit der EU führt. | |
Ein Beispiel ist die gegenwärtig völlig desorientierte europäische | |
Flüchtlingspolitik, die unsere rhetorisch proklamierten Werte mit Füßen | |
tritt, wie der Papst und der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats, wie | |
Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen (die deshalb auf 50 Millionen | |
Euro von der Kommission verzichten wollen) und Pro Asyl öffentlich mahnen: | |
Wir könnten mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen – wenn die deutsche | |
Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble | |
endlich ihren Widerstand gegen die Haftung für europäische Investitions- | |
oder Entwicklungsanleihen aufgäbe. | |
Mit einem von der Kommission aufgelegten und von den Nationalstaaten zu | |
billigenden Fonds könnten wir eine humanitäre und durch Regeln gesteuerte | |
freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen in ganz Europa und zugleich eine | |
Wende hin zu einer europäischen Investitions- und Wachstumspolitik | |
schaffen. Sie ginge von den Bedürfnissen der Kommunen aus und machte sie zu | |
wichtigen Akteuren in dieser Wende zum Guten. | |
## Geld für die Kommunen | |
Damit könnten endlich erste Schritte zur Überwindung der Arbeitslosigkeit | |
in den von der deutschen Austeritätspolitik gebeutelten Staaten getan und | |
eine neue Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der EU geschaffen | |
werden. | |
Kommunen, die willens sind, Flüchtlinge aufzunehmen, und sich intern mit | |
Unternehmen, Gewerkschaften und NGOs darüber und über weitere Schritte der | |
Integration, der Schaffung von Arbeitsplätzen et cetera verständigen, | |
könnten sich bei dem Fonds um die Finanzierung der dafür erforderlichen | |
Maßnahmen und Infrastruktur bewerben. Auf diese Weise könnten sie zunächst | |
für die „eingesessene“ Bevölkerung Arbeitsplätze schaffen. Mit einem | |
obligatorischen Antikorruptionselement! | |
Hier würde eine eigenständige Willensbildung und Entscheidung auf | |
Bürgerebene ermöglicht, die von der Europäischen Union finanziert würde und | |
einer gesamteuropäischen Aufgabe – der humanen Aufnahme von Flüchtlingen – | |
diente. | |
Gegen die Renaissance nationalistischer Vorurteile würden wir schnell | |
merken, dass die politische Landkarte sich ändert: Auch Kommunen in Polen | |
würden sich zum Beispiel bewerben. Breslau, Danzig und Warschau haben dies | |
schon signalisiert. Warum soll nur Deutschlands Wirtschaft (0,3 Prozent | |
zusätzliches Wachstum 2015 DURCH FLÜCHTLINGE) davon profitieren, dass hier | |
Flüchtlinge aufgenommen worden sind? | |
Insgesamt könnte die Europäische Investitionsbank mehr auf „Social Impact | |
Investments“ zugunsten von Kommunen und Regionen setzen, anstatt die | |
nationalen Investitionslisten nach dem Kriterium abzuarbeiten, wo es mit | |
dem geringsten bürokratischen Aufwand am schnellsten die beste Rendite | |
gibt. | |
## Eine sozialere EU | |
Diese neue politische Ausrichtung sollte im Kontext einer sozialeren | |
Ausgestaltung der EU geschehen, zum Beispiel mit einer europäischen | |
Arbeitslosenversicherung. Eine entsprechende Ausweitung des „Europäischen | |
Semesters“, also der wirtschaftspolitischen Steuerung auf EU-Ebene, ist von | |
Abgeordneten der Sozialisten und Demokraten im EU-Parlament schon | |
vorgeschlagen worden. | |
Das würde die EU „volkswirtschaftlich“ stabilisieren, einen Länderausglei… | |
schaffen und der Union den Charakter nehmen, eine besonders unerbittliche | |
Inkarnation der neoliberalen Globalisierung zu sein. | |
Entscheidend ist, dass jetzt auf der kommunalen Ebene etwas geschieht, | |
damit die Bürger Europa positiv in ihrem Alltag spüren können. Wir brauchen | |
eine Europäische Union zum Anfassen. | |
28 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Gesine Schwan | |
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