# taz.de -- Vor dem Brexit-Referendum: Endspurt in einem gespaltenen Land | |
> Die Argumente sind ausgetauscht. Aber was überzeugt am Ende – die | |
> Wirtschaftspros der EU-Befürworter oder die Zuwanderungsängste der | |
> Gegner? | |
Bild: Gehen oder bleiben – viele Briten sind noch gespalten | |
LONDON taz | Die Argumente sind ausgetauscht, einer der längsten, | |
schrillsten und angespanntesten Wahlkämpfe der britischen Geschichte ist | |
vorbei. „Remain“ oder „Leave“, die EU verlassen oder drinbleiben: Am | |
Donnerstag fällt das britische Wahlvolk eine Entscheidung, die beide Seiten | |
als historisch bezeichnen. | |
Keiner Seite ist es im Endspurt des Brexit-Streits gelungen, den Diskurs zu | |
beherrschen – [1][das wurde auch bei der abschließenden TV-Debatte am | |
Dienstagabend deutlich], als je drei Wortführer der beiden Lager vor 6.000 | |
Zuschauern in der Londoner Wembley Arena aufeinander losgingen. Die | |
EU-Befürworter bezichtigten ihre Gegner der Lüge, die EU-Gegner konterten | |
mit dem Vorwurf der Angstmache. | |
„‚Leave‘ hat keine Antworten“, sagte Ruth Davidson, Führerin der | |
schottischen Konservativen, als Wortführerin von „Remain“ in ihrem | |
Schlusswort. „Wir hören auf die Experten. In der EU geht es euch besser“, | |
wandte sie sich an das Publikum. | |
„Ihr bietet Angst, wir bieten Hoffnung“, antwortete zu tosendem Applaus der | |
konservative Londoner Ex-Bürgermeister und Brexit-Wortführer Boris Johnson. | |
„Ihr sagt, wir können das nicht. Wir sagen, wir können es. Ihr unterschätzt | |
unser Land!“ | |
## Rechtlich ist es nicht bindend | |
Inhaltlich hat jedes Lager seine eigene Stärke, erläutert Ben Page, Leiter | |
des führenden Meinungsforschungsinstituts Ipsos-Mori: Die EU-Befürworter | |
setzen auf das Thema Wirtschaft und sagen, ein EU-Austritt führe zu | |
ökonomischer Unsicherheit und damit in eine Rezession. Die EU-Gegner setzen | |
auf das Thema Migration. Ein EU-Verbleib mache es unmöglich, den Zuzug aus | |
anderen EU-Staaten nach Großbritannien zu steuern. | |
Auf keines dieser beiden Argumente hat die jeweilige Gegenseite eine | |
überzeugende Antwort. Deswegen, so Page, wird der Ausgang der | |
Volksabstimmung davon abhängen, ob in den Köpfen der Menschen am Wahltag | |
eher Wirtschaft oder eher Zuwanderung das beherrschende Thema ist. | |
Wenn schon der Ausgang des Referendums völlig offen ist, gilt das erst | |
recht für die Frage nach seinen Folgen. Es wird leicht vergessen, dass ein | |
Brexit-Votum nicht die geringste automatische Konsequenz hätte – rechtlich | |
ist es nicht bindend. | |
Premierminister David Cameron, der vehement für den EU-Verbleib streitet, | |
hat aber immer wieder betont, er werde das Ergebnis respektieren. Er könnte | |
also nach einem Brexit-Votum gemäß Artikel 50 der EU-Verträge handeln und | |
dem EU-Rat die Austrittsabsicht seines Landes mitteilen – dann würde ein | |
vorerst auf zwei Jahre befristeter Verhandlungsprozess über die Modalitäten | |
des Austritts beginnen, der nur einstimmig verlängert werden kann. | |
## Alle EU-Regeln wären ungültig | |
Die Brexit-Befürworter sind gegen eine Anwendung von Artikel 50, weil sie | |
nicht Cameron, sondern dem britischen Parlament die Initiative überlassen | |
wollen. | |
Das Unterhaus, so sagen Brexit-Insider, könnte als Erstes das britische | |
EU-Gesetz aus dem Jahr 1972 aufheben, das die britische EU-Mitgliedschaft | |
regelt. Dann würden automatisch alle EU-Regeln ihre Gültigkeit in | |
Großbritannien verlieren, die nicht in eigenen britischen Gesetzen | |
niedergelegt sind. | |
In weiteren ersten Schritten könnte das Unterhaus die | |
Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger, die nach Großbritannien wollen, | |
aufheben. | |
Dass solche Schritte aus EU-Sicht Vertragsbruch wären, wäre in der Praxis | |
egal. Das größere Hindernis für dieses Szenario ist, dass es im Parlament | |
keine Brexit-Mehrheit gibt, Volksabstimmung hin oder her. | |
## Suche nach Cameron-Ersatz hat begonnen | |
Die Brexit-Befürworter müssten also den Premier stürzen und einen ihnen | |
genehmen Partei- und Regierungschef einsetzen, der die Abgeordneten auf | |
Linie bringt. Das erfordert einen parteiinternen Wahlkampf, der nicht vor | |
Herbst zu Ende gehen kann. | |
So oder so – sollten die Briten den Brexit beschließen, sind unmittelbare | |
Auswirkungen unwahrscheinlich. Deswegen laufen auch die „Remain“-Warnungen | |
vor sofortigen dramatischen negativen Konsequenzen etwas ins Leere, | |
jenseits von kurzlebigen Turbulenzen an den Finanzmärkten. Eher dürften die | |
„Leave“-Anhänger sich irgendwann wundern, warum nichts passiert. | |
Heftige politische Erschütterungen sind allerdings auch im Falle eines | |
„Remain“-Sieges zu erwarten. Das Referendum hat die regierenden | |
Konservativen tief gespalten, Cameron befindet sich mit großen Teilen der | |
eigenen Partei im Krieg. | |
Die Suche nach einem neuen Regierungschef, der nach Monaten der Spaltung | |
und Polarisierung für Konsens und Versöhnung steht, hat hinter den Kulissen | |
längst begonnen – und keiner derjenigen, die in diesen Tagen die | |
Schlagzeilen beherrschen, dürfte dafür in Frage kommen. | |
Durch die Brexit-Nacht führt am Donnerstag unser musikalischer Liveticker | |
unter [2][taz.de/brexit]. | |
22 Jun 2016 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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