| # taz.de -- Essay Brexit als Staatsversagen: Unbehagen am Lebensraum Europa | |
| > Die EU als Elitenprojekt, Labour-Klüngel, ruinierte Gemeinden: Der Brexit | |
| > hat viele Väter. Wer nur nach Schuldigen sucht, wird nicht schlauer. | |
| Bild: Die Klippen von Dover: Gegenüber beginnt der Abstieg | |
| Warum hat sich bei der britischen Volksabstimmung vom 23. Juni eine | |
| Mehrheit für den Brexit ausgesprochen? Dafür haben sich einige einfache | |
| Erklärungen durchgesetzt. Einer Sichtweise zufolge hat sich die gebeutelte, | |
| abgehängte Arbeiterklasse von den Lockrufen des Rechtspopulismus in die | |
| Irre führen lassen. Anderen Analysen zufolge verbaute die alte Generation | |
| aus purem Egoismus der Jugend die europäische Zukunft. Beide | |
| Erklärungsversuche konzentrieren sich eher auf die Suche nach Schuldigen | |
| als auf das Erkennen von Ursachen. | |
| Viele britische EU-Befürworter erklären den Brexit zum Sieg der Unvernunft. | |
| Sie gehen davon aus, dass jeder vernünftige Mensch die EU gut finden müsse. | |
| Aber diese Sicht ist eben in Großbritannien kein Konsens. Die EU als | |
| Organisation ist nicht das gleiche wie Europa als Lebensraum. | |
| Die Annäherung Großbritanniens an den Lebensraum Europa wurde durch zwei | |
| neoliberale Politikentscheidungen möglich. Als Margaret Thatcher 1979 | |
| Premierministerin wurde, schaffte sie die seit dem Zweiten Weltkrieg | |
| bestehenden Kapitalbeschränkungen ab, gemäß denen Briten höchstens 50 Pfund | |
| (nach heutiger Kaufkraft 500 Euro) außer Landes mitnehmen durften – eine | |
| heute kaum mehr vorstellbare staatliche Gängelung. Viel später kam es, | |
| gefördert durch die EU-Deregulierung des Luftverkehrs, zur Blüte der | |
| Billigfluglinien, was auch der breiten Masse Auslandsreisen möglich machte. | |
| Ohne diese beiden Maßnahmen aus dem klassischen Katalog des Neoliberalismus | |
| wäre Europa nie in den Lebenshorizont der britischen Bevölkerung gerückt. | |
| Großbritanniens Beitritt zur Europäischen Union – damals Europäische | |
| Wirtschaftsgemeinschaft – im Jahre 1973 war hingegen ein technokratischer | |
| Akt. Das Projekt EU im Sinne einer Heilsgeschichte, an deren Ende alle | |
| Europäer unter einer unfehlbaren überstaatlichen Autorität als Brüder und | |
| Schwestern vereint sind, versteht auf der Insel kein Mensch. Der Beitritt | |
| war eine interessengeleitete politische Entscheidung, und eine andere | |
| Interessenlage kann zu einer anderen Entscheidung führen. Jetzt fragen sich | |
| die Briten, wozu sie die EU brauchen – und die Antwort darauf fällt nicht | |
| leicht. | |
| In den 1970er Jahren war Großbritannien der „kranke Mann Europas“, gefangen | |
| in Wirtschaftskrise und tiefen Selbstzweifeln. Wer damals über den Kanal | |
| nach London reiste, kam aus selbstbewussten europäischen Wirtschaftsmächten | |
| in ein ermattetes Land, in dem sich rumpelnde Vorortzüge durch triste, | |
| rußgeschwärzte Vorstadtsiedlungen quälten und wo alle imperiale Pracht | |
| ihren Sinn verloren hatte. | |
| Heute ist es umgekehrt. Nicht in England, sondern in Belgien führt die | |
| Zugfahrt durch Geisterlandschaften mit halb abgerissenen Altbauten, | |
| zusammenhanglos vermischt mit Glas- und Betonmonstern; eine verwüstete | |
| Stadt Brüssel als Spiegelbild des zerbrochenen belgischen Staates. Vor dem | |
| Bahnhofseingang Bruxelles-Midi stehen Panzerfahrzeuge, Soldaten mit | |
| Maschinenpistolen im Anschlag bewachen die Bahnhofshalle. Am anderen Ende | |
| angekommen, in London, bestaunt man die gelungene Verjüngung einer einst | |
| schmuddeligen Innenstadt. Das Zentrum saniert, dynamischer und lebendiger | |
| als früher, ist die britische Hauptstadt ein unbändiger Moloch in | |
| permanenter Erneuerung, geradezu fieberhaft auf der Suche nach einem neuen | |
| Stadtbild, das der Wucht seiner global vernetzten Ökonomie entspricht. | |
| ## Zeitlose, behagliche Landschaft | |
| Wer es gemütlicher haben will und die Insel wie in alten Zeiten von | |
| Frankreich aus über den Ärmelkanal erreicht, erlebt noch krassere | |
| Kontraste. Auf der einen Seite Calais: eine in Lethargie und Angst | |
| eingeigelte Hafenstadt mit 50 Prozent Front-National-Wählern, in der | |
| afrikanische Flüchtlinge wie Straßenköter gejagt werden und wo sich | |
| hochgerüstete Polizei im Frontkrieg gegen die Dritte Welt zu wähnen | |
| scheint. Auf der anderen Seite, oberhalb der berühmten weißen Kreidefelsen | |
| von Dover, das grüne Südengland mit vor Wohlstand strotzenden Dörfern in | |
| einer zeitlosen, behaglichen Landschaft, die in sich zu ruhen scheint. | |
| Wer heute aus Südengland über den Ärmelkanal blickt, sieht ein Europa im | |
| Abstieg, von dem man sich lieber fernhalten möchte. Dass die Wähler in Kent | |
| zu 59 Prozent gegen die EU gestimmt haben, ähnlich wie in weiten Teilen | |
| Südenglands, ist als eine Art Lega-Nord-Votum zur Abgrenzung von dem sich | |
| ausbreitenden Mezzogiorno jenseits des Ärmelkanals zu verstehen. Man fühlt | |
| sich wohl und will so bleiben. Krise – das ist anderswo. | |
| Nur die Reichsten haben sich hier mehrheitlich für die EU entschieden: | |
| Schließlich liefert ihnen der Binnenmarkt beständigen Nachschub an | |
| günstigen polnischen Handwerkern und slowakischen Kindermädchen, die ja | |
| alle so viel zuverlässiger sind als das eigene ungeschliffene englische | |
| Proletariat, mit dem man so wenig zu tun haben will wie irgend möglich. | |
| Aber es stimmte eben auch dieses Proletariat für den Brexit, und zwar genau | |
| deshalb, weil es sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt sieht. | |
| ## Tummelplatz für die Elite | |
| Zu den Zeiten von Tony Blair war die Annäherung Großbritanniens an Europa | |
| ein Kulturkampf gegen die Unterschicht, geführt von New Labour gegen die | |
| eigene Wählerschaft: Croissants statt Kraftfrühstück, Wein statt Bier, | |
| Cafés statt Kneipen, Technokratie statt Demokratie. Europa wurde zum | |
| Synonym eines Tummelplatzes für eine elitäre Minderheit, die mehrere | |
| Sprachen spricht, Ferienhäuser in der Dordogne kauft und zum Shoppen gern | |
| mal nach Paris düst. Derweil wurden die eh schon ihrer Sicherheit beraubten | |
| Arbeiterschichten neuer Konkurrenz aus den osteuropäischen | |
| EU-Beitrittsländern ausgesetzt. | |
| Das war eine politische Entscheidung. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass | |
| Großbritannien seit Thatcher einzig vom Neoliberalismus geprägt worden sei. | |
| Durchgesetzt werden konnte dieser nur mittels einer rabiaten staatlichen | |
| Zentralisierung, durch die vollständige Aushöhlung der kommunalen | |
| Demokratie. | |
| Als die maroden Industrien Großbritanniens in den 1980er Jahren von der | |
| Politik fallen gelassen wurden und ganze Gemeinden ihre Lebensgrundlagen | |
| verloren, schwanden zugleich auf lokaler Ebene die Möglichkeiten, die | |
| betroffene Bevölkerung aufzufangen. Ganze Orte wurden zu Sozialfällen, ihre | |
| Kommunalverwaltungen Selbstbedienungsläden für zweitklassige | |
| Lokalpolitiker, die nicht gut genug für London waren. In den verwüsteten | |
| Industrieregionen verwalteten korrupte Labour-Klüngel ohne reelle Aufgabe | |
| abgestürzte Arbeitersiedlungen ohne Perspektive, beide Gefangene der Krise. | |
| Unter Labour wurde ab 1997 der öffentliche Dienst aufgebläht, aber nur | |
| wenig für ökonomische Regeneration getan. Unter den Konservativen, die 2010 | |
| an die Macht zurückfanden, gab es einen massiven Stellenabbau im | |
| staatlichen Bereich und viele neue Jobs in der Privatwirtschaft, aber ohne | |
| die alten Sicherheiten und den alten Gemeinschaftssinn. Nord- und | |
| Mittelenglands Metropolen wie Manchester und Leeds, Sheffield und | |
| Birmingham haben sich modernisiert, aber noch immer wirkt das Ergebnis, | |
| anders als im Süden des Landes, wie eine aufgesetzte Fassade auf nicht | |
| instand gesetzten Grundbauten. Das ist in diesen Landesteilen der Nährboden | |
| des Brexit, gekoppelt mit einer existenziellen Krise der Labour-Partei, die | |
| heute eher ein Relikt der Vergangenheit als ein Projekt für die Zukunft | |
| darstellt. | |
| Der Schlachtruf der Brexit-Kampagne, „Take Control“, war auch deshalb | |
| mehrheitsfähig, weil er weit über das Thema EU hinausgeht. Er entspricht | |
| einem verbreiteten Unbehagen daran, dass überall die Gestaltungskraft | |
| verloren gegangen ist. Schottlands Nationalismus ist das einzige Beispiel | |
| einer erfolgreichen Gegenbewegung dazu, wenngleich die Ergebnisse – ein | |
| noch zentralistischeres Staatsverständnis und dürftige Ergebnisse in der | |
| Wirtschafts- und Sozialpolitik – nicht wirklich überzeugen. Die | |
| Faszination, die von Schottland ausgeht, liegt im Aufblitzen neuer | |
| Möglichkeiten zu mehr Selbstbestimmung. Nun schreit das Referendumsergebnis | |
| geradezu danach, für ganz Großbritannien eine entsprechende politische | |
| Neuordnung zu organisieren. | |
| Noch wird die britische Krise nur herbeigeredet. Entschlossenes politisches | |
| Handeln wird nötig sein, damit sie nicht Wirklichkeit wird. Nicht nur | |
| Schottland, Wales, Nordirland und inzwischen auch London brauchen eine | |
| Vertretung an dem Tisch, der über Großbritanniens Zukunft berät, sondern | |
| auch die Brexit-Regionen, die sich bloß nicht darauf verlassen sollten, | |
| dass eine neue Regierung ihre Interessen wahrt. Sie haben jetzt nicht ihre | |
| Stimme erhoben, um sie gleich wieder zu verlieren. | |
| 3 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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