| # taz.de -- Wahlen mit 50-50-Ausgang in Europa: Die verdammte andere Hälfte | |
| > Nord gegen Süd, Alt gegen Jung, Oben gegen Unten: Wenn das Volk | |
| > entscheiden darf, ist man sich nur so halb einig. Was tun gegen diese | |
| > Spaltung? | |
| Bild: Immerhin nicht schwarz-weiß: Luftballons vor dem Referendum in Schottlan… | |
| Wer die Fast-Food-Kette Subway aufsucht, ist theoretisch einem | |
| Nervenzusammenburch nah: Bei der Zusammenstellung des Sandwiches gilt es | |
| zwischen vier Brotsorten, 13 Fleisch- und drei Käsesorten, sieben Saucen | |
| und allerlei Tralala-Belägen zu wählen. Davon abgesehen, dass man auch noch | |
| aussuchen muss, welche Länge das Brot haben und ob es getoastet sein | |
| soll, gebe es genau 1.113.840 Möglichkeiten, ein „Subway-Sandwich“ | |
| zusammenzustellen, so steht es geschrieben auf der Webseite des | |
| Unternehmens. Und auch, dass man 3052 Jahre lang jeden Tag zu Subway | |
| gehen müsse, um jede mögliche Kombination mal gegessen zu haben. Will | |
| das jemand? Offenbar schon, denn Subway ist mittlerweile die größte | |
| Fast-Food-Kette der Welt. Differenzierung und Komplexizität kommen | |
| offenbar gut an, wenn es um das schnelle Essen geht. | |
| Leider verhält es sich in der Politik genau anders herum, denn hier will | |
| man nur noch zwischen zwei Belägen entscheiden. Belegtes Brot, mit | |
| Schinken oder mit Ei? Anders ausgedrückt: Wenn das Volk entscheiden soll, | |
| dann gibt es nur ein Ja oder Nein. Fifty-Fifty, das ist die neue magische | |
| Formel. | |
| Der Brexit: 52 Prozent der Briten stimmten für den Austritt aus der | |
| Europäischen Union und hoffen nun auf eine strahlende Zukunft, 48 Prozent | |
| waren dagegen und haben jetzt Angst um das Fortkommen ihrer Nachfahren. | |
| Rein oder raus, zumindest bei dieser Frage leuchtet es einigermaßen ein, | |
| dass man sich eben für eine der beiden Varianten entscheiden muss – und | |
| doch verweisen die Zahlen auf einen Riss, der mitten durch die Gesellschaft | |
| Großbritanniens geht. | |
| Ein anderes Beispiel: Die Zustimmungwerte für Bundeskanzlerin Angela | |
| Merkel, der Jahre lang unangefochtenen Konsenskönigin der Deutschen. Seit | |
| der „Flüchtlingskrise“ sind ihre Zustimmungswerte ziemlich konstant bei 50 | |
| Prozent (zuletzt ermittelt von Infratest Dimap im Juni). Die Kanzlerin ist | |
| zum Touchstone geworden, zum Prüfstein einer Geisteshaltung, die nunmehr | |
| auf eine einzige Frage heruntergebrochen wird: Bist Du für oder gegen | |
| Flüchtlinge? Fifty-Fifty, auch hier. | |
| ## Der Riss geht quer durch | |
| Österreich: Aber so was von haarscharf wurde Alexander Van der Bellen | |
| Bundespräsident. Mit genau 50,3 Prozent schaffte er es in die Wiener | |
| Hofburg, der Rechtspopulist Norbert Hofer hatte gerade so das Nachsehen. | |
| Österreich hatte sich zu entscheiden zwischen Gut und Böse, grün oder blau, | |
| Fifty-Fifty, einmal mehr – auch wenn es unklar ist, ob es dabei bleibt. | |
| Kopf oder Zahl? Sekt oder Selters? Trump oder Clinton? Pest oder Cholera? | |
| Während die politisch-ökonomisch-soziale Lage ein bedrückendes Grau | |
| geworden ist, drängt das Wahlvolk im Moment der Entscheidung zu einem | |
| klaren Schwarz oder Weiß – was des einen Licht ist, ist des anderen | |
| Schatten. Und wieder der Riss: Nord gegen Süd, Alt gegen Jung, Oben gegen | |
| Unten. | |
| Wie kann eine Demokratie, die auf eine auf Kompromissen beruhende Mehrheit | |
| angewiesen ist, eine andauernde Fifty-Fifty-Spaltung überstehen? Und wie | |
| eine fragile Konstruktion wie die Europäische Union? Mit einem | |
| Fünfzig-Fünfzig-Ergebnis ist am Ende niemandem gedient, zwei Parteien | |
| stehen einander gegenüber, die die jeweilige Legitimität des knappen | |
| Ergebnisses keineswegs anzuerkennen bereit sind. Kann man wirklich | |
| behaupten, dass Großbritannien sich darüber einig ist, die EU zu | |
| verlassen? Verkörpert Angela Merkel wirklich noch den deutschen Konsens? | |
| Herrscht in Österreich nun tatsächlich Zufriedenheit mit dem Ergebnis der | |
| Präsidentschaftswahlen? Auf einer Arschbacke sitzt es sich schlecht. | |
| Der Plebiszit entwickelt sich in der modernen, internet-gestützten | |
| Demokratie allmählich zu einem Alptraum. Das Volk stimmt über etwas ab, | |
| das es erst einmal googlen muss. Und bildet sich dann seine Meinung auf | |
| der digitalen Agora, die längst eher einer Arena mit wilden Tieren und | |
| Gladiatoren gleicht. | |
| ## Das eine Drittel | |
| Ja oder nein, „Like“ oder nicht „Like“, so ähnlich laufen Diskussionen | |
| (!!!!!!!!!!!) schließlich auch in den sozialen Medien. Gut finden bis der | |
| Arzt kommt oder so stark hassen, bis die Betroffenen „Herpes im Herzen | |
| haben“ (Margarete Stokowski). So Fifty-Fifty im Ganzen. | |
| Nun sind lange nicht alle Wahlberechtigten auf Facebook oder in anderen | |
| sozialen Medien akkreditiert – so wie nicht alle Wahlberechtigten zur Wahl | |
| gehen. Die Wahlbeteiligung beim Brexit: 72 Prozent. Die Wahlbeteiligung bei | |
| den österreichischen Präsidentschaftswahlen: 72,7 Prozent. Und bei der | |
| letzten Bundestagswahl: 71,5 Prozent. | |
| Zwei-Drittel-Entscheidungen sind der demokratische Idealzustand – und genau | |
| ein Drittel fehlt bei den entscheidenden Abstimmungen. Womöglich ist es | |
| genau dieses Drittel, das alles retten könnte. So wie zuletzt die Wiener | |
| Briefwähler einen rechtspopulistischen österreichischen Bundespräsidenten | |
| verhindern konnten. In letzter Sekunde. | |
| Was hat dieses Drittel getrieben, als es um den Brexit ging? Zu Hause | |
| geblieben, um Chaucer zu lesen? Nicht vor die Tür gegangen, weil es | |
| geregnet hat? Womöglich handelt es sich ja bei diesem mysteriösen Drittel | |
| um genau jene BürgerInnen, die in der Lage sind, zu differenzieren. Die | |
| wissen, dass eine Organisation wie die Europäische Union von Kompromissen | |
| lebt und der Nationalstaat alleine auch keine Lösung ist. Die wissen, das | |
| man bestimmte Dinge einfach aushalten muss und auch kann, selbst wenn sie | |
| einem auf die Nerven gehen – Minderheiten zum Beispiel. Intelligente | |
| Menschen, die keine Angst vor Veränderungen haben, nicht xeno- und homophob | |
| sind. Menschen, die nicht ohne weiteres blonden PolitikerInnen mit | |
| seltsamen Frisuren auf den Leim gehen (Donald Trump, Geert Wilders, Boris | |
| Johnson, Marine Le Pen). | |
| Wer nun die leise Befürchtung hegt, dass es sich bei diesem fehlenden | |
| Drittel auch um ganz andere BürgerInnen handeln könnte, hat womöglich | |
| Recht. Umso mehr aber wird deutlich, dass in Zukunft Entscheidungen, bei | |
| denen es um die Zukunft aller geht, nicht nur von der Hälfte entschieden | |
| werden dürfen. | |
| 1 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Reichert | |
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