| # taz.de -- Genealogie der Frauen: Von diesem Leben | |
| > Christina von Braun verknüpft in „Geschlecht“ biografisches Erzählen mit | |
| > sozialen Entwicklungen. In großem Bogen erzählt sie ihre Selbstwerdung. | |
| Bild: Christina von Braun hat den ersten Gender Studies-Studiengang in Deutschl… | |
| Der schlichte Titel „Geschlecht“ verweist auf zweierlei. Familiengeschlecht | |
| kann er bedeuten – das der Familie von Braun, die aus altem schlesischen | |
| Adel stammt. Und soziales und biologisches Geschlecht kann er bedeuten – | |
| ebenfalls naheliegend: Die Autorin ist Christina von Braun, feministische | |
| Schriftstellerin, Filmemacherin und Gründerin des ersten Studiengangs | |
| Gender Studies in Deutschland. Um beides, Familie und die Umwälzungen | |
| innerhalb der Geschlechterverhältnisse im 20. Jahrhundert, geht es in der | |
| Autobiografie, die von Braun nun vorgelegt hat. | |
| Allein von Brauns Familiengeschichte ist außergewöhnlich: Großvater Magnus | |
| von Braun leitet ab 1917 das erste zentrale Presseamt des Kaiserreichs, | |
| Onkel Wernher von Braun ist Raketeningenieur und kollaboriert mit den | |
| Nazis. Später arbeitet er bei der NASA und ist maßgeblich am Erfolg der | |
| Mondlandung beteiligt. Christina von Brauns Vater ist Spitzendiplomat in | |
| Rom und New York, später Protokollchef des Auswärtigen Amts in Bonn. | |
| „Den berühmten Männern meiner Familie wurden schon einige Bücher gewidmet�… | |
| schreibt Christina von Braun und beruft sich auf die Frauen, von denen auch | |
| einige geistige Erbschaften hinterlassen haben. Die sind zum Teil | |
| schriftlich notiert – wenn auch nicht wie bei den Männern in Form von | |
| Memoiren, sondern eher in Tagebüchern und Briefen. | |
| Die Großmutter Hildegard Margis etwa ist politisch aktiv in | |
| Frauenverbänden, sie stirbt im Widerstand. Auf sie beruft sich Christina | |
| von Braun: Um das feministische Vermächtnis geht es, persönlich wie | |
| gesellschaftlich. Denn im 20. Jahrhundert, schreibt von Braun, habe sich | |
| „eine geistige Genealogie der Frauen herausgebildet“. | |
| ## Verweben von Biografie und sozialen Entwicklungen | |
| Anders als etwa [1][Annie Ernaux, die in ihren persönlichen Erinnerungen | |
| forscht,] „um rückblickend die Prozesse ihrer Zeit zu erkennen“, verwebt | |
| von Braun eigenes biografisches Erzählen direkt mit sozialen Entwicklungen, | |
| „die weit über die Existenz einzelner Frauen hinausgehen“. | |
| Von Braun beschreibt ihr Leben als paradigmatisch für die elementaren | |
| Veränderungen, die ihre Generation von Frauen im kurzen 20. Jahrhundert | |
| erlebte und mitprägte: „Wenn ich meine Geschichte erzähle, berichte ich | |
| zugleich von anderen dieser Generation.“ | |
| Ja und nein, könnte man sagen. Repräsentativ nämlich ist von Brauns | |
| Familiengeschichte gerade nicht – vor allem nicht in Bezug auf Klasse, die | |
| eine merkwürdige Leerstelle in der Erzählung hinterlässt. | |
| Denn der Habitus, das Kosmopolitische ist von Braun in die Wiege gelegt: | |
| Sie wächst im Vatikan, in London und Sankt Peter-Ording auf, mit 18 geht | |
| sie zum Studium nach New York. Bald pendelt sie zwischen den USA und | |
| Deutschland, später lebt sie zwölf Jahre in Paris, bevor sie sich in Berlin | |
| niederlässt. | |
| ## Treffen mit Dalí und dem Papst | |
| Schon mit Anfang 20 bewegt sie sich mühelos in der New Yorker Upper Class: | |
| „Ich wurde in ein Geschehen geworfen, das aus Empfängen, Abendeinladungen | |
| und Bällen bestand.“ Lyndon B. Johnson trifft sie persönlich, [2][genau wie | |
| Dalí] und den Papst. Zwar hätten sie die Erfahrungen dieser Jahre „von | |
| diesem Leben“ kuriert, schreibt sie – doch mitgegeben hat es ihr zweifellos | |
| viel. | |
| Völlig selbstverständlich bewegt sich von Braun in einer politischen und | |
| intellektuellen Elite, ohne offenbar je daran zu zweifeln, diesen Platz | |
| auch ausfüllen zu können. Auch persönliche und berufliche Kontakte stellen | |
| sich scheinbar wie von selbst her. Ein Leben wie ihres steht wenigen | |
| Menschen offen – und es verwundert, dass sie das kaum reflektiert. | |
| Früh beginnt sie, journalistisch zu arbeiten. Die Themen, die sie sich | |
| erschließt, sind vielfältig und auch im Rückblick faszinierend, | |
| Ausgangspunkt für Recherchen sind oft eigene Erfahrungen – das Hungern | |
| etwa, mit dem sie als zeitweilige Internatsschülerin „eine Form von | |
| Selbstermächtigung“ erlebte und das sie später thematisierte, indem sie den | |
| Hungerstreik als kollektive politische Waffe etwa der Suffragetten | |
| untersuchte. | |
| Ab den 1970er Jahren stehen Geschlechterfragen im Zentrum ihrer Arbeiten, | |
| die bald vor allem aus Filmen bestehen. Mehr als 50 sind es heute, | |
| Dokumentationen, Porträts und filmische Essays auch über Kulturgeschichte, | |
| die französisch geprägte Psychoanalyse, Linguistik und | |
| Antisemitismusforschung. | |
| ## von Braun versteht sich nicht als Aktivistin | |
| In Frankreich wie in Deutschland hält sie Kontakt zur feministischen | |
| künstlerischen Avantgarde und Bewegung, ein kleiner Seitenhieb auf Alice | |
| Schwarzer fehlt nicht: „Alle waren erleichtert, nicht mehr mit (ihr) zu tun | |
| zu haben.“ Als Aktivistin jedoch versteht sich von Braun nie – vielmehr als | |
| Forscherin, die verstehen will, „wie es überhaupt zu dieser | |
| Geschlechterordnung gekommen war und warum sie dabei war, sich aufzulösen“. | |
| Denn das ist, was von Braun, die seit Ende der 80er Jahre an | |
| internationalen Universitäten lehrt und 1997 die Gender Studies an der | |
| Berliner Humboldt-Universität eröffnet, in einem großen Bogen beschreibt: | |
| ihre Selbstwerdung und die kontinuierliche Veränderung des Ichs innerhalb | |
| und im Kampf gegen die alte Ordnung. | |
| In der neuen ist die Frau nicht mehr das „andere Geschlecht“ wie noch bei | |
| Simone de Beauvoir, den Bezug auf das „Eigentliche“ braucht es nicht mehr. | |
| Es mag optimistisch sein – doch rückblickend, schreibt von Braun, könnte | |
| unser Zeitalter als das in die Geschichte eingehen, „in dem eine Handvoll | |
| starker Männer das Unternehmen Patriarchat an die Wand fuhr“. | |
| 11 May 2021 | |
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